Drei Ministerialbeamte vor einem riesigen Problem

Wieso ein kläglicher Gesetzesentwurf zustande kam

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Was bisher geschah

Die anhaltenden und aktuellen Debatten führen dazu, einen an dieser Stelle bereits einmal behandelten Problemzusammenhang erneut aufzunehmen. In meiner diesjährigen September-Glosse hatte ich über die laufenden Diskussionen im Zusammenhang mit der Beschneidung minderjähriger Jungen in Deutschland geschrieben.

Gegen Ende des Textes schrieb ich: „Man möchte kein Mitglied des Deutschen Bundestags sein, der nach dem Urteil des Kölner Landgerichts aufgerufen ist, ein Gesetz zu erlassen, das die Zirkumzision rechtssicher regeln soll. Am 19. Juli 2012 wurde ein gemeinsamer Entschließungsantrag von CDU/CSU, SPD und FDP mit breiter Mehrheit verabschiedet, der die Bundesregierung dazu auffordert, in diesem Herbst „einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist.“

Am 23. August 2012 kam es zu einer öffentlichen Plenarsitzung des Deutschen Ethikrates zum Thema Zirkumzision. Trotz „tiefgreifender Differenzen“ konnte man sich auf vier Mindestanforderungen einigen, die erfüllt sein müssten, sollte ein gesetzlicher Rahmen für die Zirkumzision gefunden werden: umfassende Aufklärung und Einwilligung der Sorgeberechtigten, qualifizierte Schmerzbehandlung, fachgerechte Durchführung des Eingriffs sowie Anerkennung eines entwicklungsabhängigen Vetorechts des betroffenen Jungen.

Der in diesem Fall auszuhandelnden grundsätzlichen Frage wegen, wie es um das Verhältnis zwischen rechtsstaatlichen und religiösen Regelwerken in unserem Land und seiner Rechtsordnung bestellt ist, bietet es sich an, die weiteren Entwicklungen nach dem August 2012 kommentierend zu begleiten.

Zwei Gesetzesentwürfe

Mit Datum vom 5. November 2012 übersandte die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Frau Dr. Angela Merkel, an den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Professor Dr. Norbert Lammert, einen von der Bundesregierung beschlossenen „Entwurf eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes“. Die Übersendung war verbunden mit der Bitte, eine Beschlussfassung des Deutschen Bundestages herbeizuführen. Das Anschreiben verwies zudem auf die Tatsache, dass der Deutsche Bundesrat in seiner Sitzung am 2. November 2012 beschlossen habe, gegen den Gesetzesentwurf keine Einwendungen zu erheben.

Als Drucksache 17/11295 der 17. Wahlperiode des Deutschen Bundestages kann nun jede Abgeordnete und jeder Abgeordnete zum Deutschen Bundestag diesen Gesetzesentwurf gründlich studieren, um sich ein Urteil für die eigene Stimmabgabe zu bilden. Gleichermaßen kann nun jede Bürgerin und jeder Bürger diesen Entwurf prüfen, denn er ist unschwer im Internet zu finden.

Es würde zu weit führen, die insgesamt 20 Seiten dieses Gesetzesentwurfs an dieser Stelle zu rekapitulieren – jeder aus meiner Leserschaft kann selbst lesen. Diese Lektüre lohnt sich, in vielfacher Hinsicht: Im Abschnitt über die „Rechtshistorische Entwicklung“ etwa erfahren Sie, dass im Jahr 1843 eine bayerische Polizeibehörde einen jüdischen Vater, der sich geweigert hatte, seinen Sohn beschneiden zu lassen, anwies, dies zu tun; solange er der jüdischen Religion angehöre, habe er sich auch deren Religionsgebräuchen zu unterwerfen. Der Text steckt voller Überraschungen und eröffnet Perspektiven auf die ganze Thematik, die dem arglosen Laien zumeist nicht sonderlich vertraut waren, so etwa, dass im Judentum zur Schmerzlinderung „vielfach lokal Salben aufgetragen und/oder Zäpfchen verabreicht“ werden, und dass unter deutschen Medizinern weitgehend Einigkeit herrscht, „dass angesichts der guten hygienischen Situation in Deutschland eine prophylaktische routinemäßige Beschneidung Neugeborener nicht indiziert ist.“ Als besonders bemerkenswert empfand ich die Tatsache, dass der Entwurf unter der Überschrift „Kulturelle Gründe“ ausführlich aus den Lebenserinnerungen von Nelson Mandela zitiert, demzufolge in seinem Stamm, den südafrikanischen Xhosa, ein nichtbeschnittener Mann nicht als Mann, sondern als Knabe gilt. Was, so fragt sich der interessierte Leser, hat das mit der Rechtsprechung in Deutschland zu tun?

Fasst man den eigentlichen Kern des Regierungsentwurfs zusammen, der in diesem umfänglichen und ausschweifenden Text steckt, so zeigt sich, dass dieser folgendes bezweckt: Durch einen neuen Paragraphen § 1631d des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) soll die Personenfürsorge der Eltern eines „nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes“ dahingehend erweitert werden, dass dieses beschnitten werden darf, „wenn [die Beschneidung] nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll.“ Diese Operation darf in den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes jedoch auch von Personen durchgeführt werden, wenn sie von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehen sind und dafür besonders ausgebildet sind und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung „vergleichbar befähigt“ sind.

Ebenso lohnend wie die Lektüre des Regierungsentwurfs ist die Lektüre der 20 Seiten des alternativen Gesetzesentwurfs, den eine Gruppe von 66 Abgeordneten der Oppositionsfraktionen vorgelegt hat.

Dieser Entwurf unterscheidet sich vom Regierungsentwurf vor allem dadurch, dass er die Einwilligung des einsichts- und urteilsfähigen Sohnes, der das 14. Lebensjahr vollendet haben muss, voraussetzt, und zudem regelt, dass die Operation „lege artis“ durch eine Ärztin oder einen Arzt mit der Befähigung zum Facharzt für Kinderchirurgie oder Urologie durchgeführt werden muss.

Die Anhörungen

In einer öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags wurden am 26. November 2012 die beiden Gesetzesentwürfe ausführlich diskutiert, insgesamt elf „Sachverständige“ legten ihre Positionen dar. Diese Gruppe der Sachverständigen bestand aus vier Medizinern, fünf Juristen, dem Vertreter des Zentralrats der Juden, Stephan J. Kramer, sowie dem Vertreter des Zentralrats der Muslime, Aiman A. Mayzek.

In den Zeitungen war zu lesen, dass allein der Entwurf der Regierung Chancen habe, da die Vertreter der beiden herangezogenen Religionsgemeinschaften sich einig gewesen seien, dass nur dieser die Religionsfreiheit achte. Beide Vertreter der Religionsgemeinschaften waren einer Meinung, sie sprachen sich für die Beschneidung bei Neugeborenen und somit für den Regierungsentwurf aus. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Kramer, argumentierte, dass es in seiner Religion vorgeschriebene Tradition sei, die Beschneidung am 7. beziehungsweise am 8. Tag nach der Geburt vorzunehmen. Die Beschneidung sei „kein Akt der Folter“, sagte Kramer, sondern ein „Initiationsritus zur Aufnahme in eine Religionsgemeinschaft“, das entspreche dem Kindeswohl, denn auch Kinder hätten ein Recht auf Religionsausübung.

Die Stellungnahmen der Mediziner waren höchst unterschiedlich, so intervenierte etwa Oliver Hakenberg, Direktor der Urologischen Klinik der Universität Rostock, die Vorhaut sei „kein überflüssiges Körperteil“, die Behauptung, die Beschneidung sei medizinisch sinnvoll, sei „nicht tragbar“. Die Bamberger Ärztin Antje Yael Deusel erklärte, dass sie nicht nur als Medizinerin, sondern auch als Rabbinerin spreche. Sie erklärte, dass die Beschneidung „kein archaischer Ritus“ sei, sondern immer nach dem aktuellen Stand der Medizin durchgeführt werde. Die Beschneidung erst nach vollendetem 14. Lebensjahr vorzunehmen, könnte traumatisch für den Jungen werden, in diesem Alter käme die Operation eher einer Mutprobe oder einem Männlichkeitsritual gleich und entspräche nicht der religiösen Tradition. Zudem würde dann die „Bar Mitzwa“, das jüdische Fest zur Erlangung der religiösen Mündigkeit – funktional äquivalent zu Kommunion oder Konfirmation in den christlichen Kirchen – vor die Beschneidung, die „Brit Mila“, rücken, die jedoch für die „Bar Mitzwa“ Voraussetzung sei.

Erstaunlicherweise waren sich die geladenen Juristen, unter ihnen Hans Michael Heinig (Göttingen) und Siegfried Willutzki (Brühl) – bis auf einen – einig und sprachen sich für den Regierungsentwurf aus, eine Beschneidung erst nach vollendetem 14. Lebensjahr sei ein nicht akzeptabler Eingriff in das Elternrecht.

Mitten im Hin-und-Her der Meinungen, bei dem der aufmerksame Medienkonsument nur schwer zu einer eigenen Position findet, erschien in der „F.A.Z.“ am 26. November 2012 ein ganzseitiger Beitrag des Hamburger Strafrechtlers Reinhard Merkel unter der Überschrift „Minima moralia“: Merkel war eben jener Jurist, der im Rechtsausschuss als einziger widersprochen hatte.

Der Beitrag beginnt mit einem Paukenschlag: „Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Erlaubnis der Beschneidung männlicher Kinder, der als Paragraph 1631d ins Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt werden soll, wird kein Ruhmesblatt in der Geschichte deutscher Gesetzgebungskunst.“ Nachdem ich diesen Artikel durchgelesen hatte, der eine insgesamt fulminante Kritik des Gesetzesentwurfs der Regierung präsentiert – „Die Liste der Mängel ist irritierend, sie ist länger als das vorgeschlagene Gesetz, auf das sie sich bezieht“ – stellte sich mir als Nichtjuristen vor allem eine Frage: Wer sind „die Verfasser“ dieses ganz offensichtlich auch juristisch vollkommen verfehlten Textes? Es wird ja wohl kaum die Bundeskanzlerin, nicht einmal die Bundesministerin der Justiz, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), gewesen sein.

Der Auftrag

Der Deutsche Bundestag hatte in seinem Beschluss vom 19. Juli 2012 die Bundesregierung aufgefordert, „unter Berücksichtigung der grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter des Kindeswohls, der körperlichen Unversehrtheit, der Religionsfreiheit und des Rechts der Eltern auf Erziehung einen Gesetzesentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist.“ Als mündiger Staatsbürger denkt man – wie ich an mir selbst beobachte – viel zu wenig darüber nach, wie solche Gesetzesentwürfe überhaupt zustande kommen.

Zuletzt dachte ich darüber nach, als im September 2010 in der „F.A.Z.“ ein großer Bericht darüber erschien, der deutlich machte, dass eine Reihe von Gesetzen – gerade auf den Gebieten der Finanz- und Umweltfragen – von externen Rechtsanwaltskanzleien entworfen werden. Dieses „Gesetzgebungs-Outsourcing“ war in den Medien erst so richtig publik geworden, als der damalige Wirtschaftsminister, Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), eine Vorlage im Deutschen Bundestag präsentierte, bei der auf jeder Seite das Emblem der internationalen Sozietät Linklaters prangte

Diese internationale Rechtsfirma, die nach eigenen Angaben im Geschäftsjahr 2011/12 in Deutschland insgesamt 267 Volljuristen beschäftigte, scheint eine der wichtigsten Entwurfswerkstätten für die Vorlagen des Justizministeriums zu sein. Kritiker dieser Praxis monieren, dass es diversen Lobbygruppen auf diese Weise zunehmend mehr und leichter gelinge, ihre eigenen Regelvorstellungen in die Gesetze hineinzuschreiben. Axel C. Filges, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer, wandte sich damals gegen den Eindruck, dass in diesem Beratungsgeschäft ein neues lukratives Betätigungsfeld für Anwälte liege, jedoch würden die rund 100 Juristen im Bundesministerium der Justiz „schlicht nicht zur Bewältigung komplexer Regelungsmaterien reichen, wohingegen Anwälte mit den konkreten Rechtsproblemen ihrer Mandanten befasst seien.“

Die Rechtsfirma Linklaters war vermutlich mit dem Entwurf zur Drucksache 17/11295 in Sachen Beschneidung nicht befasst, dann wäre dieser möglicherweise ganz anders ausgefallen. Um wenigstens eine Vorstellung davon zu bekommen, wer die in seinem „F.A.Z.“-Artikel sechsmal sogenannten „Verfasser“ des Gesetzesentwurfs sind, denen so gravierende handwerkliche Fehler angelastet werden, fragte ich bei dem Verfasser dieser juristischen Schelte nach, dem Kollegen Reinhard Merkel von der Universität Hamburg. Als Mitglied des Deutschen Ethikrats hatte er ja seine vielfältigen Bedenken bei dessen öffentlicher Plenarsitzung am 23. August 2012 vorgetragen Er also könnte es wissen, wer die ominösen „Verfasser“ des Regierungsentwurfs sind, über die er in seinem Artikel Folgendes geschrieben hatte: „Gewiss konnte niemand die Verfasser um eine Aufgabe beneiden, die nicht befriedigend zu lösen war: Sie mussten ein Gesetz vorlegen zur allgemeinen Erlaubnis eines Eingriffs, der ohne seinen speziellen religiösen Hintergrund auf keinen Fall erlaubt würde.“

Noch am selben Tag bekam ich eine ausführliche Antwort auf meine Anfrage: Niemand, so schrieb er, sei im Bundesjustizministerium über diesen parlamentarischen Auftrag „glücklich“ gewesen. Drei Ministerialbeamte seien bei der Sitzung des Deutschen Ethikrates dabei gewesen, in der auch er seine Bedenken artikuliert habe, sie also gehörten wohl zu den Verfassern des Regierungsentwurfs. Manche der Passagen in der Gesetzesbegründung könne man geradezu als Antworten auf seine Einwände lesen, so etwa die Überlegung, dass Eltern ihren Sohn künftig ja auch deswegen beschneiden lassen könnten, weil sie damit eine „Masturbationserschwernis“ für diesen herbeiführen wollten. Doch, doch, die Verfasser seien schon Juristen und insofern für solche Aufgaben hinreichend ausgebildet, aber für eine derart rechtsprinzipielle Frage seien sie „manchmal bodenlos naiv“. Sollte das Bundesverfassungsgericht noch angerufen werden – nicht zuletzt deswegen, weil der rechtliche Schutz der genitalen Unversehrtheit von Knaben gegenüber dem von Mädchen erheblich schlechter gestellt werde – so müsse „man“ halt allenfalls eine „Watschn“ aus Karlsruhe hinnehmen. Aber, damit sei gerade bei diesem Thema nicht zu rechnen, denn angesichts der politischen Dimension der ganzen Debatte würde das BVerfG dann wohl die „judicial restraint“-Karte spielen. Da musste der Nichtjurist dann doch erst einmal nachsehen, was das bedeutet. Im Klartext: Die Rechtsprechung tritt hinter der „freien politischen Gestaltung“ zurück. Und die, das lernt man gerade an diesem Beispiel, arbeitet mit Vorgaben, die nichts mit dem bei uns geltenden Rechtsverständnis zu tun haben. Das ist keine gute Lektion zum Jahresende.

PS: Am Tag, an dem diese Glosse freigeschaltet wurde, stimmte der Deutsche Bundestag über die beiden Gesetzesentwürfe ab. Die Entscheidung für den Regierungsentwurf fiel mit 434 Ja-Stimmen bei 100 Gegenstimmen und 46 Enthaltungen. Der Antrag der Oppositionsmitglieder fand nicht die Zustimmung der Regierungsmehrheit, SPD und Grüne hatten ihren Fraktionsmitgliedern freigestellt, welchen der beiden Gesetzesentwürfe sie unterstützen wollen.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“.