„No more heroes“

Über Robert Service’ Trotzki-Biografie

Von Jürgen WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Whatever happened to…Leon Trotsky? / He got an ice pick / That made his ears burn“ sang die englische Punkband „The Stranglers“ 1977, 60 Jahre nach der Oktoberrevolution, und ihr Lied wurde bald zu einer Hymne der Punkbewegung, keine Helden mehr zu haben, sondern selbst welche zu werden. Doch für den amerikanischen Biografen des russischen Revolutionärs, Gründers der Roten Armee und Volkskommissars, Leo Davidowitsch Bronstein – genannt Trotzki – stellt sich die Frage bedeutend kühler: „Whatever happened to all the heroes?“

Eitler Historikerstreit und territorial pissing

Wohl kaum eine Biografie wurde bereits schon im Vorfeld – also vor dem Erscheinen der deutschen Ausgabe – so verrissen wie die neue Trotzki-Biografie von Robert Service, dem amerikanischen Historiker der altehrwürdigen (englischen) Oxford University. Die Anfeindungen gingen sogar so weit, dass etwa der bekennende Trotzkist David North von Geschichtsfälschung und einem weiteren „stalinistischen Machwerk“ (sic!) sprach. Namhafte deutsche Sozialwissenschaftler empfahlen der Verlegerin Ulla Unseld-Berkewicz wegen „antisemitischer Grundierung der Biografie“ sogar ganz von einer Veröffentlichung abzusehen.

Das Buch erschien dann – nach einer Überarbeitung seitens des Verlages – doch noch und ist trotz der angekreideten formalen Fehler – so etwa der Verwechslung von Orten und Personen – zumindest eines nicht: antisemitisch. Man vergleiche dazu das Kapitel 21 „Trotzki und die Juden“. Robert Service hat sicherlich eine Menge Material bearbeitet und auch zusammengetragen, allerdings beruft er sich hauptsächlich auf die Nachlässe in den Archiven der Hoover Institution (Stanford) und Trotzkis eigene Schriften, wirft ihm etwa Rudolf Walther in einer Kritik der Trotzki-Biografie in einer österreichischen Tageszeitung vor und er legt noch nach: „Die Trotzki-Biografie von Service entspricht nach ihren methodischen und intellektuellen Zuschnitt der Privatgelehrtenprosa in der Geschichtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts und nicht dem, was man heute von einer Biografie verlangt.“

Aber das ist nur ein Kritiker, wenn auch viele weitere auf Anfrage in diesen Kanon bereitwillig einstimmen würden. Am besten erklärt aber Ulrich M. Schmid in der NZZ die Kontroverse um Robert Service’ Trotzki Biografie: Der federführende Kritiker, Bertrand M. Patenaude (Hoover Institution/Stanford), wollte mit seinem Verriss wohl späte Rache nehmen: Service hatte 2009 im ,Guardian‘ Patenaudes Trotzki-Buch rezensiert und moniert, dass der Jäger hier als Gejagter dargestellt werde. Vanitas vanitatis!

Tod in der Calle Viena

„Gehn’s, wer soll denn Revolution machen in Russland? Etwa der Herr Bronstein aus dem Cafè Zentral?“, soll der österreichische Politiker und Ministerpräsident während des Ersten Weltkrieges, Heinrich Graf Clam-Martinic, einmal auf die Möglichkeit einer Revolution in Russland süffisant bemerkt haben. Mit dem Herrn Bronstein war natürlich Leo Trotzki gemeint, der erst Volkskommissar für Äußeres und Gründer der Roten Armee. Wie viele andere Menschen, die das 20. Jahrhundert prägten (Herzl, Stalin, Tito, Hitler) hatte auch Trotzki Anfang des vergangenen Jahrhunderts in Wien gelebt und sei dort sogar sehr glücklich gewesen, wie etwa Dietmar Grieser in „Eine Liebe in Wien“ bezeugt: die sieben „Wiener Jahre“ mit Natalia Sedowa seien die glücklichsten seines Lebens gewesen.

Der damals Zwanzigjährige – dem manche seiner Weggenossen Dandytum und Arroganz vorwarfen – sei ein vorbildlicher Ehemann und Vater gewesen, er habe im Haushalt und auch bei der Kindererziehung mitgeholfen. Weniger schmeichelhaft – aber umso unterhaltsamer – ist, was Trotzki über die Wiener Sozialisten schrieb, die er beim Schachspielen im besagten Café Central getroffen hatte: „Was sind das für Marxisten, die einander genüsslich mit ,Herr Doktor‘, was sind das für Arbeiter, die Akademiker devot mit ,Genosse Herr Doktor‘ titulieren?“ Trotzki beherrschte die deutsche Sprache und hielt in Wien sogar Referate vor Arbeitern, vielleicht urteilte er deswegen so spöttisch: „Die Wiener Marxisten sind zwar hochgebildet, aber sie betreiben die revolutionären Studien ,wie man Jus‘ studiert.“

Was ihn an Wien dennoch faszinierte, war das Kulturleben, die Psychoanalyse, der Kosmopolitismus und das häusliche Glück mit Natalia. Dieses Glück nahm aber mit Ausbruch des Weltkrieges sein Ende und nach einer Odyssee durch die Welt landen die beiden am Ende ihres Lebens in der Calle Viena in einer Vorstadt von Mexiko, wo Trotzki von einem gedungenen Mörder Stalins mit einem Eispickel ermordet wird. Soweit seine Biografie.

Der Mensch Trotzki

Die junge Sowjetunion, die von Trotzki mitgegründet wurde, verlor durch den Ersten Weltkrieg 34 Prozent seiner Bevölkerung, 54 Prozent seiner Industrie, 89 Prozent seiner Kohlelager sowie die gesamte Öl- und Baumwollindustrie. Der nach der bitteren Erfahrung der Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk eingeführte „Kriegskommunismus“ (die NEP) ist aber nur vor dem Hintergrund des anschließenden Bürgerkrieges zu verstehen, der immerhin noch bis über Lenins Tod hinaus andauerte. Für Robert Service endet der Bürgerkrieg allerdings schon 1922 (Gründungsdatum der Sowjetunion) und während der Revolution sei Trotzki zwar ihr Held gewesen und habe auch Talente im Überfluss besessen, aber es habe ihm an „politischem Gespür“ gefehlt und so habe „der langwierige Absturz des Kometen seinen Anfang genommen“, so Service wörtlich. Robert Service erwähnt, dass Trotzki zwar „mehrere Jahre lang ein Bestsellerautor“ gewesen sei und „Die Welt, seine Bühne“, auch die „Eleganz seiner Prosa“ und sein Status als politischer Märtyrer hätten zu seinem Nachruhm wesentlich beigetragen.

Allerdings habe sich Trotzki in vielen Dingen auch getäuscht. So sei etwa sein Widersacher und Mörder Stalin alles andere als eine „mediokre Figur“ – als die ihn Trotzki gerne darstellte – gewesen. Service attestiert Trotzki immerhin „außergewöhnliche Qualitäten, die nicht zu leugnen sind“, aber er sei auch ein arroganter, exzentrischer Mensch gewesen. Trotzki habe nicht nur bei seiner Autobiografie einen „selektiven Umgang mit den Fakten“ gepflegt, sondern immer das Ziel im Auge behalten und für den Sieg des Sozialismus musste man halt manchmal ein paar Dinge auslassen, wenn man nicht lügen wollte, so Service. „Die Realität war anders, denn wann immer unbequeme Tatsachen seinem gewünschten Image schadeten, beseitigte oder verzerrte er sie.“ Konkrete Beispiele für diese wohl eher ungeheuerlichen Vorwürfe enthält Service dem Leser allerdings vor.

Das Tandem der Revolution

Trotzki habe sich nur in der Kommunikation mit anderen Menschen lebendig gefühlt, so Service, aber Leute die er verachtete, ließ er es auch mit seinem beißenden Spott spüren, vorausgesetzt sie verfügten über genügend Niveau seine hochgeistigen Anspielungen überhaupt zu verstehen. Er sei zwar süchtig nach Aufmerksamkeit gewesen, habe das Prahlen aber anderen überlassen. Seine Eitelkeit und Egozentrik wirft Service Trotzki an mehreren Stellen vor, auch, dass er stets ein schlechter Verlierer gewesen sei, ob beim Schach, beim Krocket oder in der Politik. Dabei hätten alle eine hohe Meinung vom Genossen Bronstein gehabt, selbst Georgi Plechanow, der Vorsitzende der russischen SDAP. Vera Sassulitsch hatte Trotzki ein Genie genannt und Plechanow soll ihr darauf erwidert haben: „Das ist etwas, was ich ihm nicht verzeihen kann.“

Aber auch als früher Kritiker Lenins habe sich der junge Trotzki schon 1904 hervorgetan: „Das Regime unserer Partei kann ebensowenig ein Kasernenregime sein, wie die Fabrik ihr Vorbild sein darf.“ „Maximilien Lenin“, wie er Lenin aufgrund seines Führungsstils eines Robespierre nannte, war aber anfangs auch nicht unbedingt gut auf Trotzki zu sprechen. Natürlich sollte sich das nach der Revolution noch ändern, denn ohne das Tandem Trotzki-Lenin hätte die Revolution wohl kaum überlebt. Robert Service bezeichnet Trotzkis Kritik an Lenin und der Diktatur über statt des Proletariats geradezu als „prophetisch“.

Der Antagonismus der beiden führenden Köpfe des russischen Kommunismus sei auch an deren Redestil eindringlich zu veranschaulichen: „Lenin lief auf der Bühne hin und her. Trotzki stand still. Lenin bot keine Blüten und Eloquenz, mit denen Trotzki das Publikum überschüttete. Lenin hörte sich selbst nicht zu. Trotzki dagegen hörte sich selbst zu und bewunderte sich obendrein“, so R. B. Gul, ein Mitglied des Petersburger Sowjet während der Revolution. Während Lenin die Wirtschaft des neuen Sowjetstaates wie die deutsche Post organisieren wollte, machte Trotzki daraus vorerst allerdings nur ein Armeelager.

Die Vereinigten Staaten von Europa

Trotzkis Verhältnis zu den Frauen wird von Service ähnlich beschrieben wie seine politische Laufbahn: „Er war ein Abenteurer ohne ideologische Bindung. Mit seiner Offenheit nach allen Seiten in jedem Disput macht er sich in einer in Fraktionen zerfallenden marxistischen Bewegung viele Feinde.“

Aber er hat wohl mit beidem Unrecht, denn immerhin bestand die Verbindung mit Natalia Sedowa mehr als 20 Jahre. Trotzki sei nicht zu trauen gewesen, darin seien sich sogar die ansonsten verfeindeten Lager der russischen Sozialdemokratie – Menschewiki und Bolschewiki – einig gewesen, und kaum einer habe sich den Krieg wohl so herbeigesehnt, wie der spätere General der Roten Armee, denn Trotzki wusste als einer der ersten, dass der Krieg auch den Beginn einer neuen Ära – der Ära des Sozialismus – bedeutete, zumindest will Robert Service genau das dem Leser glaubhaft machen, obwohl sich Krieg und Sozialismus doch schon theoretisch widersprechen, geschweige denn praktisch.

Bei Ausbruch des Krieges formulierte Trotzki die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ und wollte dafür eine föderative Verfassung à la Schweiz oder USA. Solange sich die Karte Europas aus Nationalstaaten zusammensetze, so Trotzki, könne es keinen Frieden geben. Man musste seine Ansichten nicht teilen, um ihn für seine glanzvolle Präsentation zu beneiden und zu bewundern, meint auch sein Biograf Robert Service, der Trotzki gerne als brandenden Redner und Volkstribunen sehen will.

Der sowjetische Napoleon?

Trotzki, der eigentlich aufgrund seiner jüdischen Herkunft auf höhere Ämter verzichten wollte, lehnte die Leitung des Volkskommissariats für Inneres ab, aber was das Äußere betraf, gelang es Lenin, ihn zu überrumpeln. So wurde Trotzki auch zum ersten Diplomaten der jungen Sowjetunion und verkündete voller Ironie: „Was für diplomatische Arbeit werden wir denn haben? Ich werde einige revolutionäre Proklamationen an die Völker erlassen und dann die Bude schließen.“

Trotzki habe tatsächlich Geheimabkommen der Alliierten veröffentlicht und die Arbeiter in aller Welt aufgerufen, sich gegen ihre Regierungen zu erheben. Denn für Lenin wie für Trotzki war klar, dass die russische Revolution ohne die westeuropäische nicht überleben würde. Als Volkskommissar für militärische Angelegenheiten habe der „homme de lettre“ allzu oft standrechtliche Erschießungen angeordnet, etwa bei Befehlsverweigerung oder Fahnenflucht. Aber wie hätte er denn sonst den Bürgerkrieg gegen die fünf Generäle der „Weißen“ gewinnen können? In seinem „Revolutionszug“ habe Trotzki die Front unermüdlich abgefahren und so als Kraftquelle eine schwächelnde Armee auch moralisch unterstützt. Service zählt auch die vielen Angestellten Trotzkis auf, wohl in der Absicht ihn zu diskreditieren, denn Trotzkis Zug bestand nicht nur aus Soldaten, sondern auch aus Schriftsetzer, Leibwächtern, Kellnern und Funkern, ein wandelndes Büro eben. Wenn Revolutionen die Lokomotiven der Geschichte sind (Marx), dann saß Trotzki in ihrem ersten Waggon. Die oft zitierten Vergleiche zwischen der Französischen und der bolschewistischen Revolution kommentiert Robert Service – in Anlehnung an das von ihm bearbeitete Material – zur Rolle Trotzkis mit der Aussage, dass Trotzki der wahrscheinlichste Anwärter auf die Rolle des sowjetischen Napoleon gewesen wäre. Das Ausbleiben der von den Bolschewiki erhofften Weltrevolution brachte allerdings für den „18. Brumaire“ der Oktoberrevolution einen anderen Mann und eine andere Ideologie an die Macht: Stalin und seinen „Sozialismus in einem Lande“.

Leo Trotzki hatte sich unter anderem in „Kapitalismus oder Sozialismus?“ ausdrücklich gegen einen nationalen Sozialismus ausgesprochen. Er warnte explizit davor, den Sozialismus in einem rückständigen Land aufzubauen, wenn der Kapitalismus weiterbestehe. Seine Rede vor dem 15. Parteikongress am 1. November 1926 stellte einen Generalangriff auf die Perspektive von Stalins Konzept dar. Es war das letzte Mal, dass ihm in der Sowjetunion jemand zuhören sollte, denn auch heute noch gilt er als eine „persona non grata“. 72 Jahre über seinem Tod hinaus, zeigt die stalinistische Verleumdungskampagne immer noch Wirkung.

Titelbild

Robert Service: Trotzki. Eine Biographie.
Übersetzt aus dem Englischen von Friedrich Griese.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
730 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783518422359

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