Die Politik der Märchen

Wie Bettine von Arnim für die Brüder Grimm kämpfte und warum über die „Kinder- und Hausmärchen“ zwei gegensätzliche Geschichten zu erzählen sind

Von Steffen MartusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffen Martus

1. Der Weg nach Berlin

1843 veranstaltete Wilhelm Grimm von Berlin aus die fünfte Auflage der „Kinder- und Hausmärchen“. Er widmete diese Fassung, wie alle anderen der „grossen Ausgabe“ auch, Bettine von Arnim, dankt ihr für die treue Freundschaft und nicht zuletzt dafür, dass sie den Grimms ein „Haus außerhalb der Mauern ausgesucht“ habe, „wo am Rande des Waldes eine neue Stadt heranwächst, von den Bäumen geschützt, von grünendem Rasen, Rosenhügeln und Blumengewinden umgeben, von dem rasselnden Lärm noch nicht erreicht“. Trotz der abgeschiedenen Lage ihrer Wohnung merkten die Grimms, dass sie nun in einer Großstadt angekommen waren: Jacob Grimm sehnte sich schon bald „in die grössere einsamkeit des alten hessischen stübchens zurück“. Wilhelm klagte, in der Stadt störe ihn das „Gerassel der Droschken“; „der Anblick der schnurgeraden Straßen, deren Ende man nicht absieht“, ermüde den Betrachter.

Nach Berlin waren die Grimms nicht aus freien Stücken gezogen. Vorangegangen war die Affäre um die „Göttinger Sieben“, bei der sie ihre Bibliothekars- und Professorenposten an der Göttinger Universität verloren hatten. Danach boten sich viele Städte als neue Arbeitsorte an, und erst nach langem Hin und Her landeten die Grimms in der preußischen Metropole. Schuld daran war nicht zuletzt eben jene Frau, der die „Kinder- und Hausmärchen“ gewidmet waren: Bettine von Arnim. Ihr gelang es mit einer Kampagne, die den Maximen des Grimm’schen Politikverständnisses entsprach, die Staatsmänner zur Berufung der Grimms nach Berlin zu bewegen, obwohl diesem Umzug dynastische Verpflichtungen zwischen dem Hannoveranischen und dem Preußischen Königshaus entgegenstanden.

Bettine von Arnims Kampf für die Brüder Grimm hatte selbst märchenhafte Züge: Nach Goethes Tod hatte sie sich die Grimms als neues Objekt ihrer schier unerschöpflichen Menschenliebe ausgesucht und spiegelte sich im Protest der Göttinger Professoren im Konflikt um die Verfassung des Königsreichs Hannover. Wie die gelehrten „Protestanten“ ließ sie nur Aufrichtigkeit und Treue gegenüber dem Gewissen gelten, gleich, ob dies gegen die bestehenden Regeln verstieß oder nicht. Die Verletzung von Konventionen bewies in ihren Augen geradezu, dass wahrhaftig gehandelt wurde. Im Lauf der Zeit sah sie immer mehr ‚Schufte‘ und ‚Lügner‘ um sich, die gut redeten, aber schlecht handelten. Jacob Grimm lobte sie entsprechend: „Sie haben sich nie von der Welt befangen lassen, sondern Ihr Herz immer rein, Ihre Gesinnung immer frisch erhalten […].“ Und Bettine von Arnim warf den Brüdern ihrerseits ein Bild zurück, das „die Kraft eines ersten, uneingenommenen Eindrucks“ vermittelte.

In diesem Bündnis zwischen den zurückgezogenen Gelehrten und ihrer exaltierten Verehrerin flossen die politischen Energien in eben jener Weise, die sich die Grimms theoretisch vorgestellt hatten: So treu, wie sie sich in Göttingen gegenüber ihrem Professoreneid auf die Verfassung verhalten und daher den Eklat mit dem Hannoveranischen König in Kauf genommen hatten, so treu verhielt sich Bettine von Arnim ihnen gegenüber: „Ich schwöre, Euch treu zu sein, und für Euch herzhaft in die Dornen der Zeit zu greifen“. Damit überschritt sie bewusst die Grenzen, die ihr die Geschlechterrollen ihrer Zeit aufzwangen. Die Grimms hatten ihre Untertanenrechte mit der ‚Protestation‘ überstrapaziert; Bettine von Arnim tat dies mit dem beschränkten Handlungsrahmen, der ihr als Frau verordnet wurde.

Entscheidend war, dass Bettine von Arnim eine politische Entscheidung – die Berufung der Grimms nach Berlin – durch Gerüchte und Verdächtigungen, durch offene und verdeckte Informationen immer weiter beförderte. So suggerierte sie etwa Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein, die Grimms wollten nach Paris ziehen und appelliert damit erfolgreich an den Patriotismus des preußischen Kultusministers. Der preußische Minister Friedrich Carl von Savigny und der Philologe Karl Lachmann fielen ihren Verdächtigungen zum Opfer – „Lachmann“, kalauert Bettine von Arnim im Sommer 1839, sei wie alle gewöhnlichen Menschen „nur die Hälfte“: „er ist ein Lach, aber kein Mann“. Durch ihre Informationspolitik setzte Bettine von Arnim das Umfeld unter Druck und in Bewegung. Sie erkannte das Potenzial der Akteure und regte diese zur Selbsttätigkeit an, obwohl sie keine robusten Mittel politischer Machtausübung in der Hand hatte. Listig machte sie sich ihre Schwäche zunutze.

Dabei umging Bettine von Arnim alle Regeln der politischen Kommunikation. Sie benutzte nicht die ausgetretenen Wege der Diplomatie; sie baute private Kontakte auf, streute Gerüchte und Anschuldigungen, verteilte Abschriften von Briefen mehr oder weniger geschickt im politischen Raum. Auf diese Weise hielt sie die ‚Sache Grimm‘ über sehr lange Zeit im Bewusstsein der Entscheidungsträger. Im Frühjahr 1839 schrieb sie nach Kassel: „In mir hat Euer Tun Gedanken ausgebrütet, die scharfsinnig sind, und seitdem weiß ich wie ich einen Staat zu regieren habe; und wie ich alle Kraft aus den Herzen der Menschen als Fürst an mich ziehen kann; und wie ich mit dieser als einer höher organisierten Natur auf sie rückwirken kann; denn der Geist kann nur auf sich selbst wirken, und so muss ich mit der Menschheit eins sein wenn ich auf sie wirke, und so muss ich ihre Kraft an mich ziehen können, um sie wieder zu kräftigen.“ Wie die Grimms entwickelte Bettine eine mehr oder weniger vage Vorstellung von politischen Kräften, die auf indirekte Einflussnahme zielte, und dies letztlich erfolgreich.

Am 7. Juni 1840 starb der preußische König Friedrich Wilhelm III. und sein Sohn kam an die Macht. Nach einigen weiteren Zwischenschritten gelangte das Verfahren auf geregelte Wege. Allerdings wurden die Brüder nie an die Berliner Universität berufen. Man setzte ihnen vielmehr eine Pension zur Arbeit am „Deutschen Wörterbuch“ aus, und diese wurde aus dem „Privat“-Vermögen des Königs bestritten. Auf diese Weise hielt Friedrich Wilhelm IV. das Versprechen, das er seinem Onkel Ernst August in Hannover zur Beruhigung gegeben hatte: Er werde die Grimms nicht offiziell in seine Dienste nehmen, und er werde ihnen keine Anstellung geben. Im Februar 1841 werden die Umzugswagen gepackt. Am 14. März macht sich die Familie Grimm auf die Reise nach Berlin.

Die eingangs zitierte Widmung an Bettine von Arnim aus der fünften Auflage der „Kinder- und Hausmärchen“ deutet diese Zusammenhänge auf verschlüsselte Weise an. Vor allem aber versammelt sie jene Motive die das Politikverständnis der Grimms und zugleich ihre philologischen Tugenden bestimmten – die Grimms hatten als Teil der „Göttinger Sieben“ argumentiert, dass sie die Verletzung ihres Eids auf die Hannoveranische Verfassung gleichermaßen politisch wie wissenschaftlich diskreditieren würde: Die Widmung besteht aus drei Teilen für die Märchen-Ausgaben der Jahre 1837, 1840 und 1843. Im ersten Teil dominiert die Erinnerung an Achim von Arnim, der die „Kinder- und Hausmärchen“ vor einem Vierteljahrhundert für Bettine „grün eingebunden mit goldenem Schnitt unter die Weihnachtsgeschenke gelegt“ habe. Arnim habe die Grimms zur Herausgabe der Märchen motiviert. Ihn zeichnete eine ganz spezifische Aufmerksamkeit für das aus, was andere eher für unbedeutend und wenig merkwürdig hielten: „Wie nahm er an allem Theil, was eigenthümliches Leben zeigte: auch das kleinste beachtete er, wie er ein grünes Blatt, eine Feldblume mit besonderem Geschick anzufassen und sinnvoll zu betrachten wußte“.

Die Aufmerksamkeit für das Kleine und Unscheinbare als Zeichen eines „lebendigen“ Zusammenhangs definierte das wissenschaftliche, aber auch das politische Selbstverständnis der Grimms. Die Wertschätzung noch des „Kleinsten“ verstand sich – zumindest für erwachsene Leser – keinesfalls von selbst. Wilhelm Grimm reflektiert dies in einer abschließenden Wendung des ersten Widmungsabschnitts an Bettine von Arnim: „Ihre Kinder sind groß geworden, und bedürfen der Märchen nicht mehr: Sie selbst haben schwerlich Veranlassung sie wieder zu lesen, aber die unversiegbare Jugend Ihres Herzens nimmt doch das Geschenk treuer Freundschaft und Liebe gerne von uns an“. Es geht also um den Austausch der Märchen als Zeichen unvergänglicher Treue, und so lautet die Eingangswidmung eben auch nicht mehr, wie in der ersten Auflage der „Kinder- und Hausmärchen“: „An die Frau Elisabeth von Arnim für den kleinen Johannes Freimund“, sondern schlicht: „An die Frau Bettina von Arnim“. Zumindest innerlich also verspricht eine märchenhafte Gesinnung ewige Jugend. Vor allem aber stiftet sie soziale Beziehungen, die auch der Tod nicht unterbricht. Denn weil Arnim sich so teilnehmend gegenüber den Grimms verhalten hatte, blieb er in deren Gedanken stets lebendig – „dies edle Haupt ruht nun schon seit Jahren im Grab“, gleichwohl „bewegt“ die „Erinnerung“ an Arnim Wilhelm Grimm noch so „als hätte ich ihn gestern zum letztenmal gesehen […]“.

Der zweite Teil der Widmung spielt dann auf die Situation nach der Entlassung durch den Hannoveranischen König an: Als Wilhelm Grimm einsam und verlassen „in der Dunkelheit“ wieder in Kassel bei seiner Familie eintrifft, findet er – „überrascht“ – Bettine von Arnim am Krankenbett seiner Frau. Er dankt für die „warme[ ] Treue“ Bettines „seit jener verhängnisvollen Zeit, die unser ruhiges Leben zerstörte“; er „empfindet diese Theilnahme ebenso wohltätig, als die Wärme des blauen Himmels“. Dann stellt er den direkten Bezug zwischen der Märchenwelt und der Politik her: „Kann ich eine bessere Zeit wünschen um mit diesen Märchen mich wieder zu beschäftigen? hatte ich doch auch im Jahr 1813 an dem zweiten Band geschrieben, als wir Geschwister von der Einquartierung bedrängt waren, und russische Soldaten neben in dem Zimmer lärmten […]“.

Gerade politisch unruhige Zeiten also – bei der ersten Auflage die Befreiungskriege gegen Napoleon, bei der vierten Auflage die Affäre um die „Göttinger Sieben“ – erweisen sich als idealer Kontext, um sich mit Märchen zu befassen. Es gehört ja tatsächlich zu den symbolisch hoch bedeutenden Zufällen im Leben der Brüder Grimm, dass die Ersterscheinungsdaten der beiden Bände der „Kinder- und Hausmärchen“ den Niedergang der Napoleonischen Herrschaft nach dem Russlandfeldzug (1812) und die Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress (1814/15) rahmen – Jacob Grimm notierte zur Datierung der Vorrede von 1812 handschriftlich in ein Exemplar: „Gerade ein Jahr vor der Leipziger Schlacht“.

Aber warum sollte gerade die Arbeit an den Märchen so eng auf die politischen Entwicklungen bezogen sein? Worin bestand der politische Sinn der Märchen? Und warum schloss Wilhelm Grimm im dritten, in Berlin verfassten Teil der Widmung zugleich mit dem Verweis auf die politischen Zeitläufte den Kreis und betonte noch einmal jenes eigentümliche Interesse am Unscheinbaren, das Achim von Arnim ausgezeichnet habe und eben auch Bettine von Arnim? Er bringt ihr mit den „Kinder- und Hausmärchen“ jedenfalls gerade nicht „eins von den prächtigen Gewächsen“ dar, die im Berliner Tiergarten wachsen, und „auch keine Goldfische aus dem dunkeln Wasser, über dem das griechische Götterbild lächelnd steht“, sondern „unschuldige[…] Blüthen, die immer wieder frisch aus der Erde dringen“. Denn er selbst habe gesehen, wie Bettine „vor einer einfachen Blume still stand[…], und mit der Lust der ersten Jugend in ihren Kelch schaute.“

2. Die Provokation der Märchen

Tatsächlich begegneten die Zeitgenossen den Brüdern Grimm gerade wegen dieser besonderen Form der Aufmerksamkeit, die sie in ihren Werken kultivierten, wegen dieser „Andacht zum Unbedeutenden“ (Sulpiz Boisserée) immer wieder mit Desinteresse, eigentümlich gereizt, ja mit schroffer Ablehnung. Oft wurde die Hoffnung der beiden Brüder enttäuscht, weil ihre sprach- und literaturhistorischen Forschungen, ihre Untersuchungen zu Sagen, Märchen und Mythen, zur Geschichte des Rechts, der Sitten und Bräuche oder ihr politisches Engagement nicht in dem Umfang anerkannt wurden, den sie für angemessen hielten. Und tatsächlich: Sollte man wirklich jene schwerverständlichen Bruchstücke aus den Schutthalden der mittelalterlichen Poesie anstaunen, die die Grimms ausgegraben hatten? Sollte man sich in Wortkolonnen vertiefen und die Feinheiten der historischen Grammatik erkunden? Sollte man als aufgeklärter Mensch seine Aufmerksamkeit in Geschichten von alten Recken und Rittern investieren? Sollte man sich als erwachsener Leser für „Kinder- und Hausmärchen“ interessieren oder die Fantasie von Kindern mit dubiosen Geschichten und einer oft zweifelhaften Moral auf Abwege bringen?

Liebevoll und treu wendeten die Grimms ihren Blick auf die Trümmer der Geschichte, die sie ihren Zeitgenossen mit der Sturheit eines Helden aus den „Kinder- und Hausmärchen“ präsentierten. Die brüderliche Arbeitsgemeinschaft, die eine schier unübersehbare Menge von Büchern, Editionen, Aufsätzen, Rezensionen und Briefen hervorgebracht hat, verkörperte geradezu zwei Seiten der Moderne, jenes eigentümliche Bündnis von Traditionsverlust und -bewahrung, von Eigensinn und Gemeinschaftsgeist. Und so kursieren letztlich auch zwei Erzählungen über die Geschichte der Grimm’schen „Kinder- und Hausmärchen“. Die eine handelt vom unglaublich Erfolg dieser Sammlung: Sie berichtet von der weltweiten Rezeption der Märchen, von deren Übersetzung in unzählige Sprachen, vom meist verbreiteten deutschen Buch neben der Luther-Bibel. Und sie handelt davon, dass die Märchen in immer neuen Varianten weiterleben, in unterschiedlichen Medien adaptiert, in Fernseh- oder Kinofilmen, in Videoclips oder Comics umgeformt, aktualisiert, ironisiert und parodiert werden.

Die Grimms haben definiert, wie Märchen klingen. Anfangs mussten sie viele der Texte, die ihnen von Beiträgern und vor allem von Beiträgerinnen eingesandt wurden, stark bearbeiten, um sie der „Gattung Grimm“ entsprechend zu gestalten. Als sie nach Anfang der 1840er-Jahre nach Berlin kamen, war das nicht mehr notwendig. Die Märchen, die Wilhelm Grimm nun zugetragen wurden, passten überraschenderweise sehr gut zur Tonlage der „Kinder- und Hausmärchen“. Inzwischen wusste man eben, wie sich ein echtes Märchen anhört, und Wilhelm Grimm war über so viel Sinn für das Authentische höchst erfreut. Dass er diese Authentizität mit romantischem Fabuliertalent erfunden hat, rechnete er sich nicht als Leistung an, auch wenn er und sein Bruder auf der Urheberschaft der Märchen bestanden. Es ist jedenfalls symptomatisch, dass aus den Kindheitserinnerungen der Grimm’schen Geschwister keine Märchen in die Sammlung eingingen, während Wilhelms Sohn Herman, nun schon durch die „Kinder- und Hausmärchen“ seines Vaters sozialisiert, zur Sammlung beitrug.

Während diese Erfolgsgeschichte sehr bekannt ist, wird die andere Geschichte selten erzählt. Sie handelt davon, dass die Grimms sich gerade mit ihren Märchen gegen große Widerstände durchsetzen mussten, dass es lange Jahre dauerte, bis sich der Erfolg einstellte, dass die Skepsis vieler Leser gegenüber dieser Gattung im Allgemeinen und dieser Sammlung im Besonderen groß war. Die Gefahr des Scheiterns bestand wie so oft auf ihrem Lebensweg auch im Fall der Märchensammlung. Als Wilhelm Grimm 1819 die zweite Auflage der „Kinder- und Hausmärchen“ herausgab, waren von den 1.000 Exemplaren des zweiten Bandes, der immerhin vier Jahre zuvor erschienen war, noch rund 350 übrig und wurden eingestampft. Erst rund ein Jahrzehnt nach der Erstausgabe begann sich mit der ‚kleinen Ausgabe‘ von 1825, die dem Marketingkonzept einer englischen Auswahlübersetzung folgte, ein breiteres Publikum für die Sammlung zu interessieren.

Anfangs reagierten selbst romantische Leser eigentümlich gereizt auf die ‚Zumutungen‘ des märchenkundlichen Interesses. Clemens Brentano meinte nach Lektüre einer ersten Fassung gegenüber Arnim: „Ich finde die Erzählung, (aus Treue) äußerst liederlich, und versudelt, und in Manchen dadurch sehr langweilig, wenn gleich die Geschichten sehr kurz sind […]. Will man ein Kinderkleid zeigen, so kann man es mit aller Treue, ohne eines vorzuzeigen, an dem alle Knöpfe herunter gerißen, das mit Dreck beschmiert ist, und wo das Hemd den Hosen heraushängt. Wollten die frommen Herausgeber sich selbst genug thun, so müßten sie bei jeder Geschichte, ein psychologische Biografie des Kinds oder des alten Weibs, das die Geschichte so oder so schlecht erzählte voran setzen. […] Die gelehrten Noten sind zu abgebrochen, und es ist in dem Leser zuviel vorausgesetzt, waß er weder Wissen, noch aus diesen Noten lernen kann, eine Abhandlung über das Mährchen überhaubt, eine Physiologie des Märchens wäre, sollte Gelehrsamkeit dabei sein, weit nützlicher gewesen, so wie es jezt ist, hat die Gelehrsamkeit ein Aussehen, als sei sie ein aus dem Nachlaß verstorbener Gelehrter abgedrucktes Sammelsurium. Ich habe bei diesem Buch recht empfunden, wie durchaus richtig wir beim Wunderhorn verfahren“.

Brentano zielt auf die aktuellen Interessen der Literatur, die Grimms orientierten sich stärker auf historische Interessen – die Märchen gehörten für die beiden Brüder zunächst zum großen Projekt einer Literaturgeschichte als Sagengeschichte; sie sollten das Augenmerk der Öffentlichkeit „auf den großen Wert und die Bedeutung der Volkssagen“ lenken und dadurch das „Studium der Mythologie“ befördern. Brentano hingegen suchte nach künstlerisch gelungenen Werken und zog seine Aufmerksamkeit vom ästhetisch Unvollkommenen ab, während die Grimms auch das Zerstückelte, das nur noch bruchstückhaft Vorhandene und künstlerisch Mangelhafte im wahrsten Sinn des Wortes für merkwürdig hielten. Selbst die Werke, die aus Brentanos literaturkritischer Sicht schlecht sein mochten und die der Literaturkritiker daher nicht zu lesen empfahl, können für den Historiker wichtig sein, wenn er die Märchen als elementaren Bestandteil einer Geschichte der Poesie betrachtet. Über Brentanos Märchenstil schreibt Jacob Grimm am 26. September 1812 an Achim von Arnim: „er mag das alles stellen und zieren, so wird unsere einfache treu gesammelte Erzählung die seine jedesmal gewißlich beschämen“ – wieder also ging es um „Treue“ als jenen zentralen Wert, der sich mit den Märchen aus Perspektive der Grimms verband.

War somit schon das literaturhistorische Interesse der Grimms keinesfalls einfach evident, so hatten es die Märchen zudem als Kindergattung schwer. Darunter litten nicht nur die Grimms. Sie konnten vielmehr an Vorgängern sehen, welches Risiko sie eingingen. Als etwa ihr Namensvetter Albert Ludwig Grimm seine „Kindermährchen“ 1809 veröffentlichte (darunter so prominente Stücke wie das von Schneewittchen oder dem Fischer und seiner Frau), tat er dies, dem eigenen Bekunden nach, „mit einiger Verzagtheit“ – er wusste, „was man gewöhnlich gegen Kindermährchen sagt und sagen kann“. Er zielte auf Kinder als Publikum, und diese Adressaten visierte er höchst professionell an: Er habe jedes seiner Märchen mehrfach kindlichen Testhörern vorgelesen, und nur die Märchen, die den empirischen Test vor diesem Probanten bestanden, wurden in die Sammlung aufgenommen. Auch er also sortiert wie Brentano aus und lässt nur das in seiner Sammlung stehen, was gefällt. Daher können die Grimms – ganz abgesehen von allen stilistischen Unterschieden zwischen ihrer Sammlung und der ihres Namensvetters – mit Recht behaupten, ihre „Kinder- und Hausmärchen“ hätten mit denen Albert Ludwig Grimms „gar nichts gemein“. Bei aller Orientierung an kindlichen Lesern oder Zuhörern, die sich im Bearbeitungsprozess Wilhelm Grimms bemerkbar machte, muteten die Grimms auch in dieser Perspektive ihren Rezipienten einiges zu.

Tatsächlich machen sich bekanntlich die Grimms an einen langen Umarbeitungs- und Sortierungsprozess. Wilhelm Grimm benötigte viele Verbesserungsschritte, bis die Märchen jenen Sound hatten, der sich mittlerweile tief ins Unterbewusste jedes Hörers oder Lesers dieser Märchen eingegraben und sie zu einem Schatz der kollektiven Erinnerung gemacht hat. Anfangs aber galt offenbar für viele potentielle Leser das, was August Wilhelm Schlegel den Brüdern in seiner berühmten Rezension der „Altdeutschen Wälder“, einer Zeitschrift, die die Grimms in drei Bänden zwischen 1813 und 1816 herausgaben, in einigen berühmten Formulierungen ins Stammbuch geschrieben hat:

„Was nun die Ammenmärchen betrifft, so wollen wir sie keinesweges geringschätzen: nur glauben wir, daß das Vortreffliche in dieser Gattung eben so selten ist, als in allen übrigen. Jede gute Wärterin soll ihr Kind unterhalten oder wenigstens beruhigen und einschläfern; leistet sie dieß durch ihre Geschichten ‚Es war einmal ein König‘ u.s.w., so ist weiter keine Forderung an sie zu machen. Wenn man aber die Rumpelkammer wohlmeinender Albernheit ausräumt, und für jeden Trödel im Namen der ‚uralten Sage‘ Ehrerbietung begehrt, so wird in der That gescheiten Leuten allzu viel zugemuthet.“

Die zweite Geschichte über die „Kinder-und Hausmärchen“ handelt mithin von der Provokation, die diese Texte darstellten, weil sie stellvertretend für die gesamte Haltung der Grimms gegenüber der Überlieferung, der Kultur und Sprache eine Aufmerksamkeit für das scheinbar Nebensächliche und Unbedeutende einforderten. Für die Grimms gehörten die Märchen zu einem Überlieferungsschatz, der historisch gewachsen war, dem man Achtung zu erweisen hatte und der daher nicht willkürlich manipuliert werden durfte – mit einem Wort: dem gegenüber man sich „treu“ verhalten sollte.

Das Besondere der Märchen wie der (Natur-)Poesie überhaupt lag für Wilhelm Grimm – ganz entgegen der allergischen Reaktionen seiner Zeitgenossen – in deren einfacher Evidenz, darin also, dass die Geltung von Märchen nicht erklärt, nicht bestritten und nicht hergestellt werden kann. In der ‚Bewahrung‘ der Märchen liegt ein historischer Auftrag zur „Treue“ gegenüber der Überlieferung, wie er in der Vorrede zu den „Kinder- und Hausmärchen“ nicht ohne Selbstwiderspruch ausführt, und dies zumal deswegen, „da diejenigen, die sie bewahren sollen, immer seltener werden“: „denn die Sitte darin [in den Märchen, S.M.] nimmt selber immer mehr ab, wie alle heimlichen Plätze in Wohnungen und Gärten einer leeren Prächtigkeit weichen, die dem Lächeln gleicht, womit man von ihnen spricht, welches vornehm aussieht und doch so wenig kostet. Wo sie noch da sind, da leben sie so, daß man nicht daran denkt, ob sie gut oder schlecht sind, poetisch oder abgeschmackt, man weiß sie und liebt sie, weil man sie eben so empfangen hat, und freut sich daran ohne einen Grund dafür: so herrlich ist die Sitte, ja auch das hat diese Poesie mit allem unvergänglichen gemein, daß man ihr selbst gegen einen andern Willen geneigt seyn muß.

Die den Märchen angemessene Textumgangsform definierte damit eine bestimmte Haltung, die stets auch politisch zu verstehen war. Den Märchen eignet aus Perspektive der Grimms eine eigentümliche Befehlsgewalt, denn man „muß“ ihnen „geneigt“ sein, „selbst gegen einen anderen Willen“. Kurz vor dem Beginn der Befreiungskriege und noch unter der Herrschaft von Napoleons Bruder Jérôme Bonaparte erhebt Wilhelm Grimm damit Einspruch gegen eine Politik der Anweisung durch ‚von oben‘ verordnete Entscheidungen. Der gute König regiert mit seinem Volk und nicht dagegen. Die Grimms votierten für eine Politik, die die Gegenwart als geschichtlich Gewordenes begriff, daher behutsam Akzente setzte und sich nicht selbst überschätzte, mithin auf die Eigendynamik historischer Prozesse vertraute oder sie zumindest ins politische Kalkül zog. Es war nun genau diese Haltung, die die Grimms zum Teil der „Göttinger Sieben“ machte und sie im Streit um die Hannover’sche Verfassung protestieren ließ. So wenig ihnen der Wortlaut des Verfassungstextes bedeutete, so wichtig nahmen sie ihr rechtliches und moralisches Verhältnis dazu und so sehr mussten sie gegen die handstreichartige Abschaffung des Grundgesetzes sein. Vor allem aber: Sie fanden in Bettine von Arnim eine Mitstreiterin, die ihnen gegenüber eine geradezu märchenhafte „Treue“ bewies und mit einer politischen Strategie aus dem Geist der „Kinder- und Hausmärchen“ dafür sorgte, dass die Widerstände bei der Berufung der Brüder Grimm nach Berlin überwunden wurden.

3. Die Politik der Märchen

Die eigentümliche Gereiztheit, mit der August Wilhelm Schlegel die von den Grimms geforderte Aufmerksamkeitsform für eine Zumutung erklärte, hatte viele, zum Teil auch gute Gründe – die Grimms hatten ihre Kompetenzen tatsächlich bisweilen überschätzt, waren aber besserwisserisch, mit großem Selbstbewusstsein und einer gehörigen Portion Aggressivität im gelehrten Feld aufgetreten. Vielleicht versteht man die Provokation, die die Grimm’schen Arbeiten darstellten, erst dann, wenn man die Psychodynamik des Konflikts als Streit zwischen dem tadelnden Vater, in dessen Rolle Schlegel auftrat, und jenen ungehörigen Kindern rekonstruiert, als die die Grimms einigen arrivierten Gelehrten erschienen. Hatte die Materialleidenschaft der Grimms nicht tatsächlich etwas Kindliches? Sie selbst jedenfalls sahen in der kindlichen Achtsamkeit für Kleinigkeiten und in der daraus entspringenden Sammeltätigkeit ein Urbild der philologischen Beschäftigung mit den historischen Quellen. In der Vorrede zu den „Deutschen Sagen“ (1814) heißt es zum Schluss: „das Geschäft des Sammelns, sobald es einer ernstlich tun will, verlohnt sich bald der Mühe, und das Finden reichte noch am nächsten an jene unschuldige Lust der Kindheit, wann sie in Moos und Gebüsch ein brütendes Vöglein auf seinem Nest überrascht; es ist auch hier bei den Sagen ein leises Aufheben der Blätter und behutsames Wegbiegen der Zweige, um das Volk nicht zu stören und um verstohlen in die seltsam, aber bescheiden in sich geschmiegte, nach Laub und Wiesengras und frischgefallenem Regen riechende Natur blicken zu können.“

Mit anderen Worten: Das Märchen-Projekt zielt ganz aufs Hier und Jetzt, denn die so konzipierten Kinder repräsentieren die politischen, sozialen und wissenschaftlichen Ideale, denen die Grimms nachjagten: Beim „Anblick der Kinder“ fühle man, „dass ihre Worte und Geberden treu, wahr und lieblich sind“. Wie die von ihnen imaginierten Kinder nach dem Apfel, nicht nach dem Geld greifen, widmen sich die Brüder Grimm der ‚Naturpoesie‘, ohne auf finanziellen Gewinn zu spekulieren; und wie die „reinen Augen“ der Kinder ihre Aufmerksamkeit an alle Kleinigkeiten verschwenden, an einen Vogel wie an ein „Käferchen“ oder ein „Blümchen“, ohne sich um den logischen Zusammenhang zu kümmern, so beginnen die Grimms ihre Forschertätigkeit auch bei den Kleinigkeiten der Sprach- und Literaturgeschichte, die sie einsammeln und präsentieren, ohne Absicht auf eine abgeschlossene Darstellung. Gleich den Helden ihrer Märchen sind es für die Brüder Grimm programmatisch nicht die Sensationen, die schönsten Frauen und die größten Edelsteine, die letztlich den Sieg einbringen. Allein derjenige, der den bisweilen tölpelhaft-naiven Mut aufbringt, die etablierten Werte zu ignorieren, oder der entsagungsvoll einfache Arbeiten verrichtet, erringt das Königreich und den Schatz.

Allerdings gehört zur Bergung des Überlieferungsschatzes – wie Jacob Grimm selbst in seinem Konzept zu einer „Aufforderung an die gesammten Freunde deutscher Poesie und Geschichte“ von 1811 schreibt – „nicht nur unschuldige Einfalt, um ihn selbst zu fassen, sondern auch wieder Bildung, um jene Einfalt zu fassen, die ihrer ganz unbewußt ist, vor allem gehört dazu strenge Treue und dagegen milde Freundlichkeit […].“ Ganz so kindlich-märchenhaft geht es also in der Wissenschaft dann doch nicht zu. So greift auch Wilhelm Grimms Behauptung zu kurz, die Märchen seien nicht auf die poetische Lage der Gegenwart berechnet, denn er unterlegt ihnen die Autonomieästhetik von Klassik und Romantik: Das Märchen „trägt seine Nothwendigkeit in sich“, heißt es in der Vorrede; es ist einfach da und wird vom kompetenten Rezipienten in seinem So-Sein akzeptiert – all dies hätte man auch über das in sich vollendete Kunstwerk sagen können, wie es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts theoretisch erfunden wurde.

Dass Terry Gilliam in seinem Film „Brothers Grimm“ (2005) die Brüder Will und Jake tief in die von ihnen selbst erfundenen Märchenwelten eintauchen lässt, ist jedenfalls nicht so verkehrt und abstrus, wie es den Anschein hat. Die Grimms interpretierten ihre Gegenwart oder ihre Sehnsüchte durchaus im Licht der Märchen: Jacob etwa hätte sich in einem Märchenstübchen wohl gefühlt. Als die „Kinder- und Hausmärchen“ bereits im Druck sind, schreibt er an Arnim: „So wäre mein Wunsch – wer weiß, ob er einmal eintrifft? – ein ganz enges schmales Arbeitsstübchen, ein einziges, großes Fenster mit hellem Himmel, ohne Vorhang, da wollte ich wochenlang sitzen können, ohne auszugehen, auch habe ich keinen Trieb etwa viel fremde Länder zu sehen“. Sein eigenes Forschungsverhalten beschreibt er nicht nur in der „Aufforderung an die gesammten Freunde deutscher Poesie und Geschichte“ geradezu märchenhaft, sondern noch in der „Geschichte der deutschen Sprache“. Dieses Werk hielt er – wie es in der Widmung an Gervinus heißt – für „durch und durch politisch“ und wollte mit ihm die „aufgabe und gefahr des vaterlandes“ definieren. Er imaginierte sich darin in die Rolle eines Erlösers, eines Helden aus Märchen und Sagen, der jenes Zauberwort spricht, mit dem sich „vesunkne schätze“ heben lassen. Für die anderen gilt die geradezu magische Beschwörungsformel: „seine hand davon ab lasse wer der lösenden worte unkundig ist“.

Wilhelm Grimms märchenhafte Gesinnung reicht noch weiter. Als er im Alter die Kindheitsorte in Steinau besucht, fühlt er sich der Gegenwart entrückt, und dies mit einer gemischten Empfindung, die am besten das Doppelgesicht der Grimm’schen Arbeit an der Vergangenheit festhält: „Als ich mit diesen Erinnerungen in dem Garten auf und ab gieng, kam ich mir selbst wie ein abgeschiedener Geist vor, der zu der ehemaligen Heimath zurückgekehrt ist. Ob das heftige Gefühl, das mir die Seele erfüllte, Schmerz oder Freude war, weiss ich nicht, es war wohl beides zugleich.“ Fast scheint es, als verwandle sich Wilhelm hier in eine Figur aus den „Kinder- und Hausmärchen“ oder aus den „Deutschen Sagen“. Geschichten von Menschen, die aus der Zeit gefallen sind, finden sich darin immer wieder, etwa in der Sage von den „Heilingszwergen“, in der Kinderlegende von den „Zwölf Aposteln“, in der Erzählung von den Elfen, bei denen ein Jahr wie eine halbe Stunde vergeht, oder im Märchen von den „Wichtelmännern“.

Wenige Seiten nach dem Besuch der Kindheitsorte kommt Wilhelm in seiner Autobiografie auf das Ende des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation zu sprechen und damit auf jene grundlegende Erfahrung „des Zusammenbruchs aller bisherigen Verhältnisse“, die ihm „immer vor Augen stehen“ werde. Nach dem Einmarsch der Napoleonischen Truppen im langjährigen Wohnort Kassel „änderte sich alles von Grund aus“. Aber auch dabei bleibt es nicht: „Keine andere deutsche Stadt hat so vielfachen Wechsel erlebt, als Cassel“ – und genau an dieser Stelle fügt er wieder hinzu: „manchmal scheint es mir, als habe ich mehrere Menschenalter verschlafen, wenn ich bedenke, welche ganz verschiedene Zustände ich dort erlebt habe. Die Zeit nach der Wiederherstellung war doch in manchen Dingen von der früheren ab [sic!], und seit der Regierung des gegenwärtigen Kurfürsten hat sich Vieles wieder gar sehr verändert.“ Wilhelm flüchtet also in märchenhafter Manier nicht allein in die Vergangenheit vor der Gegenwart, sondern das Gefühl, aus der Zeit geworfen zu werden, resultiert zudem aus der Erfahrung historischer Umbrüche einer immens beschleunigten Geschichtsepoche.

Politisch waren die Märchen immer auch deswegen, weil sie genau gegen diese historische Erfahrung auf eine besondere Art und Weise soziale Beziehungen stifteten: So unbewusst, wie sich die Figuren des Märchens selbst treu bleiben oder einander beistehen, so treu sollten auch die (Vor-)Leser und Zuhörer den Märchen als Hausmärchen bleiben. In „Über das Wesen des Märchens“ schreibt Wilhelm Grimm: „Kindermärchen werden erzählt, damit in ihrem reinen und milden Lichte die ersten Gedanken und Kräfte des Herzens aufwachen und wachsen; weil aber einen jeden ihre einfache Poesie erfreuen und ihre Wahrheit belehren kann, und weil sie beim Haus bleiben und forterben, werden sie auch Hausmärchen genannt“. Die Märchen sind für die Grimms einer der Idealfälle, an denen sich das ‚unbewusste‘ Empfangen und das ‚unbewusste’ Schaffen ablesen lässt.

So dienen die Kindermärchen den Grimms auch als Medium der frühkindlichen Lesesozialisation beziehungsweise als Kassiber gegen die Lesesucht und damit als Medien der Entschleunigung in einer sich rapide modernisierenden Welt, in der das Neue das einzig Interessante ist und die Aufmerksamkeit damit wenig Verweildauer hat. Sie mögen, bittet Jacob Grimm die Arnims, „jeden Abend eins oder ein paar“ lesen, nicht alle auf einmal, „sonst machts müde“. Die Märchen dienen der Wiederholungslektüre; sie sind die Gattung der per se ‚Ungebildeten‘ und richten sich somit an Vertreter jener Volkstümlichkeit bzw. Menschlichkeit, der die Grimms historisch auf der Spur waren. Die Grimms dachten eben nicht „an das einmalige Anhören oder Lesen, an das sich unsere Zeit gewöhnt hat“, weil der zeitgenössische „Witz“ nur kurz das Interesse der Leser reizt. Sie favorisierten „das Dauernde“ als „etwas Ruhiges, Stilles und Reines“.

Wilhelm Grimm beharrt verständlicherweise darauf, dass die „Kinder- und Hausmärchen“ kindertauglich sind, dass aber erwachsene Vorleser durchaus vorsortieren sollten – nicht immer, aber oft genug ergebe sich aus einem Märchen auch eine „gute Lehre, eine Anwendung für die Gegenwart“. Ein Beispiel nennt Wilhelm nicht. Damit bedient er jedenfalls jene Leser, die sich von Märchen und vielleicht auch von Literatur insgesamt einfache Handlungsanweisungen versprechen. Für diese Märchen-Nutzer demonstrieren der Wolf und die Sieben Geislein, dass man fremden Männern die Tür nicht öffnet; Frau Holle belegt den Wert uneigennütziger Hilfs- und Arbeitsbereitschaft; und der „eiserne Heinrich“, der Diener des Prinzen, veranschaulicht im Märchen vom Froschkönig die Tugend unbedingter Treue. Aber darum geht es den Grimms eigentlich nicht. Ebenso wenig, wie sie alte Heldenlieder ausgruben, weil diese direkt und wörtlich zur Nationalerziehung mündiger Bürger beitragen sollten, legitimierten sie die Märchen in erster Linie wegen deren Lehrhaftigkeit. Ihr Erziehungskonzept war komplizierter und hatte von der Pädagogik der Spätaufklärung und der Romantik gelernt. Deswegen strichen die Grimms bisweilen sogar direkt die belehrenden Passagen einer Vorlage. Und auch damit lagen sie ganz auf der Linie der aktuellen Ästhetik ihrer Zeit. Nicht umsonst zitiert Wilhelm als Beleg seiner Thesen zur eher beiläufigen Lehrhaftigkeit des Märchens Goethes „Dichtung und Wahrheit“: „Die wahre Darstellung hat keinen didaktischen Zweck“, verlautete es aus Weimar kurz und bündig.

Die Grimms formten mit den Märchen eine Art grundlegendes Weltverhältnis: Es geht um das Geben und Nehmen, um den Aufbau und Erhalt sozialer Bindungen. Dabei stellen die Märchen „Situationen“ des Lebens dar, nicht zuletzt von Verlassenheit und Leid, und sie präsentiert die Haltung, die in solchen Situationen weiter hilft: Treue. Dies kann auch Treue zu sich selbst und seinen Neigungen bedeuten, die auf den ersten Blick eher negativ erscheinen. So wirft die Prinzessin im Froschkönig-Märchen aus Wut das kleine Tier gegen die Wand – „bratsch!“ –, daraufhin verwandelt sich die Amphibie in einen Prinzen. Das passt nicht zur bürgerlichen Trivialmoral, aber zur ‚Logik des Märchens‘, denn ‚unbewusst’ erfüllt die Prinzessin genau die Erlösungsvorgaben, die Wilhelm allerdings erst im Lauf der Bearbeitung nachträgt. Als der Prinz aufs Bett gefallen ist, erklärt er: „er wäre von einer bösen Hexe verwünscht worden, und niemand hätte ihn aus dem Brunnen erlösen können als sie allein, und morgen wollten sie zusammen in sein Reich gehen“ – die Prinzessin erhält einen Prinzen und der überglückliche Diener, der ‚treue Heinrich‘, wieder einen Herrn.

Wenn die Märchen eine Pädagogik bedienen, die Kinder zu Trivialmaschinen degradiert, dann stellt das bei den Grimms eher ein Zugeständnis dar. Letztlich geht es bei den „Kinder- und Hausmärchen“ nicht nur darum, was gesagt wird, sondern vor allem, wie es gesagt wird, wie dadurch Gemeinschaften gestiftet werden und wie dadurch der Umgang mit kulturellen Gütern von klein auf in eine bestimmte Richtung gebracht wird. Entscheidend ist daher die Bindung, die sich zwischen Kindern und Müttern in der Familie über die Märchen einstellt. Dies ist nicht die einzige märchenhafte Sozialbeziehung, die sich über den Ton der Märchen und ihre Vermittlung, nicht aber unbedingt durch deren Inhalt ergibt. So werden die Märchen auch für die Brüder Grimm zum Medium, über das sie ihre Netzwerke ausbauen. Auf diese Weise konnten Jacob und Wilhelm Grimm selbst erleben, wie die Märchen jene Vertrautheit hervorbringen, von der sie immer wieder handeln. An Ludowine von Haxthausen etwa schreibt Wilhelm Grimm am 29. Mai 1814: „Sie glauben nicht, welche Freude ich an der Sammlung des zweiten Bandes habe, eben durch diese Theilnahme und Beförderung von andern“. Auch die Beiträger untereinander kommen über die Märchen in Kontakt. Im Februar 1810 reist Marie Hassenpflug mit einem Empfehlungsschreiben Wilhelms zur Familie Mannel, um sich dort zu erholen – Willhelm verspricht Friederike Mannel, sie werde ihren Gast „lieb gewinnen“, und fügt hinzu: „Ich habe sie auch um Märchen gebeten und wenn Sie beide fleißig sammeln, so wirds nicht fehlen“. Gemeinschaftsbildend also sollten die Märchen wirken, und immerhin bemerkenswert ist, dass Wilhelm später die Märchenbeiträgerin Dorothea Wild heiraten sollte, so wie Lotte Grimm die Ehefrau von Ludwig Hassenpflug wurde, dessen Schwestern für die Grimms viele Märchen aufgezeichnet haben – die Märchen handeln nicht nur vielfach von Hochzeiten, sie stifteten diese offenbar auch. Die Märchen sind ihrer Poetologie nach Produkt des ‚naturpoetischen‘ Gebens und Nehmens, und sie regen diesen ‚unbewussten‘ Austausch an.

Die Kreise märchenhafter Beziehungen erstrecken sich schließlich über Familie, Bekanntschaften und Freundschaften bis in die Welt der großen Politik. Was sich im Kleinen, auf dem Gesellschaftsparkett ihres Bekanntenkreises abspielt, hätten die Grimms gern auch auf die große Bühne der Politik übertragen. Hinter der märchenhaften Politik der Grimms stand die romantische Idee, dass sich das politische System nicht auf autoritärer Gewalt, sondern auf „Liebe und Zutrauen“, auf dem Unbewussten einer gesellschaftlichen Ordnung gründe. Diese Idee verbreiteten die Grimms nicht allein in Zeitungsartikeln, sondern auch in und vor allem durch die Märchendichtung. Gegen die diplomatischen Ausgleiche und Winkelzüge stellt Jacob Grimm auf dem Wiener Kongress jedenfalls den typischen Helden der Hausmärchen: „wir bedürfen jetzt unschuldiger kinder“, meint er in einem Bericht aus Wien, „die alles schlechte mit einfachen schlüssen niederschlagen, und das urtheil auf der strasze offen liegend finden“.

Als zwei solche Helden waren die beiden „Protestanten“ nach Berlin gekommen. Wie Bettine von Arnim und viele andere Zeitgenossen hatten sie ihre politischen Hoffnungen auf Friedrich Wilhelm IV. gesetzt und darauf, der neue König werde endlich Politik aus dem romantischen Geist liebevoller Volksverbundenheit betreiben. Das Credo der Friedrich-Wilhelm-Anhänger formuliert Bettine in einem Brief an Savigny kurz und bündig: „Der Staat muß nicht bloß ehrwürdig, er muß liebenswürdig im tiefsten Sinn des Wortes sein, wenn er sich fest begründen soll“. Der „Romantiker auf dem Thron“ (David Friedrich Strauß) war zwar zehn Jahre jünger als die Brüder Grimm, aber er teilte mit ihnen und mit Bettine von Arnim vielfach einen politischen Erfahrungshorizont: In den Befreiungskriegen bildete sich für ihn die Vorstellung nationaler Einheit. In der einigen Nation sollten die Herzen von Volk und Regierung im gleichen patriotischen Takt schlagen, ohne dass es dazu der Abstimmung durch eine ‚papierne‘ Verfassung bedürfte. Der Thronfolger war wie die Grimms überzeugter Monarchist und hatte die romantischen Ideen einer liebevollen Regierung, die sich nicht zuletzt an der Person seiner Mutter Luise entzündet hatten, so verinnerlicht, dass er auf Verfassungsrechte glaubte verzichten zu können. Lebendig und vielfältig sollte eine Gesellschaft aussehen, und dies garantierte für Friedrich Wilhelm IV. die geschichtlich gewachsene Ungleichheit eines Ständestaats.

Friedrich Wilhelm IV. orientierte sich an den Überzeugungen der historischen Rechtsschule, die ihm sein Erzieher, der alte Grimm-Freund Savigny, zwischen 1814 und 1817 vermittelt hatte, sowie an den Fantasien mittelalterlicher Herrschaft, die bei seinem Lieblingsschriftsteller Friedrich de la Motte Fouqué zu finden waren. Diesem aber hatte Wilhelm Grimm in einer Rezension schon 1809 ins Stammbuch geschrieben, dass ein romantisches Politikverständnis die Welt der Märchen nicht einfach mit der wirklichen Welt verwechseln darf: „Zurück aber geht überhaupt der Mensch niemals, auch nicht in die bessere und poetischere Zeit des kindlichen Alters“. Für die vielfach vermittelte Übertragung der Märchen in die Realpolitik, wie sie die Grimms entwarfen, hatte auch der neue preußische König kein Verständnis, und so sammelten Wilhelm und vor allem Jacob Grimm in Berlin eine politische Enttäuschung nach der anderen. An ihren politischen Grundüberzeugungen hielten die Brüder dennoch fest.

Nicht nur erschien die große Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ in der Berliner Zeit in drei Auflagen (1843, 1850 und 1857), so dass der sich nun einstellende Erfolg jenen mentalitätsgeschichtlichen Wechsel anzuzeigen schien, auf den die Grimms immer hingearbeitet hatten – gerade in der Großstadt, deren lärmende Umtriebigkeit die Grimms beklagten, fanden sich endlich jene ruhigen, stillen Orte des Märchenerzählens, die die Grimms imaginiert hatten. Darüber hinaus konzipierten sie mit dem „Deutschen Wörterbuch“, zu dessen Fertigstellung sie vom preußischen König nach Berlin berufen worden waren, noch einmal eine Art Parallelaktion zu den Märchen. Denn Jacob Grimm hoffte allen Ernstes darauf, dass das „Deutsche Wörterbuch“ „zum hausbedarf“ genutzt würde, wobei in diesem Fall bezeichnenderweise nicht wie bei den „Kinder- und Hausmärchen“ die Mütter, sondern die Väter als Vorleser adressiert werden: „warum sollte sich nicht der vater ein paar wörter ausheben und sie abends mit den knaben durchgehend zugleich ihre sprachgabe prüfen und die eigne anfrischen?“ Jedoch hatten sich die Grimms auch im Fall des „Deutschen Wörterbuchs“ zu große Hoffnungen gemacht. So ließen sich über die Karriere dieses ebenso wissenschaftlichen wie politischen Unternehmens wie über die Märchen zwei Geschichten erzählen, die beide nach Berlin führen würden.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist eine leicht veränderte, fußnotenlose Fassung des Aufsatzes „Die Politik der Märchen“ von Steffen Martus in: Rotkäppchen kommt aus Berlin! 200 Jahre „Kinder- und Hausmärchen“ in Berlin. Eine Ausstellung der Staatsbibliothek zu Berlin. Herausgegeben von Carola Pohlmann und Berthold Friemel, Berlin 2012, S. 19-33.

Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung. Zitatbelege und umfassende Hinweise zur Forschung enthält auch die von Martus 2009 veröffentlichte Biographie über die Brüder Grimm.