Das Unheil namens Mann

Julian Pölsler hat Marlen Haushofers MeisterInnenwerk „Die Wand“ verfilmt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ galt bislang als eines der literarischen Werke, die schwerlich zu verfilmen sind, ist er doch nicht gerade handlungsreich und kommt mit einem denkbar kleinen Figurenensemble aus. Sieht man von einer Handvoll Haustieren ab, beschränkt es sich im Grunde auf die namenlose Protagonistin. Vor allem aber bietet das Buch nicht ein einziges Ereignis, das sich spektakulär in Szene setzen ließe. Julian Pölsler hat die Verfilmung des 1963 erschienen Romans dennoch unternommen und die Protagonistin mit Martina Gedeck besetzt. Eine gute, um nicht zu sagen ausgezeichnete Wahl.

Die Handlung des Films ist schnell umrissen. Eine in ihren späten Vierzigern stehende Frau wird von Luise und Hugo, einem befreundeten Ehepaar, auf einen Wochenendausflug in deren Jagdhütte eingeladen. Das schlichte Bauwerk liegt an einem abgelegenen Ort in einer Schlucht der österreichischen Alpen. Am Abend der Ankunft bricht das Ehepaar noch einmal ins nächstgelegene Dorf auf, während die Protagonistin mit dem Jagdhund Luchs zurückbleibt. Am nächsten Morgen erwacht sie und muss nicht nur feststellen, dass ihre GastgeberInnen nicht zurückgekehrt sind, sondern sie von einer weiträumig um die Schlucht und die umliegende Gebirgslandschaft verlaufenden ebenso unsichtbaren wie undurchdringlichen Wand vom Rest der Welt abgeschnitten ist. Die Lebewesen jenseits der Wand sind mit Ausnahme der Pflanzen zu zwar äußerlich unveränderten, jedoch reglos verharrenden Dingen ‚versteinert‘ und fraglos tot, wie sie bei ihrem ersten Gang durch die Schlucht feststellen muss, der ihr einen Blick auf ein Menschenpaar hinter der Wand erlaubt. Bald läuft ihr eine – wie sich herausstellt, trächtige – Kuh und kurze Zeit später während eines Unwetters eine Katze zu. Die Kuh gebiert ein Kälbchen, das zu einem Stier heranwächst; die Katze ein schneeweißes Kätzchen, dessen Fell verrät, dass es in seiner Ahnenlinie einmal eine Angorakatze gegeben haben muss.

In den ersten Tagen und Wochen erkundet die Frau die ihr zugängliche Gegend, ohne je die durch die Wand gesetzte Grenze ganz abzulaufen oder auf einen anderen Menschen zu stoßen. Zwar ernährt sie sich zunächst von den in der Jagdhütte vorhandenen Lebensmitteln, findet jedoch bald darauf brauchbare Gerätschaften und Werkzeuge in einer nahegelegenen Almhütte. Mit ihrer Hilfe beginnt sie sogleich für den kommenden Winter vorzusorgen, indem sie Kartoffeln einsetzt. Später wird sie Früchte und Pilze sammeln. Auch geht sie mit den beiden Gewehren des Ehepaars auf Jagd.

Hofft die Frau zu Beginn noch auf Hilfe, so wird deren Erscheinen mit der Zeit immer unwahrscheinlicher. Doch lernt sie im Laufe der Wochen, Monate und schließlich Jahre mehr und mehr, wie sie auf sich alleine gestellt in der keinesfalls nur idyllischen Natur mit ihren Tieren überleben kann. Denn die Gewalttätigkeit der Natur, die sich etwa in Unwettern und frostigen Winternächten äußert, denen die Rehe zum Opfer fallen, oder in einem Fuchs, der die geliebte schneeweiße Katze Perle reißt, wird keineswegs herabgespielt. Doch auch die Protagonistin selbst kommt nicht umhin zu töten, um sich und den Hund zu ernähren. Dabei wird der Todeskampf eines von ihrer Kugel getroffenen Rehs nicht beschönigt. Den Fuchs, von dem sie annimmt, dass er Perle tötete, verschont sie hingegen.

Als visuelles Medium lebt der Film von zweierlei: den darstellerischen Fähigkeiten Gedecks, die in dem Einfrau-Stück keine einfache Aufgabe zu bewältigen hat, diese aber glänzend meistert, und den Landschafts- und Genrebildern, in deren ästhetischer Inszenierung der Film vielleicht ein wenig zu gerne schwelgt, wenn er die Frau vor dem Hintergrund der erhabenen Gebirgslandschaft zeigt, sie auf einem morschen Baumstamm ruhen oder den Blick zum funkelnden Sternenhimmel erheben lässt. Allerdings gleiten die Bilder nie auf das Niveau von Postkarten-Kitsch herab, was bei diesen Motiven gar nicht so einfach zu vermeiden ist. Ruhig, geradezu bedachtsam schweift der Blick der Kamera durch den behaglichen Raum der Hütte, in dem Mensch und Tiere ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgehen. Der Hund döst auf dem Boden, die Katze schlürft ein Schälchen Milch und die Frau schreibt an ihren Aufzeichnungen. Überhaupt prägen den Film lange Einstellungen und eine fast schon beschauliche Kameraführung. In ruhigen Bilder zeigt er die Anstrengung, das Leben zu erhalten, ebenso wie die stille Freude, es zu genießen. Eines Tages aber bricht völlig unerwartet das Unheil namens Mann herein. Nun erst, gegen Ende des Films, wenn er die tödliche Axt schwingt, hilft eine schnelle Schnittfolge, Dramatik zu erzeugen.

Die idyllisierend und zumal in ihrer Lautstärke aufdringlich eingesetzten „Bach-Partiten“ für Streichinstrumente stören die Stimmungen der Landschafts- und Genrebilder eher, als dass es ihnen gelingt, sie zu erhöhen. Ihnen steht ein im Abspann nicht als Musik ausgewiesener ebenso aufdringlicher, vermutlich elektronisch erzeugter summender Ton gegenüber, der ein Gefühl der Bedrohlichkeit evoziert und vornehmlich eingesetzt wird, wenn sich die Protagonistin der Wand nähert. Ähnliche Töne klingen später beim Erscheinen des Mannes auf.

Emotionalität, Betroffenheit, überhaupt Stimmung wird jedoch nicht nur mit visuellen oder musikalischen Mitteln erzielt, sondern auch und gerade durch die aus dem Off ertönende Stimme der Frau, die in ihren Aufzeichnungen nicht nur über den Alltag und dessen Mühen sowie über die schönen Stunden auf der Alm berichtet, sondern auch Reflexionen etwa über die conditio humana und die Sterblichkeit von Mensch und Tier anstellt. Sie lässt eine melancholische bis pessimistische, nie jedoch depressive Grundhaltung dem Leben gegenüber erkennen, die Mitleid mit den ungefragt ins Dasein geworfenen Kreaturen empfindet. Ihr Tagebuch führt sie, weil sie hofft, es könne helfen, ihr Menschsein nicht zu verlieren. Nicht, dass sie fürchtet, zum Tier herabzusinken. Der Mensch könne nicht zum Tier werden, notiert sie, er „stürzt vielmehr am Tier vorüber in einen Abgrund“.

Beklagt die Protagonistin zu Beginn ganz dem Klischee der hilflosen und unselbständigen Frau gemäß, dass niemand da ist, der für sie „denken und sorgen“ kann, so eignet sie sich im Laufe der Zeit alle notwendigen Fertigkeiten an, um in der Natur bestehen zu können. Sie wird nicht nur autonom, ja autark im wörtlichen Sinne, sondern findet schließlich sogar, es sei „schon besser“, dass sie allein ist.

Autonomie beziehungsweise der Wille zur Autonomie aber ist bekanntlich männlich konnotiert. Ihnen werden gemeinhin Miteinander und Naturverbundenheit gegenübergestellt, die als typisch weiblich gelten und insbesondere in Teilen der Zweiten Frauenbewegung als das Bessere angesehen wurden. Entwickelt die Protagonistin einerseits die männlich konnotierte Fähigkeit autonomen Daseins – Martina Gedeck meinte in einem Interview aus dem Jahr 2010 sogar, dass die Frau „sich auch in einen Mann verwandelt“ –, so verspürt sie doch im gleichen Zeitverlauf andererseits eine immer stärkere Verbundenheit mit den Haustieren und der durchaus nicht immer ‚freundlichen‘ Natur. Sogar den Wald fühlt sie in sich denken. Stärker lässt sich der weiblich konnotierte Einklang mit der Natur kaum herausstellen. Um noch einmal Gedeck zu zitieren: Die Schauspielerin spricht davon, dass der Roman „vielleicht innerhalb einer Person die männlichen und weiblichen Anteile beleuchtet.“ Diese sicherlich zutreffende Beobachtung wird im Buch an einer Stelle allerdings sowohl überboten wie auch unterlaufen. Empfindet sich die Protagonistin doch als „sehr altes, geschlechtsloses Wesen“, das „einem Baum ähnlicher als einem Menschen“ ist.

Der aus dem Off gesprochene Text wurde ausnahmslos und wörtlich aus Haushofers Roman übernommen. So zwar nicht die Gewissheit, aber doch immerhin der unabweisbare Eindruck nach Kinobesuch und vorheriger Lektüre des Buches. Insofern scheint sich der Film eng an die Vorlage anzuschmiegen, doch trifft das nur mit Abstrichen zu. Entscheidend dafür, dass der Film – zumindest in einer Hinsicht – dem literarischen Prätext nur scheinbar getreulich folgt, ist nicht, was gesagt wird, sondern was nicht gesagt wird. So setzen zwar sowohl das Buch als auch der Film mit der eindringlichen Beschreibung der Angstgefühle der Protagonistin ein. Im Buch jedoch schließt sich sogleich eine Charakterisierung von Hugo an, der „von dunklen Ängsten geplagt“ wird und „ängstlich wie ein kleines Kind“ ist. Ein zweites Beispiel: In der Jagdhütte des Ehepaares befinden sich zwei Gewehre, die zu benutzen die Protagonistin erst erlernen muss. Da Waffen gemeinhin männlich konnotiert sind, liegt für die KinobesucherInnen die Vermutung nahe, dass Hugo sie zur Jagd nutzte. Tatsächlich aber ist er laut Buch „ein schlechter Schütze“, dem es überdies „zuwider“ ist, „arglose Rehe zu erschießen“. Ganz anders hingegen seine Frau Luise. Die „leidenschaftliche Jägerin“ erlegt das Wild in nicht eben geringer Zahl, „während er, die Hände über dem Bauch gefaltet, in einem Lehnstuhl vor dem Jagdhaus sitzt und in der Sonne döst.“ So leidenschaftlich sie auf die Jagd geht, so sehr „verabscheut“ sie, „den Haushalt“ zu erledigen.

Mit alldem durchbricht Haushofer die gängigen Geschlechterklischees der frühen 1960er-Jahre, in denen der Roman erschien. Der Film hingegen restituiert sie ein halbes Jahrhundert später wieder, indem er die Protagonistin, und allein sie, als ängstlich charakterisiert, oder er versäumt zumindest, die Klischees wie Haushofer zu durchbrechen, indem er es unterlässt, die Gewehre Luise zuzuordnen.

Auch die Mutterschaft der Protagonistin lässt der Film unerwähnt. Im Buch hingegen hat sie zwei Töchter. Zwar ist sie sicher, dass sie wie alle Menschen hinter der Wand umgekommen sind, allerdings trauert sie nicht um sie wie um ihre getöteten Haustiere. Denn die Tiere sah sie sterben, ihre Töchter aber nicht, so erklärt das Buch. Trotz dieser Begründung wird damit die besonders intensive Bindung einer Mutter an ihre Kinder, die vermeintlich ‚natürliche Mutterliebe‘ unterminiert. Andererseits aber wird diese bei Haushofer auch in gewisser Weise dadurch hergestellt, dass sie an ihre Töchter eher als an die kleinen Kinder denkt, die sie einmal waren, denn als Teenager, zu denen sie inzwischen herangewachsen sind. Hier geht dem Film eine Ambivalenz der Weiblichkeitskonstruktionen verloren, die das Buch gemeinsam mit den Dekonstruktionen von Geschlechterklischees trotz ihrer scheinbaren Beiläufigkeit prägt. Setzt Haushofer Geschlechterklischees ein, dann nicht selten mit ironischem Zungenschlag. So etwa, wenn die Protagonistin darüber sinniert, dass sie mit dem Begriff Ehre nichts anfangen kann, sich aber der im Film unterschlagene Kater Tiger sogar als Tier „in seiner Mannesehre gekränkt“ fühlen kann.

Durch alle diese Auslassungen unternimmt der Film eine gravierende Verschiebung der Geschlechterkonstruktionen. Wenn Haushofer gängige Geschlechtervorstellungen fortschreibt, folgt Pölsler ihnen hingegen. So bereitet es der Protagonistin sowohl im Buch wie auch im Film schlaflose Nächte, töten zu müssen, um sich und den Hund am Leben zu erhalten. Der gegen Ende wie aus dem Nichts auftauchende Mann hingegen tut es ganz ohne ersichtlichen Grund und geradezu blindwütig. Ein Geschlechterklischee, das bekanntlich durchaus nicht so ganz aus der Luft gegriffen ist. Allerdings wird es bei Haushofer anders als im Film durch das Ehepaar Luise und Hugo auch unterlaufen.

Doch nicht nur die Geschlechterkonstruktionen betreffend, auch in anderer Hinsicht weicht der Film in einigen nicht ganz unwichtigen Punkten von der Vorlage ab. Als das Buch Anfang der 1960er-Jahre erschien, gab es zwar schon Autoradios, nicht aber Kassetten-Recorder oder DVD-Player. Dass der Film die Handlung mit Einsatz des letzteren einige Jahre näher an die Gegenwart heutiger KinogängerInnen verlegt, spielt zwar keine große Rolle. Auch hört man im Film durchaus für einen Moment ein Rauschen. Hier jedoch, ohne dass deutlich würde, dass es aus einem Radio kommt. Es lässt sich allenfalls daraus schließen, dass die Frau und das Ehepaar gegen Anfang des Films während der Fahrt zur Jagdhütte einen fremdsprachigen Redebeitrag empfangen. Die Protagonistin wechselt vom rauschenden Radio nun auch sogleich auf den Kassetten-Rekorder, der beginnt, einen Song zu spielen. Jedoch ist das auf allen Frequenzen nur noch rauschende Radio wichtig, da es die Protagonistin im Buch vermuten lässt, dass es weltweit keine lebenden Menschen mehr gibt. Im Film davon kein Wort.

Bei Haushofer stellt die Protagonistin noch eine weitere Vermutung an, die der Film unterschlägt. Für die Wand, so nimmt die Frau an, sei eine „Erfindung“, eine neue „ideale Waffe“ verantwortlich, womöglich „eine Art Gift“. Dies veranlasste einige LeserInnen, den Roman dem Genre der Science Fiction zuzuschlagen. Doch handelt es sich hierbei um ein etwas schwaches Indiz, denn letztlich bleibt die Wand im Buch ein ebenso unerklärliches Phänomen wie im Film. So recht ist denn auch die Protagonistin nicht von ihrer Annahme überzeugt, es handele sich bei der Wand um die Folge eines Waffeneinsatzes, bekennt sie doch, sie habe sich das eben so „zurechtgelegt“.

Julian Pölsler jedenfalls ist die cineastische Umsetzung des schwierigen Stoffes alles in allem nicht übel gelungen. Seine Geschlechterkonstruktionen aber fallen um Einiges hinter das Buch zurück.

Die Wand. Österreich/Deutschland. 2012. Regie: Julian Pölsler. Darstellerin Martina Gedeck. Länge: 108 Min.

Weitere Filmrezensionen bei literaturkritik.de finden Sie hier.

Weitere Filmrezensionen hier