Ewige Erzählungen

Die Gattung Grimm und der Dummling

Von Severin PerrigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Severin Perrig und Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

1 Mündlichkeit und Schrift

Auf dem Büchertisch, in der Therapiegruppe oder im Computerspiel – überall erfreuen sie sich außerordentlicher Verbreitung und Beliebtheit: die mächtigen Märchen.

Die Gattung „Märchen“ lässt sich umschreiben als ein komplexer Austausch von schriftlichen Vorlagen, gehörten Geschichten und subjektiven Hinzufügungen, aus dem Erlebnishorizont der Erzählenden verstanden und kulturhistorisch gedeutet. Ihre Tradierung erlaubt es, die Atmosphäre der individuellen Einsamkeit und Verlassenheit aufzubrechen und mit Ängsten und Irritationen nicht allein zu bleiben (vgl. Mazenauer & Perrig 1995). In Märchen lassen sich offensichtlich nicht nur eigene Lebenssituationen wiedererkennen, vielmehr scheinen sie zugleich verheißungsvolle Blicke in die mythischen Tiefen der Menschheitsgeschichte zu eröffnen. Ob von Mund zu Mund oder in Büchern weitergegeben, gemeinhin gelten die Märchen als ewige Erzählungen, deren Kern sich über Jahrhunderte hinweg unverändert überliefert hat.

Erzählen und Schreiben bilden dabei die beiden elementaren Möglichkeiten der Überlieferung: der spontane mündliche Bericht für den augenblicklichen Unterhaltungsbedarf auf der einen, die ausschmückende schriftliche Fixierung für die lesende Nachwelt auf der anderen Seite. Ein Gegensatzpaar, das die historische Märchenforschung freilich nur allzu gerne durcheinandergebracht hat, indem sie annahm, dass wer Märchen niederschreibt, sie stets auch dem Volksmund abgelauscht haben müsse.

Allein ein solcher Volksmund spricht im notierten Wortlaut, wie ihn die Dichtenden sich jeweils anempfinden. Letztere haben so seit je her vorhandenes Erzähl-Material stilistisch nach eigenem Gutdünken bearbeitet, dass daraus täuschend mundgerechte Geschichten entstehen können, mit nostalgischen Anmutungen an längst vergangene Zeiten. Doch was war denn eigentlich zuerst da, das Huhn des mündlichen Berichts oder das Ei der schriftlichen Festlegung? Für die traditionelle Märchenforschung steht die Hierarchie außer Frage: die mündliche Überlieferung weist sich kraft ihrer größern Einfachheit, ja gar Primitivität als älter und somit ursprünglicher aus. Übersehen wird hierbei nur, dass mündliches Berichten grundsätzlich immer einfacher aufgebaut ist als ein schriftlicher Text und es sich überdies häufig daran ergötzt, die Erzählstoffe zusätzlich derb und spaßhaft umzuformen. Wer dies gut und lebhaft tut, beweist seine Fähigkeit einzig an der erzählten Geschichte – ohne Rücksicht auf Vorlagen und Traditionen. Doch es sind gerade diese Vorlagen, die Ordnung in die Erzählungen bringen, so dass sie auch späteren Generationen noch verstehbar sind.

Mit andern Worten, die Kontinuität von mündlichen Überlieferungen über Jahrtausende hinweg ist bisher maßlos überschätzt worden (vgl. Mazenauer & Perrig 1997, 34). So sind auch die abendländischen Märchen in erster Linie durch periodische schriftliche Fixierungen und Bearbeitungen weitergegeben worden. Das bedeutet indessen nicht, dass sich Lust und Vergnügen an Märchen, Schwänken und andern Geschichten nicht auch mündlich direkt ausgedrückt hätte. Seit alters vermittelten professionelle Erzähler und Erzählerinnen zwischen Schriftkultur und dem leseunkundigen Volk. Dorforiginale, Ammen, Barbiere, aber auch Bänkelsänger, Vorleser oder Gaukler, die mit gutem Gedächtnis begabt oder des Lesens mächtig waren, unterhielten mit solchen Geschichten oder wandelten sie zum allgemeinen Vergnügen spontan um. Es wird erzählt, um gleichermaßen aufzufallen wie zu gefallen – aber auch, um die Leute abzulenken, ihnen Trost zu spenden oder auf ungelöste Fragen und alltägliche Probleme mit wunderlichen Geschichten zu antworten. Nebst der unterhaltenden besitzt das Erzählen von Märchen somit wesentlich auch eine soziale Funktion. Wer sich mitteilt, teilt mit anderen Erfahrungen, Hoffnungen und Ängste. Dementsprechend schmiegt sich das wandelbare Märchen im Unterschied zum stofflich verfestigten Mythos immer dem sozialen wie kulturellen Milieu von Erzählenden und ihrem Publikum an. Setzt der Mythos ideologische wie kulturelle Normen, hält ihnen das Märchen die unspektakuläre Alltagswirklichkeit entgegen: schlicht und demütig – zugleich aber auch ungebärdig und subversiv.

2 Woher die Kindermärchen kommen

Mit der Erfindung des Buchdrucks intensivierten sich die Austauschbeziehungen zwischen mündlichem und schriftlichem Erzählen und es bildete sich allmählich ein eigentliches Erzählgeschäft heraus. Zahlreiche populäre Druckerzeugnisse erlauben es somit, dass wer erzählt, unwillkürlich sich auch aus dem reichen Fundus europäischer Geschichtentradition bedient. So weisen denn viele der heute so geläufigen Märchen auf höfische Ritterepen und geistliche Texte des Mittelalters oder auf Novellensammlungen des 15. und 16. Jahrhunderts zurück.

Das Märchen untersteht somit einem fortwährenden Prozess der Um- und Neugestaltung, der innerhalb der Überlieferung zu Verbesserungen neigt, die von den Quellen her nicht zu erklären sind. In jeder Epoche entzündet sich die Fantasie neu und projiziert eigene Erfahrungen auf alte Vorlagen. Märchengeschichten dienen sich der Schrift an und bleiben doch ungebärdig und wandelbar dabei. Dies prädestiniert sie dazu, je nach Gusto der Erzählenden immer wieder umgeformt und abgewandelt zu werden. Märchen sind derart in ihrer ursprünglichen Gestalt häufig Geschichten für Erwachsene.

Märchen- und Geschichtensammlungen gibt es seit der Antike. Als besonders modellhaft für die abendländische Erzählkultur erwies sich Giovanni Boccaccios „Das Dekameron“ (1348). Zehn adlige Frauen und Männer fliehen hierin der Pest wegen aus der Stadt und erzählen sich auf einem Landsitz zu ihrer Zerstreuung und Unterhaltung abwechslungsweise Geschichten. Dieses erzählerische Grundmuster wurde in der Folge oft nachgeahmt – nicht zuletzt auch vom neapolitanischen Dichter Giambattista Basile (um 1575-1632). Sein „Pentamerone“ kann als erste umfassende schriftliche Märchensammlung im engeren Sinne gelten. Eingebettet in eine vergnügliche höfische Rahmenhandlung erzählen darin zehn alte hässliche Frauen in ihrem volkstümlichen, grobianischen Dialekt je fünf Geschichten. Für die zuhörenden Herrschaften am Hofe sind diese vor allem Grund zu verlachendem Amüsement und zugleich exotischer Anreiz für derb erotische Vorstellungen. Dergestalt richten sich Basiles literarisch raffiniert erzählte und aus dem Fundus der Renaissance-Novellistik geschöpften Märchen nicht an Kinder, vielmehr sind sie zum geistreichen Zeitvertreib und Ergötzen der Erwachsenen dem kindlichen, weil unzivilisierten Volk in den Mund gelegt. Der allgemein gültigen Märchenhaftigkeit stehen die dem damaligen Zeitgeist entsprechend inszenierten Standesschranken entgegen sowie die derbe Erotik fast aller Geschichten.

Wenngleich viel weniger anzüglich und stattdessen den aristokratischen Manieren des späten 17. Jahrhunderts angepasst, richtet auch der französische Höfling und Gelehrte Charles Perrault (1628-1707) seine acht moralischen „Geschichten oder Märchen aus vergangener Zeit“ (1697) keineswegs an ein kindliches Publikum. Tatsächlich erzählt Perrault für eine vornehmlich weibliche Zuhörerschaft in den höfischen Salons, wie sie zur Zeit von Ludwig XIV. groß in Mode gekommen waren. Trotz dieses ausgesucht geistreichen Publikums erlangten Perraults Märchen schnell Popularität und lösten eine eigentliche Märchensucht in Europa aus. Weit bis ins 18. Jahrhundert hinein galt es als chic, Feerien und Märchen im exklusiv fürstlichen oder orientalischen Ambiente zu erfinden respektive dahingehend zu bearbeiten. Feen und Adlige verkörperten nun darin die zeitgemässen Tugendideale, derweil Bauern und Bürger Mitleid erregten. Dieser bisweilen langweilige Schematismus brachte die Märchen allmählich als Literatur für Erwachsene in Verruf.

Damit hatten gerade auch die Brüder Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) anfänglich ihre liebe Mühe. Und erstaunlicherweise gelangte die Erstauflage der zweibändigen „Kinder- und Hausmärchen“ 1812 beziehungsweise 1815 zunächst ebenfalls nicht über einen Achtungserfolg hinaus. Das romantische Unterfangen, die alte deutsche Poesie und Sprache wieder zu erwecken und als Volksüberlieferung wissenschaftlich zu bewahren, erwies sich als wenig geeignet für die aufklärerischen pädagogischen Ideen von einem kindlichen Märchenpublikum innerhalb der bürgerlichen Kleinfamilien. Es bedurfte weiterer Überarbeitungen ihrer häufig nur schriftlich vorliegenden Quellen vor allem durch Wilhelm Grimm. Was unter seiner Hand mittels Weglassungen, Zufügungen und Veränderungen entstand, war ein „nachgebesserter“, kunstvoll gestalteter Märchenstil, die Gattung Grimm: im Ton naiv und volkstümlich, im Stil flüssig und poetisch, inhaltlich losgelöst von Zeit und Raum, im Unterhaltungswert durch zielorientiertes Erzählen sowie anschauliche populäre Sprachelemente erhöht und in ihrer Moral bieder verbürgerlicht. In dieser literarisierten Form glichen die Kinder- und Hausmärchen bloß noch einfachen Geschichten, als wären sie soeben frisch dem Volksmund abgelauscht worden.

Die Brüder Grimm nahmen sich indessen nicht allein aus Verbundenheit mit ihrer deutschen Heimat und aus pädagogischen Überlegungen der Märchen an, vielmehr auch, weil sie in einer Zeit, „wo Geldgier und die schnurrenden Räder der Maschinen jeden andern Gedanken betäuben“, (Grimm 1989, Bd. 3, 418; im Folgenden: KHM), die Fähigkeit zu erzählen für gefährdet und einer vergangenen Welt zugehörig hielten. Gerade noch rechtzeitig wollten sie die vom Aussterben bedrohte Gattung für das „geliebte Vaterland“ (J. Grimm, zit. in: Steig 1904, 608) retten. Dafür schufen sie eine höchst effektvolle Textform, die zugleich eine bürgerliche Ideologie festschrieb, der die Kernbegriffe Kindheit, Elternliebe, Tüchtigkeit, Wohlanstand und das Gute im Menschen märchenhaft einbeschrieben sind.

3 Der aufsteigende Dummling

Ein besonders häufiges Motiv, das bei den Gebrüdern Grimm für ihre didaktischen Ziele herangezogen wird, ist das des Dummlings, Dümmlings oder Däumlings. Als jüngster von meist drei Söhnen macht der Dummling trotz seiner körperlichen oder geistigen Benachteiligung sein Glück, weil er gutherzig und gewitzt ist. Er wird, wie speziell auch im russischen Volksmärchen, angesichts seiner trägen Ofenhockerei häufig verkannt und für dumm gehalten. Dieser Charaktereigenschaft entsprechend spürt er, im Gegensatz etwa zur Aschenputtel-Figur, keinerlei Verlangen, die soziale Stufenleiter emporzuklimmen beziehungsweise altes, ihm angetanes Unrecht zu sühnen. Statt dessen vollzieht sich sein Glück beinahe gegen den eigenen Willen. Tugend, Vernunft und gutes Benehmen sind für seinen Aufstieg offensichtlich nicht allzusehr von Belang. Der Dummling zeichnet sich nebst schlechten Sitten besonders durch zwei Dinge aus: Lernunfähigkeit und Handeln wider den allgemeinen Menschenverstand. Und dennoch wird diese Unangepasstheit ans alltägliche Leben nicht selten am Ende belohnt.

Wo immer sich auch das Phänomen Dummheit zeigt, in der Fiktion wie in der Wirklichkeit, über bloß negative Ausformungen hinaus erscheint es grundsätzlich nur sehr schwer fassbar. Entgegen ihrer überragenden Bedeutung im menschlichen Leben, das „an sich schon dumm“ ist (Tschechow 1990, 6), ist die Macht der Dummheit – im Gegensatz zu Verstand und Weisheit – erstaunlich selten über knappe Definitionen, schillernde Bonmots und seichte Platitüden hinaus philosophisch ergründet worden. Wenn theoretische Abhandlungen nicht öfter „von den kahlen Höhen der Gescheitheit in die grünenden Täler der Dummheit“ hinuntersteigen (Wittgenstein 1977, 144), uns also das Gegenteil der Klugheit kaum erklärlicher machen, so bringen die Dummlingsmärchen umso mehr Verständnis dafür auf, indem sie von den konkreten Ausprägungen dieser Untugend in der Alltagswelt erzählen.

Der Märchen-Dummling erweist sich als eine vielschichtige Figur, die sich je nach Herkunft, Charakter und sozialem Kontext als Träger von gesellschaftspolitischer Kritik oder als Objekt des Spotts besonders eignet. In seinen Erfolgen beziehungsweise Misserfolgen spiegeln sich immer auch die Bewegungskräfte innerhalb einer sich wandelnden Gesellschaft. Und je ausgeprägter diese sozialen Bewegungen sind, desto mehr Dummlingsfiguren werden zu ihrer Klärung benötigt. Dies gilt speziell für die Epoche der Renaissance.

Die festgefügte mittelalterliche Ständeordnung gerät im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts mehr und mehr in Bewegung. Neben dem herrschenden Adel gewinnt eine neue gesellschaftliche Schicht, das Handelsbürgertum, an Reichtum und Macht. Um wirtschaftliche Stärke auch politisch geltend zu machen sowie soziales Ansehen zu steigern, verlangt es diese Schicht nach gesellschaftlichen Aufstiegschancen.

Umgekehrt versucht der im 16. Jahrhundert vielerorts durch Krieg, Seuchen und wirtschaftliche Misere kränkelnde Adel seine gelichteten Reihen mit wohlhabenden Zuzüglern von außen aufzufüllen, um dem eigenen Stand die Zukunft zu sichern. Doch so sehr der damit einhergehende „beschleunigte soziale Aufstieg“ (Braudel 1986, 527) die gesellschaftliche Hierarchie verändert, so sehr bleibt im Sozialen wie Kulturellen ein ständischer Konservativismus bestehen, der auf Bildung, Sitte und Ordnung größten Wert legt. Innerhalb des aristokratischen Lebens gilt weiterhin die traditionelle Etikette, der sich bürgerliche Aufsteiger oft nur schwer unterzuordnen vermögen. Diese stehen somit nicht selten im Widerstreit zwischen ihrem eigenen Wunsch nach Anpassung und dem Drang nach einer kultivierten, indes weniger förmlichen und weniger ausschweifenden Lebensart. Dergestalt werden die bürgerlichen Aufsteiger zweifach Gegenstand des Spotts: der Geburtsadel vermisst die angeborene Hoffärtigkeit und der Pöbel verspottet ihre beflissene Unterwürfigkeit. Und doch kann es geschehen, dass wie im Märchenschwank der Dumme obsiegt.

Der russische Literaturwissenschaftler Michail M. Bachtin (1895-1975) hat die Dummheit als „die Kehrseite der offiziellen, herrschenden Wahrheit“ umschrieben, die sich „vor allem in der Unfähigkeit, die Gesetze und Konventionen der offiziellen Welt zu begreifen, und im Verstoß gegen dieselben“ zeigt (Bachtin 1987, 302). Dieser gesellschaftliche Antagonismus, der gerade auch im Märchen seinen Widerhall findet, zieht sich durch die gesamte Tradierung des Dummlingsmärchens. Nicht allein, dass Dummlingsgeschichten in eher bäurischen abendlichen Erzählrunden (veillée) als harmlose Form der Rebellion, als Überlistung der grausamen gesellschaftlichen Verhältnisse kultiviert und belacht wurden. Bei Charles Perrault beispielsweise, einem herausragenden Intellektuellen am Hofe Ludwigs XIV., ist es nicht mehr die unverschämt faule Haltung, die den Dummling in der höfischen Welt des Absolutismus charakterisiert, sondern allein seine äußerliche Hässlichkeit, die sich am Körper wie am Benehmen ablesen lässt. So gesehen, wird er geradezu als Vorbild für Bescheidenheit gesehen, da er sich mit dem offenen Bekenntnis zu seinem Narrentum keine nichtvorhandenen Verdienste anmaßen kann. Ganz in der Tradition des Dümmlings deuten die Eltern des kleinen Däumlings im Märchen „Riquet mit dem Schopf“ die Zartheit und Wortkargheit ihres jüngsten Sohnes als „ein Zeichen von Dummheit, wo es doch nur auf einen scharfen Verstand hindeutete“ (Perrault 1986, 116).

4 Den Dummen gehört die Welt

Einen solchen Stoff, der zu allerlei Deutungen Anlass gibt und der in der Märchengeschichte eine vitale karnevaleske Spur hinterlassen hat (vgl. Mazenauer & Perrig 1995, 255ff.), wollten auch die Brüder Grimm nicht auslassen, und so bemühten sie sich redlich, den Stoff aus diesem literarischen Umfeld wieder hinaus in den Volksmund zu schaffen. Ihren Versuch betitelten sie gut deutsch „Hans Dumm“, und ihre Gewährsleute waren einmal mehr die Geschwister Hassenpflug in Kassel. Doch schon in der zweiten Auflage von 1819 verschwand dieser Dummling aus den „Kinder- und Hausmärchen“ zugunsten von „Der Ranzen, das Hütlein und das Hörnlein“, zugunsten eines Märchens mit Quellen aus dem 16. Jahrhundert also. Im Unterschied zu den Fassungen von Giambattista Basile oder des „auch recht guten“ Giovan Francesco Straparola zeichnet sich ihr eigenes „Hans Dumm“-Märchen durch sprachliche wie dramaturgische Schwächen aus, die mangelnde Sorgfalt, aber auch Zweifel am Stoff selbst verraten. Die überlieferte Fassung gleicht so eher einem Steinbruch, in der unpräzise und zögerlich die verschiedenen Elemente angedeutet werden, doch gänzlich gereinigt von aller derben Körperlichkeit.

Es macht den Anschein, als ob den Brüdern Grimm über der Charakterzeichnung ihres Hans Dumm unwohl geworden sei, weshalb sie ihm wider alle Erwartung gleich selbst die Führung des weiteren Geschehens überlassen. Zuerst wünscht er sich eine Schüssel Kartoffeln, dann folgen standesgemäß Schiff und Schloss, bevor er sich zuletzt selbst zum adretten klugen Prinzen macht, der einst die Herrschaft im Königreich übernehmen wird. Weder braucht es die Liebe der Frau, noch deren Klugheit – allein seine Tatkraft schafft das Wunder. So ist der Dummling eben doch kein Dumm-, allenfalls ein Dümmling, der sich eine Jugendposse erlaubt. Die Brüder Grimm schildern dies knapp und ohne die ihnen eigene märchenhafte Poesie, eher im Stile einer trockenen Nacherzählung der italienischen Vorlagen. Die beispielgebende Dummheit taugt dergestalt weder für die Kinderpädagogik noch für eine solide bürgerliche Moral, da die Tüchtigkeit des Helden zuletzt unbegreiflich bleibt beziehungsweise ganz und gar dem Zufall geschuldet scheint. Folglich verschwindet Hans Dumm gegen Schluss auch gänzlich von der erzählerischen Bildfläche.

Klarer demonstrieren demgegenüber andere Geschichten von Dummlingen beziehungsweise Dümmlingen innerhalb der Grimm’schen „Kinder- und Hausmärchen“ die bürgerlichen Tugenden. Darunter finden sich traditionelle Dummlingsgeschichten, in denen meist drei Söhne in die Welt hinaus ziehen, um ihr Glück zu machen, dieses aber nur dem Jüngsten, dem Dummling, wegen seiner Güte zuteil wird. An ihnen fällt auf, dass bei den Brüdern Grimm kaum mehr etwas von der Vitalität und Ungebärdigkeit der Renaissance-Märchen zu finden ist. Im Gegenteil verwandelt sich etwa Basiles „Der Dummling“ (3. Tag, 8. Märchen) in „Sechse kommen durch die ganze Welt“ (KHM Nr. 71) und «Bruder Lustig» (KHM Nr. 81) zur reinen Rachegeschichte, worin je ein Kriegsentlassener mit Hilfe von Gefährten oder des heiligen Petrus den ihm vorbehaltenen Sold eintreibt. Es ist der Gedanke an wirtschaftliche Gerechtigkeit, der sie anspornt. Ausgeprägter noch findet sich diese bürgerlich-kapitalistische Ethik in verwandten Märchen wie „Das tapfere Schneiderlein“ (KHM Nr. 20), „Tischchen deck dich…“ (KHM Nr. 36) oder „Daumesdick“ (KHM Nr. 37). Auch hierin dreht sich das Geschehen um einen sozialen Aufstieg, doch ist er nicht mit so obskuren Mitteln wie einer angewünschten Schwangerschaft (wie in Basiles „Pervonto“-Geschichte) zu erreichen. Vielmehr erscheint jener als eine männlich heroische Tat, durch eigenes Geschick gefestigt und so erst wirklich verdient.

Sogenannt weibliche Elemente wie ein gutes unschuldiges Herz und Freigiebigkeit genügen allein noch nicht: es muss für den Erfolg zusätzlich auch gekämpft werden, oder man verliert wie „Hans im Glück“ (KHM Nr. 83) seinen Goldklumpen. Dies vor Augen, wandeln die Brüder Grimm die alten Dummlings-Vorlagen dahingehend ab, dass individuelle wirtschaftliche Tüchtigkeit wie Ausdauer über die Erstgeburt, die „weltliche Klugheit“ (Grimm 1819, 195), obsiegen und die Verbesserung des sozialen Status aus eigener Kraft erlangt werden muss. Die letzten werden die ersten sein, so gehört den Dummen die Welt. In diesem Sinne verkehrt sich das Motiv der Dummheit ins Gegenteil: Aus dem Gewand des Tölpels schält sich ein gewitzter Dümmling, der über die Geringschätzung seiner Umwelt und über die hergebrachte Ordnung triumphiert.

Max Webers rationalisiertes Erwerbsstreben, das die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft antreibt, erscheint hier gleichsam märchenhaft vorgezeichnet. Spätestens im 18. Jahrhundert, mit dem Aufstieg des Bürgertums zu Macht wie Ehren und zur Ausbildung von Sitte wie verbindlicher Ethik gab es keinen Platz mehr für die wilden Ausbrüche des Dummlings. Das Vorbild der Brüder Grimm wirkt fort, und so taucht jener in der Literatur fortan als ein strebsames Wirtschaftsindividuum auf, das derart verharmlost und fest ins veränderte gesellschaftliche Gefüge eingebunden ist. Wenn der Dummling sich in den Büchern von Jean Paul und Ludwig Tieck, von Christian Dietrich Grabbe und Karl Leberecht Immermann bis 1850 noch als romantischer Kauz wiederfindet, der einfach und still im kleinen seiner Umwelt trotzt, so erscheint er parallel dazu bei Georg Büchner oder Heinrich Heine bereits auch im Gewand des dümmlichen Prinzen oder philisterhaften Spießers, der gleichsam in eigener Person ein satirisch gezeichnetes Sittenbild der Gegenwart entwirft.

Der Dummling im Lichte der sozialen und politischen Wirklichkeit, diese Form hat sich in den mannigfachsten und witzigsten Ausprägungen bis heute erhalten. Weit seltener dagegen ist in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts die reine Narretei geworden. Weniger in der Literatur als im zeitgenössischen Erzählgut tauchen dennoch immer wieder Dummlingsgeschichten auf, speziell in den populären Witzen und Modern Legends (vgl. Perrig 2005, 20). Bekanntlich ist ja immer, wo zwei zusammenkommen, einer der Dümmere, meist der andere. Das gilt speziell für den Vergleich unterschiedlicher Nationen, Regionen, Religionen, Rassen, Geschlechter oder sozialer Schichten. Dergestalt erlauben die Dummlingswitze eine spontane und flexible Anpassung an jeweils vorhandene Vorurteile. Zugleich kristallisieren sich dabei Erzählmuster heraus, die eigenen Erwartungen wie Selbsteinschätzungen entsprechen, indem in ihnen das Fremde der reinen Tölpelei überführt wird.

Gehört so die Welt tatsächlich den Dummen, kann dennoch nicht für alles die Dummheit verantwortlich gemacht werden. Allein, was stiftet mehr Unheil: der lustvolle Anarchismus eines grobianischen Dummlings oder eine sich vernünftig gebende Charakterlosigkeit?

Literaturverzeichnis

Bachtin, M. (1987) Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Braudel, F. (1986) Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 2: Der Handel. München: Kindler.
Grimm, W. (1819) Einleitung zur 2. Auflage der Kinder- und Hausmärchen von 1819. In: Grimm, J. & W. (1985): Schriften und Reden (Hrsg. L. Denecke) Stuttgart: Reclam, S. 192-198.
Grimm, J. & W. (1989) Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen (Hrsg. H. Rölleke) 3 Bde. Stuttgart: Reclam [abgekürzt = KHM].
Mazenauer, B. & Perrig, S. (1997) Ein ewiges Werden, Vergehen und Aufzeichnen. Eine wissenschaftliche Merkwürdigkeit wird zum literarischen Sagentext. In: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung (Hrsg. R.W. Brednich & H.-J. Uther) Bd. 38. Berlin/New York: de Gruyter, S. 33-41.
Mazenauer, B. & Perrig, S. (1995) Wie Dornröschen seine Unschuld gewann. Archäologie der Märchen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer [als Taschenbuch (1998) München: dtv].
Perrault, C. (1986) Sämtliche Märchen. Stuttgart: Reclam.
Perrig, S. (2005) Runzlige Musen in Mythos wie Cyberspace. Der erzählerische Generationenkonflikt zwischen märchenhafter Fiktion und Realität. In: Mazenauer, B. & Grond, W. (Hrsg.) Das Wahre, Falsche, Schöne. Reality Show. Essays. Innsbruck: StudienVerlag/Haymon, S. 19-23 u. S. 172 f.
Steig, R. (1904) Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Stuttgart/Berlin: Cotta.
Tschechow, A. (1990) Onkel Wanja. Stuttgart: Reclam.
Wittgenstein, L. (1977) Vermischte Bemerkungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.