„Knaben liebt ich wohl auch…“

W. Daniel Wilson eröffnet überaus interessante Einblicke in Goethes „Ansichten zur ‚Homosexualität‘“

Von Bastian SchlüterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bastian Schlüter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, um die Frage nach Goethes Begehren und um seine Vorlieben in sexualibus geht es nicht im neuen Buch des um kontroverse Thesen durchaus nicht verlegenen amerikanischen Germanisten W. Daniel Wilson. Hatte er im Goethe-Jahr 1999 für weitreichenden Gesprächsstoff gesorgt mit seinem Buch „Das Goethe-Tabu“, so behandelt er nun ein Thema, das – so leuchtet es bei der Lektüre gleich ein – näherliegend nicht sein kann. Denn der Ausgangspunkt von Wilsons Argumentation ist denkbar einfach: Wie konnte ein großer Geist und Künstler vom Format Goethes von einem kulturell so produktiven und historisch so vielfältigen Phänomen wie der gleichgeschlechtlichen Liebe nicht angezogen sein? Angezogen im Sinne der ästhetischen Kommentierung, der experimentellen künstlerischen Aneignung. Mehr und vor allem Goethes „sexuelle Orientierung“ ist aus den Quellen nicht zu rekonstruieren und im Angesicht der Fülle an anderweitig Erhellendem, das Wilson im Gesamtwerk auftut, auch völlig uninteressant.

Der große Teil von Goethes Beschäftigung mit Gleichgeschlechtlichem beruft sich, überraschend ist das nicht, auf Antikes. Ob in der Dichtung von Martial bis Petronius, in der bildenden Kunst vom berühmten Apoll von Belvedere bis zu den zahlreichen Darstellungen des Antinous als des Geliebten Kaiser Hadrians – all diese Werke eröffnen einen Horizont, aus dem Goethe sich in produktiver Auseinandersetzung mit Themen und Motiven bedienen konnte. Besonderes Augenmerk richtete Goethe, so Wilson, dabei auf die „klassische“ griechische Zweierkonstellation aus Liebhaber und Geliebtem, erastes und eromenos, deren Beziehung zueinander er neu ausbuchstabierte und als eine gleichrangige beschrieb: Im „Schenkenbuch“ des „West-östlichen Divans“ ist dies in subtiler Vermengung antiker wie persischer Motive literarisch umgesetzt.

Doch Wilson geht chronologisch vor, bietet eine auf das Thema bezogene „selektive Werkbiographie“, an deren Anfang er zunächst einmal und überzeugend wie notwendig einige historische und begriffliche Erläuterungen stellt. Goethes „Ansichten“ zur mann-männlichen Liebe (und nahezu ausschließlich um diese geht es) sind nur schwerlich mit dem Begriff der „Homosexualität“ in Verbindung zu bringen. Denn dieser Terminus entstammt dem medizinisch-pathologischen Diskurs des späten 19. Jahrhunderts. Zudem sind die polaren Geschlechterrollen mit ihren ebenso eindeutigen Begehrenszuordnungen Produkte einer Epoche, die erst in Goethes letztem Lebensdrittel begann – Wilson weist zu Recht auf den Zusammenhang von entstehendem Nationalismus in der napoleonischen Besatzungszeit und einem sich polarisierenden Geschlechterdiskurs hin. Im späten 18. Jahrhundert waren die Lizenzen noch ein ganzes Stück weiter gefasst; überhaupt war die durch Johann Joachim Winckelmann initiierte klassizistische Ästhetik schon in ihren Anfängen durchzogen von einem untergründigen „homoerotischen“ Moment – was nicht zuletzt mit der Person Winckelmanns selbst zu tun hatte. All dies wusste Goethe selbstverständlich, reflektierte es und hob es in seiner Lebensbeschreibung in „Winkelmann und sein Jahrhundert“ von 1805 in die öffentliche Sphäre. In diesem Essay überhöhte Goethe, so Wilson, die gleichgeschlechtliche Liebe „als unübertreffliche Erfüllung menschlicher Möglichkeiten, als Ausdruck von Ganzheitlichkeit.“

Den Anfang von Goethes Beschäftigung mit der „griechischen Liebe“ – diese für heutige Ohren etwas verzopft klingende Formulierung entspricht am ehesten den begrifflichen Gepflogenheiten des späten 18. Jahrhunderts – setzt der Interpret aber mehr als drei Jahrzehnte früher an. 1769 beeindruckte Goethe ein Abguss des Apolls von Belvedere im Mannheimer Antikensaal, in der Sturm-und-Drang-Zeit las er die einschlägigen antiken Autoren, und von da an finden sich immer wieder verhaltene oder auch ganz deutliche Hinweise darauf, wie sehr den Dichter das Gleichgeschlechtliche interessierte. In „Ganymed“ und besonders im „Erlkönig“ ist es das Ungleichgewicht von Machtgefügen, das Goethe in den jeweiligen Zweierkonstellationen beleuchtete; im „Erlkönig“ gar als Andeutung von Gewalt und Missbrauch. Waren diese frühen Annäherungen eher abstrakter Natur, so wird Goethe, dies vermutet Wilson, in Italien auch mit realer „Homosexualität“ in Kontakt gekommen sein: Der sehr viel sinnlichere, offenere Süden bot ihm nicht nur selbst neue Erfahrungen, der Dichter wird außerdem die unterschiedlichsten Spielarten menschlicher Sexualität kennengelernt haben. Dies fand sodann Eingang in die „Venezianischen Epigramme“ von 1790, womöglich hatte Goethe sogar einen Subzyklus geplant, der der griechischen Liebe gewidmet sein sollte. Einen solchen jedoch verwarf er im Lichte der schlechten Erfahrungen mit den „Römischen Elegien“ wieder, so mutmaßt Wilson anhand überzeugender Spuren, die er herausarbeitet.

Zurück in Deutschland kam dem Dichter und Politiker Goethe mehr und mehr die gegenwartsbezogene Dimension des Themas ins Bewusstsein. Mit Winckelmann und mit dem Historiker Johannes von Müller wurden ihm Schicksale zweier Männer bekannt, deren gleichgeschlechtliche Neigungen ein offenes Geheimnis waren. Mit seinen Arbeiten zu Winckelmann, besonders dem schon genannten biografischen Essay von 1805, bezog Goethe mit zeitgenössisch kaum zu vergleichender Klarheit Position für einen gleichwertigen Blick auf gleichgeschlechtliche Lebensformen. Die ästhetisch feinsinnigsten Homoerotica schuf er dann im „Divan“ – es ist ein eklektizistisch-anspielungsreiches Gewebe, das er aus abendländisch-antiken und orientalischen Motiven zusammenfügte. Vom „hierarchischen Gefälle zur potentiellen Partnerschaft“ führte Goethe die Bilder mann-männlicher Beziehungen – für Wilson ein Ausweis von Goethes Modernität in derlei Geschlechterfragen.

Hieraus macht der Germanist aber noch mehr. Für ihn hat der große Weimaraner nämlich gleichsam den Weg gewiesen in eine Richtung, die dann viel später die Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts beschritten haben. Zweifellos eine starke These. Wilson findet sie auch in den beiden letzten Kapiteln seiner Werkbiografie bekräftigt. In ihnen wirft er einen einschlägigen Blick auf Goethes große Synthese im Alterswerk, auf „Faust II“. Wilson sieht im Dramentext die gleichgeschlechtlichen Motive enggeführt mit einem weiteren Thema, das den Dichter zeit seines Lebens faszinierte, mit der Androgynie. Im 5. Akt des „Faust II“ etwa, in der Grablegungsszene, in der Mephisto vom Chor der Engel sich angezogen fühlt, wird daraus ein komplexes Spiel mit Zuschreibungen, Aufhebungen und Durchkreuzungen einer polaren Ordnung von Geschlecht und Begehren. Auch dies steht in Wilsons Interpretation für Goethes große Experimentierlust in Fragen eines nicht nur „heterosexuellen“ Begehrens ein und damit für seine zukunftsweisende Liberalität.

Auf diese moderne Gesinnung verweist auch die schöne Szenerie, mit der Wilson sein Buch beginnen und enden lässt: Wer Goethe im Jahr 1829, zu seinem 80. Geburtstag, im Haus am Frauenplan besuchte – und viele haben das getan –, der schritt im Treppenhaus durch ein „homoerotisches Bildprogramm par excellence“; vorbei an Hercules und Hylas, Apoll und Hyazinth, Hadrian und Antinous und anderen „Buben aus dem Alterthum“. So viel geballt Gleichgeschlechtliches – Wilson leitet daraus seine zweite gewichtige These ab: Goethe sei es auf diesem Wege zuletzt auch um die Überwindung der Klassik gegangen, um einen markanten Schlussstrich unter das „interesselose Wohlgefallen“. Es war ein Plädoyer für mann-männliches Begehren, das diesseits abstrakter ästhetischer Gegenwelten seine Wirklichkeit beanspruchen durfte. Der alte Goethe als hintersinniger Meister der Entsublimierung, so darf man Wilsons Lesart verstehen.

Es mögen solche bisweilen etwas überspitzten Thesen sein, die an Wilsons Buch missfallen können. Dass der „‚schwulenfreundliche‘ Greis“, wie es sicher etwas augenzwinkernd heißt, in seiner Beschäftigung mit der griechischen Liebe und ihren zeitgenössischen Spielarten das Tor zu modernen Schwulenbewegung aufgestoßen und damit en passant auch noch die klassizistische Ästhetik überwunden habe – nun ja, womöglich ist das ein wenig zu viel des Guten. Dennoch: auch das, was Wilson hier und dort etwas steil zusammenfasst, ist mit einer allerorten spürbaren Lust an der philologischen Spurensuche, an der Aufhellung der Goethe’schen Horizonte geschrieben, dass die Pointierungen eher anregen als irritieren. Wilson stellt vielfältige Bezüge her, bahnt neue Zugänge zu den bekannten Texten, verfährt manchmal etwas weit ausgreifend und assoziativ, sehr viel öfter aber genau abwägend und präzise argumentierend, so dass sich alles zu einer überzeugenden und differenzierten neuen Perspektive fügt. Goethes Weltgewandtheit, seine Liberalität und moderne Gesinnung – all das war schon bekannt. Dass sie auch und mit besonderem Nachdruck für die „griechische Liebe“ galten, hat W. Daniel Wilson in seinem Buch bestens lesbar dargelegt.

Titelbild

W. Daniel Wilson: Goethe Männer Knaben. Ansichten zur "Homosexualität".
Übersetzt aus dem Englischen von Angela Steidele.
Insel Verlag, Berlin 2012.
503 Seiten, 28,95 EUR.
ISBN-13: 9783458175421

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch