Grimms Märchen-Pärchen:

Eine feministisch-linguistische Anmerkung zum 200. Geburtstag der Grimm’schen Märchen

Von Luise F. PuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luise F. Pusch

Vor zweihundert Jahren, am 20. Dezember 1812, erschien passend zum Weihnachtsfest die erste Ausgabe der Grimm’schen „Kinder- und Hausmärchen“. Aus diesem Grunde wird in diesen Tagen, ja das ganze Jahr schon, allenthalben heftig der Brüder Grimm gedacht. Auch ich möchte mein Scherflein beitragen und in den Jubelchor ein paar feministisch-linguistische Untertöne einschmuggeln. Der Inhalt der Grimm’schen Märchen wurde schon des öfteren feministisch analysiert, von feministischen Kommentaren zu ihrer Sprache und Grammatik habe ich hingegen noch nichts gehört.

Los geht’s. Fangen wir mit einer Sprachprobe aus „Fundevogel“ an: „Fundevogel und Lenchen hatten sich so lieb, nein so lieb, daß, wenn eins das andere nicht sah, ward es traurig.“

Fundevogel und Lenchen sind ein „Pärchen“, ein Mädchen und ein Junge. Heute würde dieser Text mannhafter daherkommen, das Lenchen würde ausgelöscht: „…wenn einer den anderen nicht sah, wurde er traurig.“

Sehen wir uns ein anderes Grimm’sches Märchen-Pärchen an, Jorinde und Joringel. Es fällt angenehm auf, dass der Jüngling im Titel an zweiter Stelle genannt wird. Das Pärchen mit den niedlichen Namen wird von den Grimms wie folgt eingeführt: „Nun war einmal eine Jungfrau, die hieß Jorinde; sie war schöner als alle anderen Mädchen. Die und dann ein gar schöner Jüngling, namens Joringel, hatten sich zusammen versprochen. Sie waren in den Brauttagen und sie hatten ihr größtes Vergnügen eins am andern.“

Dass auch er nicht nur „gar schön“, sondern sogar „in den Brauttagen“ war, klingt vielversprechend. Sie hatten Vergnügen „eins am andern“, und da wollen wir denn auch nicht weiter stören mit langweiligen linguistischen Bemerkungen.

Ich gebe in die praktische Suchfunktion meines Kindle die Worte „eins das andere“ ein und bekomme zahlreiche Belege angeliefert. Die Suchfunktion ist intelligenter als ich dachte, sie beherrscht anscheinend auch „fuzzy logic“, das heißt sie findet auch Belege, die nur ungefähr so aussehen wie das, was ich eingegeben habe:

„Indessen waren wir ohne Plan auf dem Pfade weitergegangen, bald dicht aneinander gedrängt, bald eins hinter dem andern, wie es der Raum erlaubte.“ (Gottfried Keller, „Der grüne Heinrich“)

„…dagegen Ehegatten verpflichtet sind, sich gegenseitig zu Willen zu sein und eins dem anderen nichts zu verweigern.“ (Stendhal, „Über die Liebe“)

„Wir erhielten so sehr immer alles eins vom andern, daß wir kaum mehr wußten, wem der oder jener Gedanke zuerst angehört hatte.“ (Malvida von Meysenbug, „Memoiren einer Idealistin“).

Damit will ich es für heute gut sein lassen; ich könnte hier aber noch viel mehr Beispiele für diese frauenfreundliche Gepflogenheit auflisten, sich auf die beiden Beteiligten eines gemischtgeschlechtlichen Paares, äußerst gerecht, mit einer neutralen Formulierung zu beziehen: „Wenn eins das andere nicht sah“, „sie hatten Vergnügen eins am anderen“, „sie gingen eins hinter dem anderen“.

Nun ließe sich einwenden: Aber heute sagen wir es auch „geschlechtergerecht“, und noch dazu kürzer: „Wenn sie einander nicht sahen“, „sie hatten Vergnügen aneinander“, „sie gingen hintereinander“.

Das stimmt zwar – aber wir lesen doch oft auch Sätze wie „Sie gingen einer hinter dem anderen“, als wären es zwei Schwule. Niemals hingegen liest es sich so, als wären die beiden lesbisch: „Sie hatten ihr größtes Vergnügen eine an der anderen“ werden wir über ein Heteropaar nie lesen.

Damit endet meine kleine Betrachtung über geschlechtergerechte Sprache einst und jetzt. Bis wir wieder die Höhen erklommen haben, die die Grimms und ihre ZeitgenossInnen noch selbstverständlich fanden, das kann dauern. Bis dahin wollen wir einfach dankbar sein, dass die Brüder Grimm ein dermaßen populäres Buch gemacht und damit ein Biotop geschaffen haben, in dem bis heute die guten alten Sprachgepflogenheiten überleben und den Kindern wenigstens in die Ohren kommen. So bleibt diesen freundlichen Formen eine Chance, nicht nur zu überleben, sondern wieder aufzuleben.

Ein erster Schritt: Statt „unsereiner“ sagen wir nur noch „unsereins“!

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag gehört zu Luise F. Puschs Glosse „Laut & Luise“, die seit Februar 2012 in unregelmäßigen Abständen bei literaturkritik.de erscheint.