1913: Franz Kafka vor hundert Jahren

Vorbemerkungen zum Schwerpunkt

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Die „Generation Golf“, der Florian Illies zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein ungemein erfolgreiches (Selbst-)Portrait widmete und deren Pop-Literatur an jüngere Traditionen der Postmoderne anknüpfte, entdeckt inzwischen die literarische Moderne für sich. Wie Christian Krachts Roman „Imperium“ erinnert Illies in seinem kürzlich erschienenen Portrait des Jahres 1913 an „die Moderne“ und damit an Persönlichkeiten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren wurden und das 20. Jahrhundert mit prägten. Jedem Monat ist eine Skizze vorangestellt, die dem Leser andeutet, was ihn in diesem Kapitel erwartet. Januar 1913 „ist der Monat, in dem sich Hitler und Stalin beim Spazierengehen im Schlosspark von Schönbrunn begegnen, Thomas Mann fast geoutet und Franz Kafka vor Liebe fast verrückt wird. Zu Sigmund Freud auf die Couch schleicht eine Katze. Es ist sehr kalt, der Schnee knirscht unter den Füßen. Else Lasker-Schüler ist total verarmt und verliebt in Gottfried Benn, bekommt eine Pferdepostkarte von Franz Marc, nennt Gabriele Münter aber eine Null. Ernst Ludwig Kirchner zeichnet die Kokotten am Potsdamer Platz.“ Und „Oswald Spengler arbeitet schon am ‚Untergang des Abendlandes’.“

Franz Kafka ist einer der Protagonisten in dieser bunten Sammlung von Zitaten, Anekdoten, Berichten und (zuweilen auch erfundenen) Geschichten. „Im März“, so verrät die Vorschau zum dritten Kapitel, „fährt Kafka tatsächlich zu Felice Bauer nach Berlin, sie versuchen, zusammen spazieren zu gehen, doch es klappt nicht.“ Im April meldet sich Kafka „zum freiwilligen Arbeitsdienst beim Gemüsebauern und jätet nachmittags Unkraut, um seinen ‚Burn-Out’ zu therapieren“, im Juni stellte er „eine Art Heiratsantrag, der schiefgeht“, im November geht er „ins Kino und weint“, Wie die Vorschau zu einigen anderen Kapiteln kündigt die zum Dezember nichts zu Kafka an, aber Illies berichtet weiterhin über ihn: Felice Bauer antwortet ihm nicht mehr.

Die Machart des Buches gleicht ein wenig der des im Januar 1911 erschienenen Simultan-Gedichts „Weltende“ von Jakob van Hoddis: in der komisch-grotesken Aneinanderreihung etwa gleichzeitiger, doch ganz unterschiedlicher Begebenheiten, die man da liest. „Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. / Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.“ Angesichts der bevorstehenden Katastrophe des Ersten Weltkrieges im Jahr 1914 wirken die vielen Ängste und anderen Leiden, die Illies beschreibt, ähnlich banal wie die Zeichen des Untergangs in „Weltende“. In dem Kapitel zum März 1913 steht der lapidare Eintrag: „Rainer Maria Rilke hat Schnupfen.“ Und wenn sich van Hoddis mit dem Gedicht auf die abstrusen Weltuntergangsängste im Zusammenhang mit der bevorstehenden Wiederkehr des Halleyschen Kometen bezog, glossiert Illies die abergläubischen Ängste vor der Zahl 13: „Arnold Schönberg hält den Atem an angesicht der Unglücksahl.“ Als der Erfinder der Zwölf-Ton-Musik, die aus dem Schrecken vor dem, was danach kommen würde, geboren wurde, „mit Entsetzen bemerkte, dass seine Oper über Moses und Aaron 13 Buchstaben haben würde, strich er Aaron das zweite a, und so heißt sie seitdem ‚Moses und Aron‘.“

An das Jahr 1913 im Hinblick auf Kafka zum Beginn des Jahres 2013 zu erinnern, geht allerdings über Banalitäten weit hinaus. 1912 entstehen die Erzählungen „Das Urteil“ und „Die Verwandlung“ sowie das erste Kapitel („Der Heizer“) des Amerika-Romans „Der Verschollene“. „Das Urteil“ und „Der Heizer“ erscheinen 1913.  Die Jahre 1912 und 1913 sind für Kafka Jahre des literarischen Durchbruchs zu einer ihm gemäßen Form von Literatur, die heute seine Bedeutung ausmacht und die dem Autor Weltruhm verschafft – allerdings erst sehr viel später, doch dafür umso nachhaltiger. Die Geschichte dieser bemerkenswerten literarischen Karriere eines zu Lebzeiten kaum bekannten Prager Schriftstellers skizziert in dieser Ausgabe von literaturkritik.de der Beitrag von Dieter Lamping. Was an der prekären Liebesbeziehung Kafkas zu Felice Bauer, die er am 13. August 1912 im Elternhaus seines Freundes Brod kennen lernte, der er am 20. September den ersten von zahllosen Briefen schrieb und an die er im Juni 1913 den vielleicht seltsamsten Heiratsantrag schickte, der je geschrieben wurden, was daran typisch für ihn und sein Schreiben wurde, zeigt ein weiterer Essay über die ganz unheroischen Eigentümlichkeiten von Kafkas Protagonisten. Und etliche Rezensionen in dieser Ausgabe zu Neuerscheinungen über Kafkas Werk demonstrieren einmal mehr, dass das Interesse an Kafka nicht nachlässt.