Staffelwechsel in der Exilforschung

Claus-Dieter Krohn und Lutz Winckler haben den 30. Band des internationales Jahrbuches „Exilforschung“ herausgegeben

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Titel „Exilforschungen im historischen Prozess“ verortet sich der 30. Band des internationalen Jahrbuches „Exilforschung“ nicht nur thematisch, sondern auch konzeptionell. Die Herausgeber – Claus-Dieter Krohn, Lutz Winckler und bis vor kurzem Erwin Rotermund –, die seit Jahrzehnten im Dienste des Jahrbuches stehen und dieses zu einer Institution der Exilforschung etablierten, blicken zurück zu den Anfängen, lassen die Geschichte der Exilforschung in verschiedenen europäischen Ländern Revue passieren, ziehen Bilanz dieser Arbeit und stellen den jetzigen Stand und die künftige Forschungsperspektiven vor.

Es ist ein historischer Band, der viele Pioniere der Exilforschung wie beispielsweise Helmut Müssener, Jan Hans, Anthony Grenville zu Wort kommen lässt. Reflektiert und analytisch werden Schwierigkeiten und Erfolge auf dem Gebiet der Exilforschung dargelegt. Sie veranschaulichen eine breite gesellschafts-politische und kultur-historische Verflechtung im geteilten Nachkriegsdeutschland, in den USA und in vielen europäischen Ländern. Eine Vollständigkeit im Rückblick auf die vergangenen 30 Jahre wird aber nicht angestrebt. Gleich im Vorwort wird darauf hingewiesen, dass „ein systematischer Überblicksartikel zur Entwicklung der Forschung in Deutschland“ und weitere ursprünglich geplanten Beiträge fehlen. Und in der Tat werden Lücken sichtbar, die sich beispielweise aus dem Fernbleiben der US-amerikanischen Forscher in diesem Band ergeben. Claus-Dieter Krohn versucht diese in seinem Beitrag „Anfänge der Exilforschung in den USA“ zu schließen und erörtert die Besonderheit der Exilforschung in den USA, dem traditionellen Einwanderungsland. Vergleichbar mit der Exilforschung in Europa ist hervorzuheben, dass, abgesehen von vereinzelten Publikationen unmittelbar nach 1945 – der Berichte der Exilanten und der zu ihrer Unterstützung ins Leben gerufenen Institutionen –, ein breites Forschungsinteresse am Exil in den USA erst ab Mitte der 1960er-Jahre zu verzeichnen war. Bewirkt wurde dieses im Zuge „der Eskalation des Vietnam-Krieges und der wachsenden Sensibilität für den ‚ethnic pluralism’“. Nach einer kurzen, Enzyklopädie artigen Vorstellung der wichtigsten Studien, „Guides“, Archive und Sammelaktivitäten (insbesondere sei auf Verdienste von John Spalek hingewiesen), die als Grundstein der Erforschung des Exils gelten, wird deutlich, dass die Exilforschung in den USA, wie auch in anderen Ländern, größtenteils als Exilliteraturforschung verlief, und man bestrebt war, „die akademische Erforschung des Exils von dem moralisch geschützten Sonderstatus zu befreien.“ Für die künftige Exilforschung plädiert Krohn für den „Anschluss an die mittlerweile etablierte Emigrationsforschung mit ihrem paradigmatischen Akkulturationstheorem“.

In seinem leicht melancholisch verfassten Beitrag „Die Stockholmer Koordinationsstelle zur Erforschung der deutschsprachigen Exilliteratur 1969 bis 1975“ schildert Helmut Müssener die Anfänge der Exilforschung in Schweden, die er, ein junger Doktorand unter der enthusiastischen Regie und in der „diktatorische[n] Vorgehensweise“ Walter A. Berendsohns, mitbegründete. Dieser Beitrag gewährt Einblicke hinter die Kulissen, zeichnet einen vom Idealismus getragenen Aufstieg der Exilforschung und ihr nicht zuletzt den menschlichen Schwächen zuzuschreibendes Scheitern. Wie entscheidend der menschliche Faktor ist, thematisiert auch Ernst Fischer am Beispiel der Exilliteratur in den deutschsprachigen Verlagen. Insbesondere im Hinblick auf den Verlag Kurt Desch wird deutlich, dass die Exilliteratur dort „als Exilliteratur in den falschen Händen gelandet war“. Neben den Besonderheiten auf dem Buchmarkt in der DDR („die nie abreißende Rezeption der Exilliteratur“), der BRD (Dominanz der Werke der „Inneren Emigration“) und in Österreich (Fokus auf fast ausschließlich österreichische Schriftsteller) zeigt Fischer auf, wie nicht zuletzt der Transfer der Verlagsrechte (Zuständigkeit der US-amerikanischen Behörden), die praktische Unmöglichkeit der Überweisung der Honorare durch die DDR-Verlage an die Exilautoren ins Ausland oder der ungeschriebene Zwang, sich als Exilautor für Ost oder West zu entscheiden – Oskar Maria Graf schrieb 1956 an Walter Janka: „Zudem ist es doch so, daß jeder Autor, der in der DDR verlegt wird, stillschweigend in der Bundesrepublik geächtet wird.“ – die Verlagsprogramme prägten.

Die nächsten fünf Beiträge beleuchten die Geschichte der Exilforschung in Österreich, Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien und in China. Die ganze Breite der Publikationsorgane, Forschungsinstitutionen und -richtungen, Erfolge und Desiderata sowie Gemeinsamkeiten und Besonderheiten im jeweiligen Land werden aufgelistet, so dass ein für die Geschichtsschreibung der Exilforschung unverzichtbares Detailwissen zusammengetragen und zur Verfügung gestellt wurde.

Die letzten vier Beiträge lassen sich insofern auf einen gemeinsamen Nenner bringen, als sie sich auf die vorausgegangene Exilforschung beziehen und einige bisher wenig berücksichtigten Aspekte beleuchten. Martin Münzel geht beispielsweise auf Unternehmeremigration, ein zu Unrecht vernachlässigtes Thema der Exilforschung, ein und veranschaulicht, dass in diesem Bereich vielversprechende Erkenntnisse zu erwarten sind: „Aufschlüsse über das Aufeinandertreffen verschiedener Kapitalismusmodelle, Wirtschaftssysteme und Unternehmenskulturen.“

Wiebke von Bernstorff zieht Bilanz der Genderforschung innerhalb der Erforschung des Exils und plädiert für eine Wiederaufnahme der historisch-politischen Perspektive. Sie betont die Notwendigkeit, die noch ausstehende Männerforschung in die Exilforschung zu integrieren, weil diese das Potenzial hat, „Dichotomien grundsätzlicher infrage zu stellen und Anschlüsse für aktuelle politische Fragen in der Migrationsforschung und den Queer Studies zu eröffnen“. Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein schlagen in ihrem gemeinsamen Beitrag den Bogen von klassischen Exilwerken zu Gegenwartstexten, in denen bei der Verhandlung des Exils das nationale Paradigma unterlaufen wird. Dadurch sollen „spezifische Schreibweisen […], die eindimensionale Perspektiven und referenzialisierende Fluchtpunkte zur Disposition stellen“, stärker berücksichtigt werden. Somit sind einige Forschungsperspektiven angedeutet.

Die Herausforderung der Globalisierung, die Positionierung zu aktuellen theoretisch-methodologischen Ansätzen und ihr kritisches Hinterfragen, die Historisierung der Exilforschung und eine neue Generation der Exilforscher prägen den Staffelwechsel in der Erforschung des Exils. Künftig übernimmt Doerte Bischoff, die Leiterin der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur, die redaktionelle Verantwortung für das Exiljahrbuch. Es wird sich zeigen, inwieweit dieser Staffelwechsel zu einem Paradigmenwechsel der Exilforschung wird.

Titelbild

Claus-Dieter Krohn / Lutz Winckler (Hg.): Exilforschung im historischen Prozess. Band 30.
edition text & kritik, München 2012.
350 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783869162119

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