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Thomas Meinecke hält Poetikvorlesungen, wie sie die Welt noch nicht gelesen hat

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keine Frage, Poetikvorlesungen sind ein Ritual. Dichter oder Dichterin erklimmen ein mehr oder weniger renommiertes Podium und erklären über eine Reihe von Abenden hinweg, was sie zum Schreiben bewegt und wie sie ihr Innen- und Außenleben in eine Kladde, auf ein Schreibmaschinenblatt oder in eine Textverarbeitungsdatei bannen. In der Tendenz hat dieses Ritual etwas Offenbarendes. Endlich, so geht es, führt man uns Leser in des Dichters und der Dichterin „geheimere Werkstätte“ (Johann Wilhelm Ritter). Wir erfahren etwas über ihn oder sie, was wir so noch nicht wussten. Das Vortragsmanuskript lässt sich, leicht überarbeitet, zwischen zwei Buchdeckel pressen, und das wird dann auch gern gemacht.

Wenn es einen Inbegriff dieses Rituals gibt, sind es die Frankfurter Poetikvorlesungen. Seit Ingeborg Bachmann 1959 fünf – übrigens sehr lesenswerte – Vorträge zu den „Problemen zeitgenössischer Dichtung“ hielt, lädt die Universität mit Unterstützung verschiedener Verlage die Crème deutschsprachiger Autoren dazu ein, die oben besprochenen Einblicke zu geben. Wie bereichernd dies ist, ob man Platitüden oder tatsächlich neue Einsichten zu hören bekommt, steht und fällt mit den Vortragenden. Bachmanns Vorlesungen oder Peter Bichsels „Der Leser. Das Erzählen“ (1982) möchte man jedenfalls nicht missen. Aber ob das auf alle Frankfurter Vorträge zutrifft?

Mit seinem Roman „Lookalikes“ könnte man sagen: Thomas Meinecke ist jetzt ein Poetikdozent. Und, das fällt als erstes auf: Er verweigert sich den Gepflogenheiten. Und auch wieder nicht. Was er im Januar und Februar 2012 an fünf Dienstagen im Frankfurter Westend vorgetragen hat, war weder neu, noch ließ sich der Dichter in seine Seele blicken. Denn daran glauben schon seine Texte nicht. Vielmehr legte Meinecke Platten auf und verlas dann Sekundärliteratur zu seinen Romanen: Rezensionen, Interviews, Magister- und Doktorarbeiten. Fünf Abende waren es für fünf Romane, von „Tomboy“ (1998) bis „Lookalikes“ (2011). Ältere Werke wie die Prosasammlung „Holz“ oder der Roman „The Church of John F. Kennedy“ (1996) blieben außen vor – vielleicht, weil Meinecke erst mit „Tomboy“ zu jener Arbeitsweise gefunden hat, die zu seinem Markenzeichen geworden ist.

Dass hier „nur“ Textrecycling betrieben wird, ist auf den ersten Blick ebenso konsequent wie ärgerlich. Ärgerlich, weil sich Meinecke nicht nur dem Ritual der Poetikvorlesung verweigert, sondern auch dem „intimen“, „offenbarenden“ Sprechen, das man mit diesem Genre gemeinhin verbindet. Stattdessen Texte, die man auch anderswo nachlesen könnte. Konsequent ist er, insofern er jene Metaphern umsetzt, die man mit seinem Schreiben ohnehin verbindet, und die auch in den verlesenen Texten beständig wiederkehren: Da ist von Sampling die Rede, vom Groove der Texte, vom Autor als DJ, der die vorhandenen Zitate beständig neu zusammensetzt und erst dadurch etwas Eigenes erschafft. Eine Ästhetik der Oberfläche ist das, in der die einzelnen Figuren keinerlei Tiefgang gewinnen. Dafür verketten sie heterogenste Bestandteile wie die Schriften Jacques Lacans, Hubert Fichtes ethnografische Versuche, Miami House und Spekulationen über Mariah Careys Hautfarbe zu einem dichten Geflecht von Verweisen, in dem man sich als Leser mit Lust treiben lassen kann – wenn man denn diese Art von Literatur goutiert, die zwischen Theorie und traditionellem Erzählen schwebt und sich konventionelleren Formaten verweigert. Keine Entwicklungsromane, keine Beziehungsgeschichten, und um Dresdner Familien am Ende der DDR geht es schon gar nicht.

Indem Meinecke fünf Abende beispielsweise fünf Buchkapitel lang nichts anderes macht als Sekundärliteratur zu seinen Texten zu verketten, wendet er seine erprobte Arbeitsweise auf einen unerprobten Gegenstand an: sich selbst, seine Bücher. Damit entzieht er sich bequem dem Ritual der Poetikvorlesung. Und führt doch gerade dadurch vor, wie seine Texte entstehen. Wenn – bei allem Unterschied im Gegenstand – der „Echolot“-Zyklus, zu dem Walter Kempowksi kein einziges eigenes Wort beigesteuert hat, ein Kunstwerk ist, dann ist „Ich als Text“ auch eines: die Kunst liegt in der Montage, im Erzeugen eines Grooves, der Herstellung von Bezügen zwischen den Textsplittern durch geschickte Kombination. Dass Meinecke dabei so viele Quellen auffährt (vermutlich ein Vielfaches dessen, was er an den entsprechenden Abenden verlesen hat), wirkt zunächst übertrieben. Man fragt sich: Warum denn jetzt noch einen Artikel, noch ein Interview, noch ein Absatz aus einer Qualifikationsarbeit? Ganz einfach: weil die Texte miteinander kommunizieren. Man merkt, wer voneinander abschreibt, wie Rezensenten im Laufe der Zeit ihre Meinung ändern, wie bestimmte Topoi entstehen, sich verfestigen, sich wieder auflösen, wie sich auch Meineckes Reflexionen über die eigene Arbeit immer wieder verschieben. Und zumindest in den früheren Kapiteln wird immer wieder die gleiche Bewegung spürbar – sie verläuft von der Tagespresse hin zum akademischen Diskurs. Und das ist auch nur konsequent: Wo literaturwissenschaftliche Texte zum Gegenstand des Romans werden, lässt er sich auch wieder an akademische Diskurse anschließen.

Die Ausnahme ist das 2011 erschienene „Lookalikes“, das zum Zeitpunkt der Vorlesungen nur einige Monate auf dem Markt und einfach noch nicht in den heiligen Hallen der germanistischen Verwurstung angekommen ist. Dafür kann man nachlesen, wie Thomas Meinecke sich in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 7. und 8. Januar 2012 seine Frankfurter Poetikvorlesungen vorstellt, nämlich als „ein Patchwork […] aus Texten, die schon mal irgendwo veröffentlicht worden sind. […] Es sind auch Verrisse dabei. Aus denen erfährt man oft gut, wie ich arbeite. Wenn ich etwas neu geschrieben hätte, wäre ich bei einem zu hohen Ton gelandet. Davor hatte ich Angst“. Und so bekommt das Buch auf den letzten Seiten sogar noch nicht selbst ins Blickfeld. Konsequenter geht es nicht.

Akademische, feuilletonistische und literarische Diskurse drehen sich in der Endlosschleife, aber das macht bei der Lektüre viel Spaß, vor allem, wenn man Meineckes Schreiben schon bisher gespannt verfolgt hat. Wer sich als Kultur- oder Literaturwissenschaftler mit Thomas Meinecke auseinandersetzen will, kommt um „Ich als Text“ als Materialsammlung ohnehin nicht herum. Nicht, weil sie erschöpfend wäre, sondern weil sie zeigt, wo man weiter nachlesen kann. Und ein prima Kompendium zu fünfzehn Jahren Meinecke-Rezeption ist das Buch sowieso. Damit ist das Buch dann doch wieder auf etabliertem Boden angekommen. Aber ganz anders, als man sich das vorgestellt hat. Man darf gespannt auf den nächsten Roman sein. Welche Diskurse in ihm genau verknüpft werden, kann man noch nicht sagen. Aber wie er geschrieben sein wird, das weiß man jetzt schon.

Titelbild

Thomas Meinecke: Ich als Text. Frankfurter Poetikvorlesungen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
349 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126516

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