„Mehrheimatlich-polypatriotisch verheddert“

Ein von Christine Meyer herausgegebener Band wirft postnationale Perspektiven auf die deutschsprachige Literatur

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einen „mehrheimatlich-polypatriotisch Verhedderten“ nannte sich Paul Celan in einem Brief vom 23.11.1966. Celans beiläufige Notiz stellt eine postnationale Identität fest, in der viele Kulturen ihren Platz haben. Bei Celan kommen vor allem die ukrainisch-russische, die rumänische, die habsburgische, die französische Tradition zusammen. Er hat aber, Gedichte wie Briefe, bewusst auf deutsch geschrieben. Die deutsche Sprache ist – ebenso wie die deutschsprachige Literatur Celans, Canettis, Kafkas, Ilma Rakusas, Yoko Tawadas und anderer „Chamisso-Autoren“ (Harald Weinrich) – weitaus mehr und gänzlich Anderes als die Literatur innerhalb der Grenzen eines geografisch oder national ,geschlossenen‘ Kulturraums.

In diesen transnational offenen Raum deutscher Literatur stellt die Germanistin Christine Meyer den Begriff der „kosmopolitischen ,Germanophonie‘“. Aufbauend auf einer internationalen Tagung in Amiens, umfasst dieser Kunstbegriff ein Arsenal von kulturwissenschaftlichen Merkmalen, mit denen Grenzüberschreitungen in der Literatur, Traditionslinien transkulturellen Schreibens, postnationale Weiterentwicklungen der deutsch-türkischen Literatur und der Migrantenliteratur, Raum- und Identitätsbildungen und Narrative der europäischen Gedächtniskultur vermessen werden.

Was kann man nun mit dem Begriff der „kosmopolitischen ,Germanophonie‘“ anfangen? Der Herausgeberin ist vor allem daran gelegen, eine beschönigende oder harmonisierende Blickweise auf die nichtdeutschen Kultureinflüsse zu vermeiden und die Differenzen im Kulturtransfer zu berücksichtigen: etwa die fremde Nähe bei Übersetzungen, die Wahrnehmungsirritationen beim postkolonialen Schreiben über Heimat und Region. Die „Germanophonie“ ist ein kritisch-freundliches, nichtexklusives Bekenntnis zur deutschen Sprache und Kultur, das die in Deutsch als „zweiter Muttersprache“ (Marica Bodrožić) Schreibenden einschließt, aber Autoren deutscher Herkunft nicht ausschließt. So trägt der Österreicher Josef Winkler mit seinen Indien- oder Japan-Büchern zu einer „gegenseitigen Stärkung von (Anti)Heimat- und Weltliteratur“ bei, wie Bernard Banoun in einem anregenden Aufsatz aufzeigt. Diese transeuropäische Perspektive öffnet die germanophone Literatur für Anschlüsse an das aus den Sprachkonflikten des 18. Jahrhunderts hervorgehende, in der Moderne mit weltbürgerlichem Ethos versehene kosmopolitische Denken. Demzufolge sollte man nicht vorschnell von einer „Bereicherung“ der deutschen Kultur durch nichtdeutsche Herkunftskulturen sprechen, bevor man diese Fremdkulturen nicht entdeckt hat. Das wiederum setzt die „Bereitschaft voraus, sich vom Anderen verändern zu lassen“, so heißt es in der Einleitung in Anlehnung an Zafer Şenocak. ,Germanophonie‘ ist auch eine Kategorie von Ethik und „transnationaler Anerkennung der Menschenrechte“ (Paul Michael Lützeler).

Solange die ,Germanophonie‘ kosmopolitisch ist, gibt es in ihr viele Heimaten, Muttersprachen, Vaterländer. Der „Chamisso-Autor“ ist ein literarischer Weltbürger; was ihm an Kindheitserfahrungen in der deutschen Muttersprache fehlt, gleich er durch die verlangsamte und „vertiefte Erfahrung erlebter Andersheit und Fremdheit“ (Weinrich) aus. So gesehen, erzeugt die ,mehrheimatliche Verhedderung‘ ein neues und reiches kulturelles Netzwerk.

Titelbild

Christine Meyer (Hg.): Kosmopolitische ,Germanophonie‘. Postnationale Perspektiven in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
400 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783826049347

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