Bilder des Ruins

Herman Bangs „Tine“ erzählt von (zwischen)menschlichen Abgründen in Zeiten des nationalen Niedergangs

Von Julia IlgnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Ilgner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem Höhepunkt seines Ruhms in den 1920er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zählte Herman Bang (1857-1912) zu den meistgelesenen Dichtern Europas. Seine Fürsprecher fanden sich unter denselben: Harry Graf Kessler, Hugo von Hofmannsthal, Herman Hesse, Thomas Mann – sie alle schätzten die „ganz eigene und merkwürdig starke, sinnenfrohe“ Kunst des Romanciers (Kessler), eine Art dänischer Oscar Wilde, der seine Homosexualität, wenn schon nicht offen auslebte, so doch durch extravagantes Betragen provokativ zu inszenieren wusste. 1919, 1926 und noch einmal 1935 erschienen großaufgelegte Ausgaben seiner Werke, dann nahm das Interesse rapide ab. Einzelne Versuche, diese „Karteileiche der Literaturgeschichte“ wiederzubeleben (Maar), blieben ohne Erfolg. Erst in den 1990er-Jahren bereitete sich eine allmähliche Rehabilitierung vor (unter anderem mit Ulrich Sonnenbergs Übersetzungen im Inselverlag), die auch populäre Formen nicht scheute: Bangs Landsmännin Dorrit Willumsen schrieb 1998 einen fiktionalbiografischen Roman über das Leben des exzentrischen Dichters, den Kiepenheuer & Witsch in Deutschland verlegte, wenn auch mit mäßigem Erfolg. Seit einigen Jahren nun betreibt der Züricher Manesse Verlag das ambitionierte Projekt einer Wiederauflage der Romane in neuer Übersetzung. Sukzessive sind mit „Stuck“ (2005), „Am Weg“ (2006) und „Sommerfreuden“ (2007) einige der bedeutendsten Romane und Erzählungen in bibliophilen und lesefreundlichen Ausgaben erschienen.

Für die Übersetzungen zeichnet Aldo Keel, promovierter Skandinavist und renommierter Mittler zwischen den Kulturen, verantwortlich – im Fall des 1889 erschienenen Romans „Tine“ gemeinsam mit seiner Frau Ingeborg Keel. Erst der Vergleich mit den vorangegangenen Übertragungen (E. Weise, 1903, Bernhardt Schulze, 1965, und zuletzt Irma Entner, 1982) verdeutlicht, wie sehr die Prosa Bangs einer behutsamen, stilbewussten Übersetzung bedarf. Keels Übertragung bietet dem ruhigen, melancholischen Ton der Vorlage eine Entsprechung im Deutschen. So wird etwa versucht, die sprachliche Charakterisierung einzelner Figuren (die im Original Jütländisch sprechen) nachzubilden. Ein behutsames Begriffsglossar sowie ein Nachwort ergänzen die Ausgabe und fungieren als Lesehilfe für den nicht nur für Erstleser gelegentlich auch hermetischen Text. Bang schien sich der irritierenden Wirkung seiner ganz auf die Innerlichkeitsdimension der Figuren abzielenden Sprache („Tine“ war sein dritter Roman) bewusst gewesen zu sein, stellte er dem Text doch umfassende Vorbemerkungen voran: Gewidmet ist das Buch, so erläutert der Dichter, seiner verstorbenen Mutter, deren Namen es trägt. Und in der Mutteransprache verbirgt sich dann auch der memoriale Anspruch, mittels Sprache dem Vergessen Einhalt zu gebieten. Was folgt, ist ein Abgesang auf eine verlorene (und wohl bald auch vergessene) Zeit.

Die Geschichte spielt auf der Insel Alsen, ganz im Südosten des heutigen Dänemark in unmittelbarer Nähe zur deutschen Grenze, wo Bang selbst 1857 geboren wurde und die Verwüstung seiner Heimat miterlebte: der Ausbruch des deutsch-dänischen Krieges 1864, in dem das preußisch-österreichische Heer gegen die Truppen Christians IX. marschierte und die Dänen in der Schlacht bei den Düppeler Schanzen vernichtend schlug. Die Ahnung kommenden Unglücks prägt schon den Auftakt der Erzählung, die mediis in rebus mit einer dramatischen Aufbruchsszene einsetzt: Im Angesicht der drohenden Kriegsgefahr lässt Forstmeister Berg seine Familie, die Ehefrau Marie und den kleinen Sohn Herluf, in die Hauptstadt, nach Kopenhagen, evakuieren. „Dann bringen Sie noch alles in Ordnung“, ruft Frau Berg besorgt Tine nach, die halb Freundin, halb Gehilfin für sie ist – eine Bitte von vorausweisender Bedeutung: Die Ordnung hat längst begonnen, sich aufzulösen und am Ende wird kaum mehr etwas so sein wie zuvor. Nur vordergründig bestimmt die Mesalliance zwischen Bauernmädchen und Herr das Geschehen. Vielmehr spiegelt sich im individuellen Schicksal die gesamtgesellschaftliche Krisen- und Verlusterfahrung, das ganze nationale Debakel.

Die Liebe wächst allmählich, geheimnisvoll, auf eine unschuldige, fast unbewusste Art. Erst als Tine gedankenverloren über einem Brief an Frau Berg sitzt, erkennt sie: „Ja – es handelte vom Forstmeister, alles, jeder einzelne Satz – alles.“

Die beiden Frauen könnten unterschiedlicher kaum sein. Frau Forstmeister: unpragmatisch, verwöhnt, ein „Stadtkind“, dem „alles missglückt“. Ganz anders die Küstertochter Tine Bølling: ein gesundes, vitales und von Grund auf gütiges und hilfsbereites junges Mädchen, das obschon „so lebenslustig“, „wahre Tränenströme über Büchern vergießen“ konnte. Sprachmächtig schildert Bang, ganz Impressionist, was im Roman kaum gesprochener Worte bedarf („Zwischen dem Forstmeister und ihr wurden ohnehin nie allzu viele Worte gewechselt“, heißt es an einer Stelle), was in dem empfindsamen Geschöpf jedoch mächtig widerhallt.

Gleichwohl ist der Roman keine simple Betrugs- und Ehebruchsgeschichte. Beide Betroffenen leiden, nicht zuletzt auch an ihrem Verhältnis zu Marie. „Ja – auch die Frauen haben ihr Teil zu tragen“, lässt Bang einen Außenstehenden sagen: Der Krieg geht alle etwas an. Und so nimmt es kaum Wunder, dass der nationale Zusammenbruch im Roman eine zentrale Rolle einnimmt, stellenweise dominiert der Krieg die Handlung gar und hebt alle Banalitäten des Lebens auf – nichts anderes hat mehr Raum oder Bedeutung.

Dies ist Teil der poetologischen Überzeugung des Autors und damit ästhetisch unverzichtbar: „‚Lebendig‘ machen, das ist das schwierige – und sicherlich oft verfehlte – Ziel. Aber das Lebendige ist doch Bewegung und Vielfalt. […] Nur Vielfalt und Bewegung können mir ein Abbild des Lebens geben. Sie sind die Mittel, die ich nicht aufgeben kann.“

Resultat dieses verweigerten Verzichts ist ein getreues Epochenbild bis in die Nebenfiguren hinein – wie etwa die übrigen Mägde der Forstmeisterei oder die wenngleich gutmütige, so doch naive und bisweilen enervierende Mutter Tines. Eigens an solchen Figuren artikuliert sich dann auch die latent antireligiöse, zumindest aber antiklerikale Stoßrichtung des Romans; sei es am Beispiel des die Realumstände völlig missdeutenden Pastors oder am Beispiel des Küsters, Tines Vaters, dessen prophetisches „Gottes Wille geschehe“ im Auftaktkapitel wie ein zynischer Kommentar zur nachfolgenden Handlung anmutet.

„Es ist vielleicht nicht allzu klug, ein Buch auseinander zu nehmen, um zu zeigen, was darin und dahinter steckt. Ein jedes Stück Kunst sollte möglichst frei stehen und für sich selbst sprechen“, konstatiert der Auto kühl im eingangs zitierten Vorwort – um anschließend Motivation und Einflüsse rückhaltlos offenzulegen! Da Kunst niemals kontextlos ist, sei an die Vorgängerinnen und Schwestern Tines erinnert, an Goncourts „Germinie Lacerteux“ und die vielen Seelenverwandten in Bangs eigenem Werk – von Katinka Bai in „Am Weg“ über Frau Brasen in „Sommerfreuden“ oder Irene Holm in der gleichnamigen Erzählung. Dass die intime Schilderung jener „stillen Existenzen“ immer auch das eigene Epochengefühl sezierte, bestätigt die Reaktion der Zeitgenossen, allen voran Rilke, der als Fürsprecher Bangs früh „diese weiße Frau, diese kindhafte Mutter“ in ihrer Tragik anerkannte. Um dem großen Dänen ein weiteres Entschwinden in literaturhistorische Tiefen zu ersparen, mögen es die Nachgeboren indes mit einem anderen Zeitgenossen halten: „Besser die Leute reden einen tot, als sie schweigen einen tot.“ – So denn, reden wir wieder!

Titelbild

Herman Bang: Tine. Roman.
Mit einem Nachwort von Aldo Keel.
Übersetzt aus dem Dänischen von Ingeborg und Ado Keel.
Manesse Verlag, Zürich 2011.
320 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783717522409

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