Ein anderer Realismus

Brahim Moussas Lektüre der Heterotopien bei Stifter und Raabe

Von Natalie MoserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalie Moser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Brahim Moussas literaturwissenschaftliche Dissertationsschrift „Heterotopien im poetischen Realismus. Andere Räume, Andere Texte“ tritt an, die Forschungslücke zum im Titel genannten Thema zu schließen. Die Heterotopien sollen „ein anderes Gesicht des Realismus, einen entautomatisierten poetischen Realismus“ zum Vorschein bringen. In Rückgriff auf Foucaults Heterotopie-Begriff wird anhand von vier Erzählungen gezeigt, welche Gesichter des poetischen Realismus die Untersuchung der anderen Räume, Heterotopien, zutage fördert.

Eine längere Einleitung eröffnet die Studie und widmet sich philosophischen, literatur- und kulturwissenschaftlichen Thesen zum Raum. Sie nimmt ihren Anfang bei der Gegenüberstellung von Raum und Zeit in Lessings „Laokoon“ und endet mit dem Verweis auf andere realistische Texte, wo Raumstrukturen das Erzählen okkupieren. Indem sich Moussa mit dem europäischen Realismus und dem spatial turn auseinandersetzt, nähert er sich langsam seinem Untersuchungsgegenstand an.

Im ersten Kapitel werden die Heterotopien in Hinblick auf Raumkonzepte und Literatur diskutiert. Dass der Raum nicht statisch sei, sondern aufgrund von und in unterschiedlichsten Praktiken stattfinde, zeige sich an textinternen Heterotopien, so Moussa. Diese Begriffsverwendung widerspricht auf den ersten Blick Foucaults Überlegungen zum Heterotopos. Wie Moussa zeigt, nimmt Foucault eine zweifache Bestimmung des Heterotopos vor: einerseits als real-existierende und andererseits als textuelle Größe. Diese Doppelung spiegelt sich in den Anwendungsschwierigkeiten beziehungsweise Interpretationsansätzen des Heterotopie-Konzepts wider.

Anhand der Sekundärliteratur zum poetischen Realismus zeigt Moussa in Folge auf, dass das Verhältnis von Raum und realistischem Erzählen neu bedacht werden muss. Denn trotz inflationärer Rede von Grenzziehungen erfahren die Heterotopien im Vergleich zum Referenzraum wenig Beachtung. Die anderen Räume präsentieren keine neue Ordnung von Dingen, sondern stellen die Ordnung der Dinge im Referenzraum in Frage. Statt dass im Erzählen eine Versöhnung oder ein (desillusionierter) Ausgleich stattfindet, greifen die Krisen aufgrund der Infragestellung von Ordnung auf die Ebene des Erzählens über.

Nach den theoretischen Ausführungen zu den Heterotopien widmet sich Moussa Stifters „Der Hochwald“ (1842) und „Der Nachsommer“ (1857) sowie Wilhelm Raabes „Die Akten des Vogelsangs“ (1896) und „Das Odfeld“ (1889). Anhand von vier, den (poetischen) Realismus rahmenden Erzählungen wird vorgeführt, dass die Untersuchung von Heterotopien nicht nur literarische Texte, sondern eine literarische Strömung im 19. Jahrhundert neu lesbar macht.

In Stifters „Hochwald“ scheint die Raumstruktur eine klare Zuordnung von gut und böse zu ermöglichen. Dem Dreißigjährigen Krieg ist der Waldfrieden, der Menschenmenge die Einsamkeit und dem Ehrgeiz die Geduld gegenübergestellt. Nimmt man die Antagonismen unter die Lupe, lösen sich die Gegensätze allerdings auf: Die Natur ist in ihrer Ruhe verstörend, der Wald wird trotz Schutzfunktion zum Gefängnis. Der Umschwung von der idealisierten zur dämonischen Natur vollzieht sich parallel zum reduzierten Handlungsverlauf der Erzählung. Gemäß Moussa wird in der Umkehrung des locus amoenus zum locus terribilis die romantische Heterotopie Wald depotenziert. Neben Sagen und Märchen buhlen das Fernrohr und technische Errungenschaften um das richtige Wirklichkeitsverständnis. Die rekultivierte Natur am Ende der Erzählung ist alles andere als eine Versöhnung von Gegensätzen, sondern verleiht einer abgründigen Resignation Ausdruck.

Das Rosenhaus in Stifters „Nachsommer“ fungiert als Kulturraum im Naturraum, wo an der Stelle der idyllischen Zirkularität der Stillstand und statt Handlungen eine Diskurs(ver)sammlung vorherrscht. Diese Heterotopie, Raum der Mystik und des Todes, steht für den Verfall romantischer (Wert-)Vorstellungen. Anhand des Rosenhauses kann das Scheitern des Historismus – die groß angelegte Sammel- und Restaurationstätigkeit des 19. Jahrhunderts – erzählt werden. Ein detailverliebtes Erzählen sowie eine sachliche Sprache bringen die Funktion der Natur im Text – nunmehr als Gegenstand der (Natur-)Forschung – zur Darstellung. Statt dass die Erzählung bei einer rekultivierten Natur endet, wird das Scheitern der Restauration der Natur innerhalb der Kultur vorgeführt. Die Wiederherstellung der Harmonie fordert ihre Opfer: Die Jugendliebe zwischen Risach und Mathilde findet in den beiden Alten und in Heinrich und Natalie nur ein schwaches Echo. Der Liebeszauber wird zum Ehealltag, Transzendenz weicht pragmatischer Immanenz und detaillierter Wiederholung.

Konstatiert Moussa bei Stifter anhand der Heterotopien Wald und Rosenhaus ein Destruieren und Zerstören romantischer Topoi, macht er bei Raabe eine Absage an das realistische Erzählen aus. Statt einer zentralen Heterotopie sind Raabes Texte von Heterotopien durchzogen. Der Referenzraum ist in Heterotopien zerfallen, die Vernichtung verweist nicht mal mehr auf ihr Gegenstück.

In Raabes „Akten des Vogelsangs“ versucht der Protagonist den Lebensweg seines Jugendfreundes wirklichkeitsgetreu niederzuschreiben. Indem er Letzterem auf den Wegen der Erinnerung nacheilt, verstrickt er sich in die anderen Räume des Freundes. Der Weg nach Innen, zu den erinnerungsgesättigten Interieurs, führt immer weiter weg von der Realität. Den Erinnerungsgegenständen wird nicht nur als (Erinnerungs-)Zeichen, sondern auch als Dinge eine Absage erteilt. Dies führt die groß angelegte Vernichtungsaktion im Elternhaus des Jugendfreundes vor. Das realistische Erzählen entledigt sich seiner Gegenstände, die einzelnen Heterotopien können nicht mehr auf einen gemeinsamen Gegensatz – den Referenzraum – reduziert werden. Selbstreferenziell stellen die Heterotopien dar, dass der Verweisungszusammenhang aufgekündigt wurde.

War in Stifters „Hochwald“ der Krieg eine diffuse Bedrohung, wird in Raabes „Odfeld“ ein Binnenraum des Krieges narrativ ausgeleuchtet. Sämtliche Figuren befinden sich in Heterotopien, die untereinander wiederum verknüpft werden. Wie Moussa zeigt, führt das Einspeisen älterer Narrative nicht zu einer Entschärfung, sondern einer Vertiefung der Vorstellung der Welt als anderem Ort beziehungsweise als großem Krieg. Die Vermehrung der Heterotopien konfligiert mit den Deutungslinien der Historie und des Poetischen, was die Erzählung wiederum zum Thema macht. Dies wird an der Arche Noah, einer traditionellen biblischen Heterotopie, vorgeführt. Vom Ort der Hoffnung wird sie zu dem der Hoffnungslosigkeit. In der Erzählung werden sämtliche Referenzen verworfen, indem sie auf sich selbst zurückgeführt und kurzgeschlossen werden, sodass Moussa von einer Textstruktur „am Rande des poetischen Realismus“ sprechen kann.

Resümierend hält Moussa fest, dass sich von den Heterotopien her ein anderer Realismus zeigt. Wenn die Handlungen der Figuren durch Heterotopien absorbiert und die metonymischen Verweisfunktionen unterbrochen werden, treten die Zeichen in den Vordergrund. Das Fundament des realistischen Erzählens tritt zutage, sodass die Wirklichkeitsillusion sicht- und thematisierbar wird. Heterotopien bilden als Reflexionsformen, so Moussas treffende Definition, eine Möglichkeit, die Kategorisierung von Texten in Frage zu stellen und ihre Grundlage offenzulegen und für eine neue Untersuchung bereitzustellen.

Moussas Studie widmet sich ausführlich der Problematik, die mit dem Heterotopie-Konzept einhergeht, ohne auf die Anwendung auf ein Quartett (poetisch) realistischer Erzählungen zu verzichten. Das Heterotopie-Konzept erweist sich im Rahmen von Textanalysen als äußerst fruchtbar. Die Studie überzeugt nicht zuletzt aufgrund ihrer klaren Struktur und dem leichtfüßigen Wechsel zwischen Theorie und (Analyse-)Praxis. Eine stringente Kapitelgliederung, ausführliche cliff hangers und Abstracts zu Beginn der Textanalysen sind Teil der leserfreundlichen Organisation der Studie. Einige Zitate haben im französischen Original Eingang in den Text gefunden, sodass der/die eine oder andere eine Übersetzung in den Anmerkungen vermissen könnte. Allgemein lädt Moussas Studie ein, realistische Erzählungen neu und künftig anders zu lesen.

Titelbild

Brahim Moussa: Heterotopien im poetischen Realismus. Andere Räume, Andere Texte.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2012.
242 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783895289385

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