Ein Handbuch zu Goethes bestem Roman – Helmut Hühn hat ein Kompendium zu den „Wahlverwandtschaften“ herausgegeben

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Goethes bestes Buch“, so einst Jochen Hörisch, fiel bei den Zeitgenossen durch – nur wenige wie der heute fast vergessene Berliner Philosoph Karl Wilhelm Ferdinand Solger ahnten, dass der Roman viel mehr bietet als sich bei erstem oberflächlichen Lesen erschließt: „In diesem Roman“, so Solger, „ist, wie im alten Epos, alles was die Zeit Bedeutendes und Besonderes hat, enthalten, und nach einigen Jahrhunderten würde man sich hieraus ein vollkommenes Bild von unserm jetzigen täglichen Leben entwerfen können.“

Es dauerte ein Jahrhundert, bis aus der Feder Walter Benjamins der erste elaborierte Essay zu diesem „Romanexperiment“ erschien – und erst im dritten Drittel des 20. Jahrhunderts befasste sich die literaturwissenschaftliche Forschung intensiv mit den „Wahlverwandtschaften“.

Nach zahlreichen Monografien und mehreren Sammelbänden erschien 200 Jahre nach dem Roman selbst ein umfangreicher Band, der sich teils als Summe der bisherigen Lektüren begreift, teils aber wiederum neue Versuche unternimmt, den roten Faden des schwer zu greifenden Buchs doch noch aufzufinden.

Nun hat der Leser die Qual der Wahl: Bietet der Begriff der Entsagung einen ersten Anhaltspunkt, sind es gleichzeitig entstandene andere Texte Goethes – oder sind ganz andere Prätexte wie Baruch de Spinozas „Ethik“ heranzuziehen? Zahlreiche Beiträge geben sich weniger als ganz neue, eigenständige Suchbewegungen als dass sie das Wissen über den Roman (und das Wissen im Roman) ordnen, etwa die Zeitkonstrukte, die Geschlechterpolitik und andere Ordnungsstrukturen, signifikanten Motiven wie Schlüssel und Kopfschmerz auf der Spur sind. Reminiszenzen an die postmoderne Literaturwissenschaft beharren auf dem Buchstäblichen wie auf dem Inszenierungscharakter von Unlesbarkeit. Und natürlich geht nichts ohne die Geschichte der Naturwissenschaften und die der Gartenkunst.

Erfreulicherweise argumentieren die Beiträge, obgleich sie die ausgedehnte Forschung resümieren, immer wieder nah an Goethes Text, der somit stets im Blick bleibt. Der Band ersetzt nicht alle Bücher, die den „Wahlverwandtschaften“ gewidmet wurden, er bietet aber, fast ein Jahrhundert nach Benjamins Versuch, einen zuverlässigen Einstieg in die wissenschaftliche Rezeption.

J. St.

Titelbild

Helmut Hühn (Hg.): Goethes "Wahlverwandtschaften". Werk und Forschung.
De Gruyter, Berlin 2010.
540 Seiten, 149,95 EUR.
ISBN-13: 9783110215052

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