Immer nur die besten Weine!

Heinz Ludwig Arnolds „Gespräche mit Autoren“ oder Die Kunst des Fragens und die Kunst des Antwortens

Von Daniel Tobias SegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Tobias Seger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anfang März 1975 reist Heinz Ludwig Arnold zu Friedrich Dürrenmatt nach Neuchâtel, um mit dem Schriftsteller und Dramatiker ein Gespräch für den Rundfunk zu führen. Arnold ist irrtümlich ein Tag zu früh vor Ort, wird aber dennoch empfangen. Man trinkt erst einmal einen Kaffee, Arnold erkundigt sich, ob er denn rauchen dürfe, und bekommt vom Hausherrn prompt drei Pfeifen geschenkt. Die erste Weinflasche wird entkorkt und das Gespräch beginnt. Es endet, unterbrochen durch eine Pause, am nächsten Morgen um 6 Uhr.

1971, Gespräch mit Heinrich Böll. Am Ende sagt Böll, er habe noch nie so ausführlich über sein Leben gesprochen und schenkt Arnold aus Dankbarkeit das Gespräch für die Reihe „edition text + kritik“.

1973, Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger. Frager und Befragter liegen im Wohnzimmer des Schriftstellers auf einem großen, flauschigen Teppich, das Mikrophon dazwischen – Stunde um Stunde.

1975, der Vorabend des Gesprächs mit Peter Handke in Paris. Es kommt zu einem Streit. „Warum soll ich ausgerechnet zu Ihnen Vertrauen haben?“, sagt Handke am Ende. Arnold will das Gespräch abblasen: „Ich bin nicht hierher gekommen, um mich von Ihnen beschimpfen zu lassen!“ Daraufhin lenkt Handke ein und die beiden unterhalten sich am nächsten Tag zwei Stunden lang.

„Sie bekommen die besten Weine!“, sagt Friedrich Dürrenmatt zu Heinz Ludwig Arnold (zum Beispiel einen St. Emilion, Jahrgang 1889), und wir liegen wohl richtig, wenn wir vermuten, dass der Dichter damit auch um seinen Gast wirbt: „Es ist schön, sich mit Ihnen zu unterhalten! Reden wir noch ein wenig!“

Die Gespräche, die Heinz Ludwig Arnold mit Schriftstellern geführt hat – mit Grass und Kroetz, mit Wallraff und Koeppen, mit Jens und Rühmkorf, mit Christa Wolf und Walter Kempowski und vielen anderen mehr, sind unübertroffen und was ihre Anlage, ihren Verlauf und ihren Gehalt angeht sicher unübertrefflich. Wer diese Gespräche liest oder: noch viel besser – ihnen zuhört, der hat am Ende mehr über den jeweiligen Künstler, sein Leben und die Umstände seines Schaffens, sein Werk, seine Innenwelt, seine Sicht auf die Welt und seine Einsicht in diese erfahren als nach der Lektüre einer dickleibigen Biografie.

Woran das liegt? In erster Linie an der Person Heinz Ludwig Arnolds, der ein in jeder Hinsicht begnadeter Gesprächspartner war, mit Qualitäten, die damals wie heute eine Seltenheit sind. Was das konkret heißt?

Arnold ist auf unakademische Weise akademisch. Ihn treibt die Neugierde in Sachen Literatur, nicht titelgebende akademische Meriten. Das Studium und die Dissertation hat er nicht abgeschlossen – er will vielmehr am Puls der Gegenwartsliteratur bleiben, dabei sein, mitvollziehen, vermitteln, nahebringen. Die Zeitschrift „text + kritik“ war und ist bis heute Zeugnis dieser Leidenschaft, ebenso das „Kritische Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ und das „Kritische Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur“. Und so sind Arnolds Fragen die eines neugierigen Lesers, keine Wissenschaftsfragen professoralen Zuschnitts. Nicht auf theoretische Zusammenhänge hebt er ab, sondern stets auf das Werk selbst, das er bestens kennt und an das er Fragen hat, die sich unmittelbar aus dem Werk ergeben. Dabei schwingen stets die zur damaligen Zeit aktuellen künstlerischen, insbesondere literarischen, gesellschaftlichen und politischen Diskussionen mit, die dieser Meister des Gesprächs gekonnt ins Spiel bringt.

Hinzu kommt – ein überaus wichtiger Punkt: Arnold ist nicht nur am Werk, sondern stets auch an dem Menschen interessiert, der ihm gegenübersitzt. Der in den 70er-Jahren stark diskutierte Ansatz vom ‚Tod des Autors‘ ist Arnold fremd. Werk und Urheber gehören für ihn zusammen, lassen sich nicht auseinanderdividieren. Unübertroffen die Grazie Arnolds, stets den richtigen Ton zu treffen, stets die richtige Frage zu stellen. Interessant, also zwar ins Detail gehend, aber sich nicht dort verlierend, und persönlich, was für Arnold heißt, eng am Leben, aber nicht zu eng, niemals die Grenze zum anderen Ich verletzend oder überschreitend. Weil Arnold so fragte, haben ihm alle vertraut und ihm Dinge anvertraut, die sie wohl niemandem sonst anvertraut hätten. Deshalb sind die „Gespräche mit Autoren“ kleine Wunder, Meisterstücke der Porträtkunst.

Zweifellos war Arnold auch ein raffinierter Frager, ein bisweilen ziemlich schelmischer ‚Psychagoge’. Literaturkritik interessiere ihn nicht, sagt Friedrich Dürrenmatt. Es folgen einige dieser ruhigen, unaufgeregten Fragen Arnolds – und plötzlich ändert sich das Bild: Es wird deutlich, wie gekränkt Dürrenmatt ist, wie sehr ihn die zum Teil vernichtende Kritik der Presse oder die fehlende Treue des Zürcher Theaters angegriffen hat.

Oder Max Frisch: „Würden Sie das ‚Biedermann‘-Stück wirklich für eines ihrer besten Stücke halten?“, fragt Arnold spürbar hintersinnig, worauf Frisch, merklich unsicher geworden, antwortet: „Rein vom Handwerklichen: ja.“ Darauf Arnold, ruhig und bestimmt: „Ich halte es für eines ihrer schwächsten Stücke.“ Frisch, betroffen: „Ja was!“ Die darauf folgenden Gesprächssequenzen sind dann die interessantesten einer bis dahin freundlich dahinplätschernden Unterhaltung über Frischs Begegnung und Auseinandersetzung mit Bertolt Brecht. Sie sind persönlicher, man könnte auch sagen: existentieller. Werk und Person kommen jetzt in ihrer Wechselwirkung zum Vorschein.

Wer nun glaubt, er habe es bei den Gesprächen mit Nachrichten aus dem Elfenbeinturm zu tun, der täuscht sich. Denn stets weitet sich der Blick der Gesprächspartner auf ein anderes Wechselspiel: Das aus heutiger Sicht fast schon exotisch anmutende Wechselspiel zwischen Schriftsteller und Gesellschaft. Wie wird die politische Lage eingeschätzt? Welche Aufgabe hat der Schriftsteller angesichts dieser Lage? Sollte Dichtung politisch, ja, parteiisch sein? Gibt es eine engagierte Literatur oder sollte es sie geben? Das sind Fragen, die nahezu jedes Gespräch nicht nur begleiten, sondern mittragen. Wer die Darlegungen etwa eines Günter Grass, eines Günter Wallraff oder eines Peter Weiss liest, dem fällt der apolitische Gestus in weiten Teilen der aktuellen Gegenwartsliteratur um so schmerzlicher auf. Auch unter diesem Aspekt ist der vorliegende Sammelband mit den Gesprächen Heinz Ludwig Arnolds ein hochinteressantes, über die Frage nach Dichtung und Wahrheit weit hinausgehendes Dokument.

Es umfasst neben zahlreichen, bereits an anderer Stelle veröffentlichten Gesprächen auch bislang ungedruckte: die mit Walser, Enzensberger, Hochhuth, Jurek Becker und Hildesheimer. So schön es ist, diese Gespräche gemeinsam mit anderen in „text + kritik“ oder an entlegener Stelle veröffentlichten in einem über 700 Seiten umfassenden Band zusammengeführt zu sehen, so bedauerlich ist es, dass keinerlei Informationen zum jeweiligen Schriftsteller, seiner damaligen Schreib- und Lebenswirklichkeit und der jeweiligen – für Heinz Ludwig Arnold doch so wichtigen – Gesprächssituation einführend gegeben werden.

Das Gespräch mit Enzensberger etwa findet am 11. und 12. September 1973 statt. Der Putsch in Chile in der Nacht fließt unmerklich in das Gespräch ein und verändert den Grundton der Unterhaltung. Ein Hinweis auf die veränderte Situation und der Leser könnte die bohrende politische Selbstbefragung Enzensbergers besser verstehen.

Und weil Heinz Ludwig Arnold seine fragende Kraft stets im Zusammenspiel mit der Gesamtsituation entfaltet und sich seine Gesprächspartner in dieser Situation gehalten und getragen wissen, vermitteln die bloßen Gesprächsabschriften bisweilen den Eindruck einer von beiden Seiten gepflegten distanzierten Betrachtung.

Doch dem war nicht so. Wer den Originaltonaufnahmen der Gespräche lauscht, die 2011 beim Label Quartino erschienen sind, der wird erstaunt, bisweilen irritiert sein von der Unmittelbarkeit und Dynamik dieser Unterhaltungen, dem Wechselspiel von Außensicht und Innensicht, Distanznahme und Verstricktheit, Meinung und Bekenntnis. Es kommt zum Ausdruck in den Antworten, entfaltet sich aber erst vollständig in der Art und Weise, wie die Antworten gegeben werden: laut oder leise, mit Bedenkzeit oder den Frager unterbrechend, mit Untertönen, selbstsicher das schon oft Gesagte abspulend oder, von einer Frage überrascht, nervös ausweichend.

Das Vergnügen, diesen Aufnahmen zu lauschen – insgesamt über 60 Stunden lang – übersteigt damit das Lesevergnügen um einiges. Nahezu alle Gespräche, die Heinz Ludwig Arnold geführt hat, sind auf den drei MP3-CDs versammelt. Auch jene mit heute eher vergessenen Autoren: Josef Reding, Gerhard Zwerenz oder Hugo Dittberner etwa. Die Gespräche mit Grass und Dürrenmat zu verschieden Zeiten zeigen Enwicklungen auf, Veränderungen in der Perspektive, aber auch das steigende Vertrauen zum Gesprächspartner Heinz Ludwig Arnold.

Wer den Aufnahmen zuhört, dem wird erst richtig bewusst, wie kunstvoll Arnold fragen und wie kunstvoll (oder eben nicht) seine Gesprächspartner antworten konnten. Alle Emotionen treten hier offen zu Tage, tragen das Gespräch oder lassen es stocken. Wer etwa das Gespräch mit Friedrich Dürrenmatt liest, der kann zwar den Ärger des Dichters nachvollziehen. Wie sehr ihn aber etwa das Verhalten des Zürcher Theaters gekränkt hat, das wird erst deutlich, wenn man seiner Stimme zuhört: offenkundig gespielte, wegwerfende Gelassenheit zunächst, die dann abgelöst wird von einer sarkastisch-polternden Schärfe.

Die Originaltonaufnahmen sind ein einzigartiges Dokument. Sie geben den Worten ein anderes, bisweilen ganz neues Gewicht. Sie vermitteln eine von Heinz Ludwig Arnold gewollte Nähe zur Person des Befragten und damit eben auch zu dessen Kunst.

Lesend oder zuhörend: Einen besseren Weg zu Leben und Werk zentraler Autoren der siebziger und achtziger Jahre ist kaum vorstellbar.

Titelbild

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern. 1970-1974. Originaltonaufnahmen. 1 MP3-CD.
Quartino Verlag, München 2011.
1320 min, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783867500869

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Titelbild

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern. 1974-1977. Originaltonaufnahmen. 1 MP3-CD.
Quartino Verlag, München 2011.
1320 min, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783867500883

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Titelbild

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern. 1977-1999. Originaltonaufnahmen. 1 MP3-CD.
Quartino Verlag, München 2011.
1380 min, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783867500890

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Titelbild

Heinz Ludwig Arnold: Gespräche mit Autoren.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012.
728 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100015341

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