Weltempfänger im Mini-Format

Michael Speiers lyrische Gedankenspaziergänge im „Haupt Stadt Studio“

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stadt und Lyrik sind Wahlverwandte im Netzwerk der kulturellen Moderne. Sie teilen die Erfahrung von Fragmentierung und Beschleunigung und die dagegen gerichteten Trotzreaktionen von Ganzheitssehnsucht und Wahrnehmungsverlangsamung. Viele Mythen der modernen Großstadt sind auch Mythen der modernen Dichtung. Charles Baudelaire ist der Dichter, der in den „Tableaux parisiens“ (einem Zyklus aus den 1857 erschienenen „Les fleurs du mal“) erstmalig das poetische Imaginationspotenzial der Stadt entdeckt und darin eine Fülle von Gestalten, Orten und Begegnungen erschlossen hat, in denen sich der Dichter wiedererkennen kann – oder auch nicht. Auf den Spuren des modernen Stadtflaneurs wandelt auch Michael Speiers neuer Gedichtband „HAUPT-STADT-STUDIO“.

Es ist der mittlerweile neunte Lyrikband des Autors und, das wird man sagen dürfen, sein dichtester und schönster, nicht nur der Linolschnitte des Rotterdamer Künstlers Hans Wap wegen, die zusammen mit einer musikalischen Gedichtkomposition zu einem Gedicht Speiers („otter creek“) von Wolfgang Seierl dem vom Aphaia Verlag herausgebrachten – und kundig eingeleiteten – Band ein sehr gediegenes Ansehen verleihen.

Michael Speier ist einer der vielseitigsten Intellektuellen unserer Tage, ein findiger Brückenbauer zwischen Wissenschaft, Kritik und Literatur. Er gibt das „Celan-Jahrbuch“ heraus, ein Flaggschiff der Forschung, hat 1976 den „Park“ begründet, eine einzigartige Lyrikzeitschrift mit internationalem Zuschnitt, die das Vorurteil von der Kurzlebigkeit solcher Editionen Lügen straft, und ist mit eigenen Gedichten und Übersetzungen (darunter auch Selbstübertragungen wie des Gedichts „otter creek“) präsent in der Literaturszene von Medellín bis Malmö. Wer Brücken baut, muss die Ufer befestigen, und auch in diesem Bereich hat Michael Speier als Professor auf dem amerikanischen Campus und als Literaturdozent nicht nur in Leipzig grundlegend gewirkt.

„zerbrechen um aufzudecken“, das ist die archäologische Maxime, der Michael Speiers Gedichte folgen, wenn sie sich auf den Weg in die und durch die Metropolen machen. Die sanfte Gewalt dieses Grundsatzes taucht schon in den Titeln der einzelnen Zyklen auf. „schlacht um berlin“ heißt der erste, „budapester metamorphosen“ der zweite; es folgen Gedichte „aus der neuen welt“ und aus der alten in Europa, übertitelt: „die einschiffung nach kythera“. Solche Titel sind prägnante Fügungen und zugleich Passagen zu den Stadtbeobachtungen, die dem lyrischen Flaneur nicht einfach zufliegen, sondern das Wissen und Gedankengut der lyrischen Moderne unaufdringlich mittransportieren. So kombiniert das Auftaktgedicht Eindrücke von Warteräumen am Berliner Flughafen und von Stadtvierteln im Osten der Stadt („bionaden-biedermeier der bötzow“) mit dem historischen Gedächtnis an den „Führerbunker“ und Hitlers absurde Frage nach Rettung aus der selbstverschuldeten Katastrophe („wo bleibt wenck?“), die wir auch aus dem Film „Der Untergang“ kennen.

Der Streichbogen, der diese Impressionen zusammenfügt, ist ein genuin lyrischer: Es geht um die Frage von Wachsein und Schlafen, um „in wolken“ abgelegte Datenmengen. Es ist kein Zufall, dass Wolken beständig durch die Gedichte ziehen; sie tauchen in New York auf ebenso wie in einem amerikanischen College, wo der Dozent „schäfchen wolken zählen“ lehrt („otter creek“) und auf Kythera, dem mythischen Ort der Aphrodite, den der Dichter mit einer ironischen Hommage an Friedrich Hölderlins „An die Parzen“ betritt: „NUR EINEN gönner / für diesen gewaltigen sommer“. Die Wolken sind wohl das treueste Motiv der Gedichte von Michael Speier, sein Tribut an den Himmel über dem Museum der modernen Poesie von Enzensberger bis Aigner.

Auch in den anderen Berlin-Gedichten treten Ungleichzeitigkeiten und die „netten kleinen widersprüche“ auf. Es gibt in der Stadt der datumlosen Gerüche steigende Wasserpreise und die „wahlmöglichkeit von / bahnhofsimbissen“, aber auch Notizen von Benn „in den brieftaschen / älterer friseure“, „eurojobber“ neben irre kichernden „elfen“ und im Reigen trippelnden „gnomen“. Das Gedicht als „memory stick“ ist ein brillanter Einfall ins Gedächtnis der vergessensbereiten Nachmoderne.

Michael Speiers Gedichte messen die „zeit zwischen copy & past“, und dass dabei etwas anderes herauskommt als beim Blick auf die Uhr, zeigen die anderen Zyklen aufs eindringlichste mit ihrem Changieren zwischen Imitation und Imagination. Heiter, forsch, tiefgreifend und sich ins Weite lehnend, „eifrig / beim horten von worten“ ist der Dichter, offenherzig, aber doch etwas skeptisch gegenüber der Schönheit, die „zwischen unschuld und schrecken“ schwer auszumachen ist.

Die Gedichte verzichten in der Regel auf eine Großschreibung, machen die Wörter aber nicht gleich, sondern entwerfen feinsinnig Hierarchien, durch Versbrüche, Rhythmenwechsel, Binnenreime, gelegentlich auch Interpunktionszeichen, mit denen der kunstbewusste Michael Speier, der eine prächtige „treppenetüde“ bauen kann und auch die Zeichen des klassischen Musenanrufs nicht verschmäht („o meine brise“), indes sparsam verfährt. Man kann sich die Fragezeichen meist dazu denken: „wohin riecht berlin“, „MACHEN SPERREN die bahnhöfe wirklich sicherer“, „sicher dass dies das jahrhundert der wolken ist“, „warum eigentlich man schläft“, „bienenstöcke braucht die wissenschaft?“. Zweifellos ist es ein nachdenklicher Dichter, der hier zu Wort kommt, ein philosophischer Flaneur in den Hauptstadtstudios der Welt.

Michael Speier, der auch die wunderbare Metropolen-Anthologie „Berlin, du bist die Stadt“ (1987) herausgegeben hat, entwirft urbane Tableaus in Gedichten, Gedankenspaziergänge in der neuen und alten Welt. Gegen die Überflutungen der Werbe- und Katalogbilder setzt er den Akzent auf das Markante und Individuelle, das Singuläre und Partikuläre. Es sind polyphone und polyglotte Gedichte, „Weltempfänger im Miniformat“, und vielleicht kann man in Anlehnung an Louis Sébastien Merciers „Tableau de Paris“ (1781-1789) sagen, dass Michael Speier die Städte so häufig mit den Augen durchquert hat, dass er sein Buch gewissermaßen mit hellen Augen schreiben konnte.

Anmerkung der Redaktion: Der Verfasser des Vorworts, der Heidelberger Literaturkritiker Michael Braun, ist nicht identisch mit dem Autor dieser Rezension.

Titelbild

Michael Speier: Haupt - Stadt - Studio.
Mit einem Vorwort von Michael Braun. Illustriert von Hans Wap. Komponiert von Wolfgang Seierl.
Aphaia-Verlag, Berlin 2012.
82 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783926677846

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