Kein einziger Flecken Blau

Zu Roland Reuß’ „Ende der Hypnose“

Von Philipp TheisohnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Theisohn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Buch, das bereits im Untertitel die Bewegung weg vom Netz einfordert, ausgerechnet im Netz besprechen zu wollen – wie soll man da nur anfangen? Vielleicht am ehesten beim Wetter: „Pfingstsonntag, 27. Mai 2012, 8:05, Nachrichten: ,im Sendegebiet überall Sonnenschein, wolkenloser Himmel, 18 bis 27 Grad‘. Ich gehe auf den Balkon, friere, kein einziger Flecken Blau am Himmel. Beruhigend zu wissen, woran Naturbeherrschung nach wie vor ihre Grenze findet. Das Wetter entzieht sich wie der Tod, an den Stimmungen arbeitet freilich die Pharmakologie.“

Das Ich dieser Zeilen ist auf der Suche nach solchen Momenten, nach dem Scheitern der Medien an einer unmittelbaren Wirklichkeitserfahrung. Es handelt sich dabei freilich nicht um Augenblicke der Rettung (deswegen friert es einen da auch), sondern bestenfalls um die letzten Notsignale einer untergehenden Welt, die gerade im Begriff ist, auf immer im Morast der Informationalisierung zu versinken.

Auf das Wetter ist also noch Verlass, doch es geht nun einmal leider nicht ums Wetter, sondern um den Geist. Und um diesen steht es schlecht, denn seine Agenten, Foren und Artikulationsformen sind bereits nahezu verschwunden. An ihre Stelle sind Chimären des Wissens getreten: die Universitäten wurden durch die „unternehmerische Hochschule“ ersetzt, die Bücher durch PDFs (die umso „pornographischer“ sind, je schöner das gescannte Buch gewesen war), die Urteilskraft durch Suchmaschinen. Verantwortlich für diese Substitutionen sind in erster Linie diejenigen, die hierin ein kommerzielles Interesse verfolgen, namentlich jene Konzerne, die sich als selbstlose Kommunikationsmedien gerieren beziehungsweise für solche gehalten werden wollen. Gleichwohl gehören nach Homer Simpson immer zwei Parteien zur Lüge: „one to lie and one to listen.“ Die Entmündigung des Publikums kann nur deswegen erfolgreich fortschreiten, weil es das Publikum selbst so will; weil es sich bereitwillig durch immer neue Gadgets programmieren lässt, weil ihm Effizienz vor Tiefe und Zerstreuung vor Konzentration geht, weil es sein Ich für I-Phones, für „Substitute verlorenen Selbstseins“ eingetauscht hat.

Besagte Melange aus monopolkapitalistischer Medienwirtschaft, universitärer Liebedienerei und progressiv bejahtem Ich-Verlust tritt dem Leser des schmalen Büchleins „Ende der Hypnose“ allerorten entgegen. Es handelt sich um einen rückhaltlos konfrontativen Text, der fast nichts und niemanden ausspart, wenn es um die Verantwortungslosigkeit gegenüber Traditionen der Gelehrsamkeit geht: von den Drittmittelanträgen und den Worthülsen ihrer Antragsprosa (die in der Rachefantasie einer Kafka’schen Strafkolonie den Antragstellern mit einer Egge in den Rücken ,eingeschrieben‘ werden sollen) über den Vorsitzenden des deutschen Bibliothekarsverbandes, dessen Vortrag schlichtweg nur noch ,Übelkeit erregt‘, bis zur dümmlichen Verunglimpfung der Verlagswelt als ,content mafia‘: Den Weg aus der Hypnose der neuen Medien – eine Denkfigur, die der Text McLuhan verdankt – findet nur der, der keine Kompromisse eingeht und keine Gefangenen macht.

Es ist ein reizvoller Furor, der einem hier entgegenschlägt und dafür sorgt, dass man so manche Passage gerne mehrfach liest. Deutlich wird, dass nur die Radikalität viele Dinge zur Sprache bringen kann, die sonst ungesagt bleiben müssten – und doch lässt sie den Leser nicht ohne Zweifel zurück. Es kommt der Moment, in dem sich die Frage stellt, was für eine Funktionalität dieser Text eigentlich besitzt, die Frage, wie wir ihn lesen sollen und wie er gelesen werden will. Vieles von dem, was bereits über ihn gesagt wurde und über ihn noch zu sagen wäre, hängt von der Beantwortung dieser Fragen ab.

Zunächst einmal, und das scheint mir eine der wichtigsten Beobachtungen zu sein, liegt die Stärke dieses Buches zweifellos darin, dass es viel dafür tut, nicht als medienpolitische Stellungnahme gelesen zu werden. Das beginnt beim Satz, beim Ausspielen der dem Buch eigenen Gestaltungsmöglichkeiten und der kalkulierten Verwendung unterschiedlicher Schrifttypen; das setzt sich fort im gerade unökonomischen Verschwenden von ,Speicherplatz‘ (in Form von bis zu zwei Drittel leeren Seiten) und schlägt dann durch in die Komposition der Texte, die sich als eine Sammlung scheinbar abgerissener, nicht mehr vernetzter Gedankengänge zu erkennen geben. Das „Ende der Hypnose“ will, das ist nicht von der Hand zu weisen, als ein im Wortsinne literarischer Text wahrgenommen werden, und dementsprechend hat er seine schönsten Augenblicke gerade dort, wo es ihm auch um die Literatur geht – im detailverliebten und sich geradezu im Detail verlierenden Nachsinnen über die 39 Bände umfassende Ausgabe der Werke John Ruskins, die der in die Vereinigten Staaten emigrierte Pfälzer Jude Nathan Straus 1908 seiner Alma Mater, der Universität Heidelberg, zum Geschenk machte. Wer wissen will, warum Bücher eben nicht einfach nur ausgedruckte Dateien sind, sondern ,ihre eigenen Kontexte ausbilden‘, sollte das gelesen haben.

Nun verhält es sich nicht so, dass literarische Texte per definitionem keinen kulturpolitischen Kommentar vertrügen – im Gegenteil. So scheint es dann auch auf den ersten Blick keinen großen Unterschied zu machen, ob man das „Ende der Hypnose“ nun als eine Performance, also als Rollenprosa begreift, oder ob man seiner Lektüre das Wissen um die Autorschaft „Roland Reuß“ unterschiebt. Tatsächlich sind viele Beobachtungen dieses von der Netzwelt und ihren Ausstrahlungen in Beschlag genommenen Ichs ja vollkommen richtig (wo nicht schon längst Topos geworden). Natürlich ist es wahr, dass das ,Netz‘ (ich würde meinen: insbesondere sein bundesdeutscher Sektor) immer stärker zu einer Artikulationsplattform ,gegen die Etablierten‘ verkommt; dass dort bald jegliche Kulturproduktion, die auf qualitative Ausleseprozesse zurückgeht, verdächtigt und als Teil einer inszenierten Scheinöffentlichkeit denunziert wird; dass es nahezu keinen Sachbeitrag und kaum eine Agenturmeldung gibt (Todesmeldungen eingeschlossen), unter deren ersten zehn Online-Kommentaren sich kein argumentum ad hominem befindet. Natürlich ist es wahr, dass gerade die „zusätzliche[] Autorität, die den publizierten Worten durch einen Verlag zuwächst“, den Hass schürt, der vielerorts denen entgegenschlägt, die diese Autorität erhalten – weil den allermeisten im Netz Schreibenden dieselbe Autorität eben gleichzeitig vorenthalten wird. Natürlich ist es wahr, dass die Rede vom ungeahnten Kreativ- und Innovationspotential der Neuen Medien doch viel mit den Versprechungen der New Economy gemeinsam und daher wenig Realität hat; dass weder die arabischen Revolutionen noch das Zeitungssterben wesentlich mit der Digitalisierung zusammenhängen; dass die Profiteure der digitalen Kommunikation eher nicht auf dem Feld der Kultur, sondern vor allem im Silicon Valley zu suchen sind. Natürlich ist es wahr, dass nicht nur die akademische, sondern auch die journalistische Anpassung an die digitalen Medien in der Regel eine Anpassung nach unten ist; dass Vorlesungen mittlerweile wie selbstverständlich mit E-Mails und Statusmeldungen in sozialen Netzwerken um Aufmerksamkeit buhlen müssen; dass Bibliophilie als studentische Kultur nahezu ausgestorben ist; dass man mittlerweile meint, aus ,Häschtäcks‘ Nachrichten und aus diesen Nachrichten dann Politik machen zu müssen. Geschenkt.

Internetkritik ist wohlfeil, für einen Absatz wie den obigen braucht man nicht lange, was ihn nicht schlechter macht, als er ist. Allerdings kann Diagnose immer nur ein Teil der Reflexion sein, der andere Teil ist die Therapie – und die fällt hier mit „Immer und immer wieder lesen, multum, non multa, das aber intensiv“ doch recht solipsistisch aus. (Die Patenschaft von Arthur Schopenhauers Aphoristik wird im übrigen nicht nur an dieser Stelle deutlich, sondern auch im Begriff des „Augenpulvers“, der bei Reuß wiederkehrt.) Einem literarischen Text, einem Rollen-Ich kann man diese produktive Monomanie leicht verzeihen; ein kulturpolitischer Diskussionsbeitrag leidet an ihr. Wechselt man das Perspektiv aus, betrachtet man das „Ende der Hypnose“ nicht als eine Performance, sondern als Statement, dann breitet sich doch nach und nach Ratlosigkeit aus. So wird man nämlich den Eindruck nicht los, dass hier eigentlich kein Gespräch eröffnet, sondern eines beendet werden soll. Wie anders ließe sich das permanente Rekurrieren auf den eigenen Bildungs- und Lektüreweg, auf die kulturelle Höhe, die man allen, die noch darüber nachdenken, was Digitalität eigentlich für uns bedeuten kann und könnte, recht barsch abspricht? (Denn dass etwa jeder, der „Firmen wie Google™ oder Facebook™ ,gut‘ findet, […] für das Projekt einer Reform von Gesellschaft im Spätkapitalismus“ ,ausscheidet‘, ist diesem Text unanfechtbares Dogma.)

Diese Selbstgewissheit, die Überzeugung, selbst schon immer auf der richtigen Seite gewesen zu sein, erschwert die Einbindung des Buches in eine sachbezogene Debatte deutlich – was überaus zu bedauern ist. So verwandelt sich die literarische Stärke des Textes, seine prismatische Ausfaltung von Kulturkritik, in eine argumentative Schwäche: Jeder, der nicht zustimmt, steht noch im Bann der Hypnose. Jeder, dem das Phänomen des Digitalen noch rätselhaft erscheint und die mit ihm verknüpften Katastrophenszenarien hinterfragt und relativiert, der lebt falsch, der erteilt seine Zustimmung zur Usurpation der Kultur durch den Konsum, zur Entselbstung des Menschen, zum Eintausch deutscher Administrationsbegriffe für englisches Advertisementvokabular, zum Verfall der humanistischen Bildung an den Universitäten; ja, der hat vermutlich auch nie echte Bildung erfahren, denn „[m]an kann nicht durch die Jahre hindurch Hölderlin, Kafka, Kleist, Büchner studieren und erträgt diese verlogene, machtbezogene Funktionärssprache […], ohne daß das heftige Reaktionen im Körper hervorruft.“

Dieser Rigorismus geht leider am eigentlichen Problem vorbei, denn nur die allerwenigsten Menschen, auch die Gebildeteren unter ihnen und sogar jene, die noch ganz passabel Griechisch können, leben ihn oder wollen ihn leben. Die Wirklichkeit der sogenannten ,Büchermenschen‘ (zu denen im übrigen auch immer noch viele der von Reuß schon eingangs auf der Seite der ,Geistlosigkeit‘ platzierten Natur- und Technikwissenschaftler gehören, die keineswegs durch die Bank nur zwischen Tablet und Labortisch pendeln) sieht doch anders aus: Man befindet sich in einer Zwischenstellung, die sich aus dem Umstand ergibt, dass man weiterhin aus Überzeugung an einem analogen Medium festhält, Bücher publiziert, liest, kauft und sammelt, während die Schrift als Träger der Buchkultur nicht nur aus der Alltagskommunikation, sondern auch aus der privaten Textverarbeitung überhaupt nahezu verschwunden ist. (Denn selbst das Schreiben von Büchern ist ja schon längst kein Schreiben mehr, sondern eine Steuerung von Algorithmen.)

Und während es auf der einen Seite ganz zweifellos von grenzenloser Naivität zeugt, diese Zwischenstellung dadurch aufheben zu wollen, indem man die mit dem Buch verknüpften gesellschaftlichen Formationen verleugnet und für ein Reich der ,digital natives‘ preisgibt, ist es auf der anderen Seite nicht minder leichtfertig, all jene, die nach Vermittlungen zwischen den beiden Welten suchen, zu disqualifizieren. Nicht jeder, der sich über Open-Access-Modelle Gedanken macht, sieht in diesen zwangsläufig entweder ein Allheilmittel oder Teufelszeug; nicht jeder, der auf Bibliotheksservern lagernde Scans von Rara-Beständen sichtet, kann den Abstand zwischen einer PDF und dem haptisch-optischen Ereignis von Codices nicht bemessen. Es kann nicht darum gehen, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, sondern nur darum, das Bewusstsein der Differenz zwischen digitaler und analoger Kultur, zwischen Netz und Buch aufrechtzuerhalten und zu vermitteln. Als Inszenierung dieses Bewusstseins kommt Reuß’ Beitrag durchaus großes Verdienst zu. Als eine Verhandlungsposition in einer mediengeschichtlich diffizilen Gemengelage vermag er gleichwohl nicht zu überzeugen – was er offensichtlich aber auch gar nicht beabsichtigt.

Der Rezensent möchte am Ende – und abseits des rezensierten Texts – zu bedenken geben, dass ein Großteil der Auseinandersetzungen zwischen Digitalisierungsbefürworten und Digitalisierungsgegnern womöglich deswegen so zornig, wo nicht hässlich verläuft, weil sich beide Seiten zuerst als Opfer politischer Bevormundung sehen. Die ersteren sehen – zurecht – ihr Engagement um neue Diskussions- und Arbeitsformen und um die Archivierung von Textbeständen nicht genug gewürdigt und beklagen ihre Stigmatisierung durch die universitär etablierte Geisteswissenschaft. Die letzteren verweisen – zurecht – auf die bereits sichtbaren Auswirkungen der Präsenz digitaler Medien an Universitäten mit Blick auf die Ausbildung grundlegender hermeneutischer Fähigkeiten und fühlen sich von der dezisionistisch-digitalen Zukunftsrhetorik so mancher Wissenschaftsfunktionäre sowohl diskreditiert wie auch bedroht. Wer ein bisschen länger in diesen Stellungskriegen umherschleicht und von beiden Seiten den ein oder anderen Streifschuss abbekommen hat, dem schwant, dass dort, wo Paranoia und Gegenparanoia die leitenden Strategeme sind, es oft von Vorteil wäre, sich mit einem Blick in den jeweils anderen Schützengraben zu vergewissern, ob dort wirklich alle Waffen tragen – oder ob da überhaupt jemand zugegen ist.

Titelbild

Roland Reuß: Ende der Hypnose. Vom Netz und zum Buch.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
125 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783866001411

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