Bildungsbürgertum und Barbarei

Stefan Hüpping stellt den faschistischen „Reichsdramaturgen“ Rainer Schlösser vor

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Darüber, wie eine Diktatur funktioniert, ist häufig an den Akteuren aus der zweiten oder dritten Reihe ebenso viel zu lernen wie an den Haupttätern. Der 1899 geborene Rainer Schlösser, der 1933 zum Reichsdramaturgen aufstieg und die Spielpläne sämtlicher Theater unter dem Nazi-Regime kontrollierte, war zwar bisher in der Forschung kein Unbekannter. Doch unternimmt es Stefan Hüpping in seiner Osnabrücker Dissertation zum ersten Mal, den Bildungshintergrund, die kulturpolitischen Aktivitäten und den Status Schlössers auf breiter Grundlage nachzuzeichnen. Das Ergebnis bestätigt im Wesentlichen die Thesen, die Ralf Klausnitzer bereits 1999 in einem Aufsatz entwickelt hat; doch ergeben sich zahlreiche neue Facetten.

Rainer Schlösser kommt aus einer Familie, die geradezu als Verkörperung des Bildungsbürgertums gelten kann. Der Vater Rudolf Schlösser war Leiter des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar; der ältere Bruder Siegfried fiel 1916, nicht ohne einen Band mit Kriegsgedichten zu hinterlassen; der deutlich jüngere Bruder Anselm Schlösser machte nach 1945 eine Karriere als Anglist.

Bereits der Vater pflegte Verbindungen, die mit „nationalkonservativ“ eher milde umschrieben wären und den völkischen Schriftsteller Hermann Burte einschlossen. Rainer Schlösser, der nach Notabitur seit 1917 als Frontsoldat kämpfte, ahmte die schlechten Gedichte des älteren Bruders mit noch schlechteren nach, die er in der Frühphase der Weimarer Republik veröffentlichte und die im nationalen Teil der Öffentlichkeit durchaus positiv rezipiert wurden. Allerdings hatten Tod des Vaters und Inflation die Familie verarmen lassen. Schlösser musste sich zeitweise als Bankangestellter durchschlagen, promovierte erst 1931 als Germanist, hielt jedoch eine weitere wissenschaftliche Laufbahn für aussichtslos – die Realität grotesk verzerrend, klagte er in einem Brief aus demselben Jahr, mehr als die Hälfte der Germanisten seien Juden.

Tatsächlich ist es ein fachgeschichtlicher Allgemeinplatz, dass Juden und Linke in der Germanistik der Weimarer Zeit nur am Rand vorkamen; mentalitätsgeschichtlich interessant ist, dass ein völkischer Nachwuchsmann wie Schlösser sich in Verkennung der Lage dennoch von jüdischer Macht erdrückt glaubte. Freilich war zu dieser Zeit Schlösser wieder eng mit Weimarer Kreisen verknüpft, konkret mit Adolf Bartels, der mit seiner primitiven Judenschnüffelei tatsächlich von der sich als seriös begreifenden nationalistischen Germanistik abgelehnt wurde.

Erst im Herbst 1931 positionierte sich Schlösser eindeutig politisch, hetzte mit nationalistischen und antisemitischen Stereotypen im NS-Blatt „Völkischer Beobachter“ gegen die fortschrittliche Kultur in der Weimarer Republik. Entsprechend gelang ihm 1933 ein Karrieresprung, als er in der Theaterabteilung des neugegründeten Propagandaministeriums eine zentrale Stellung gewann. Hüppings Verdienst ist es zum einen, manchmal etwas harmlos erscheinenden Darstellungen Schlössers als relativ zurückhaltender Kunstfreund entschieden zu widersprechen. Schlösser teilte alle wesentlichen Bestandteile der Nazi-Ideologie, und er vertrieb mit großer Effizienz alle aus dem Theaterbetrieb, die zu Juden oder politischen Gegnern erklärt wurden.

Zum anderen weitet Hüpping die Betrachtung auf Funktionen Schlössers aus, die bislang nicht in den Blick genommen wurden. Schlösser war von 1935 bis 1938 auch Leiter der Reichstheaterkammer. Ab 1939 fungierte er dann als Kulturamtsleiter der Hitlerjugend. Für diese Position war er eine generationsspezifisch ideale Besetzung: noch nicht zu alt, um als Jugendfunktionär völlig unglaubwürdig zu sein, aber noch Soldat des Ersten Weltkriegs und somit lebendes Vorbild für die Rolle, die die jungen Männer im Zweiten übernehmen sollten.

Indem Hüpping sich nicht auf Schlössers Rolle als „Reichsdramaturg“ beschränkt, sondern ihn als Multifunktionär vorstellt, handelt er sich Fragen ein, die wohl kaum zufriedenstellend zu beantworten sind. Er kann belegen, dass Schlösser – die grundlegenden Überzeugungen vorausgesetzt – sich im polykratischen Machtapparat der Nazis durchaus opportunistisch zu bewegen vermochte. Warum Schlösser bestimmte Ämter gewann und verlor, bleibt ungewiss und lässt sich anhand der überlieferten Dokumente wahrscheinlich auch nicht mehr herausfinden. Klar wird jedenfalls, dass in so gut wie allen Theaterfragen unterhalb von Richtlinienerlassen Schlösser relativ autonom entscheiden konnte. Der Reichsdramaturg sicherte seine Macht auch dadurch, dass er den Theatern kaum grundsätzliche Vorgaben bekanntmachte, sondern Einzelfallentscheidungen traf, die die Betroffenen von seiner Gunst abhängig machten.

Tagebucheintragungen Goebbels’ zeigen ihn zuweilen zufrieden mit der Arbeit seines Theaterfachmanns, zuweilen genervt von dessen langsamem und legalistischem Vorgehen. Hüppauf nimmt dies nicht zum Anlass, Schlösser als relativ gemäßigten Nazi, der darum Ärger mit seinem Chef bekam, zu entschuldigen. Vielmehr reflektiert er überzeugend das Verhältnis von radikalisierenden Akteuren an der Spitze und einer Beamtenschaft im Gefolge, die einerseits Zuspitzungen abschleift, andererseits durch Pragmatismus und Erfahrung erst eine gründliche Umsetzung der radikalen Entwürfe erlaubt.

Das durchaus interessante Buch hat Schwächen. Manches ist ohne Reflexion aus dem Recherche-Zettelkasten ausgekippt: So parallelisiert Hüpping Schlössers Klage aus der Weimarer Republik über die angebliche „Verjudung“ der Kleist-Preis-Vergabe mit Kurt Hillers Befürchtung von 1911, der Preis könne ein „Institut zur Förderung der Seichtheit, Behäbigkeit, Süßigkeit“ werden. Wenn zwei Leute die gleiche Sache kritisieren, heißt dies noch lange nicht, dass sie gleicher Meinung wären. Auch ist Hüppings Umgang mit Zahlen im Einzelfall allzu locker: Die 273 Milliarden Reichsmark, die er von Seiten des Propagandaministeriums zwischen 1933 und 1945 an die Theater gezahlt hätte, wären geeignet, die politische Standhaftigkeit auch manches heutigen Intendanten auf die Probe zu stellen. Es waren aber nur 273 Millionen.

Wichtig (und in großen Teilen neu) sind die Erkenntnisse zu Schlössers Aktivitäten in den letzten Kriegsjahren, in denen es darum ging, einerseits möglichst viele Bühnenbeschäftigte an die Front zu schicken, andererseits einen minimalen Spielbetrieb aufrechtzuerhalten.

Eine Nachkriegskarriere blieb ihm verwehrt. Bei der Befreiung Berlins wurde Schlösser von der Roten Armee gefangengenommen und im August 1945 hingerichtet. Es war das konsequente Ende einer Gewaltlaufbahn, die Hüppich von ihrem Beginn im völkisch ausgerichteten Elternhaus bis zum Tod durch Erschießen überzeugend nachzeichnet.

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Stefan Hüpping: Rainer Schlösser (1899-1945). Der "Reichsdramaturg".
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2012.
335 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783895289521

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