Volksheld oder Schwerverbrecher

J.R. Moehringers komisch-traurige Krimi-Ballade

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

New York, Weihnachten 1969. Ein Mann wird entlassen. Vor dem Gefängnis empfängt ihn eine große Schar von Journalisten, heiß auf seine Geschichte. Der entlassene Häftling ist Willie Sutton. Legendär wurde er nicht nur durch seine Banküberfälle, bei denen er zwei Millionen US-Dollar erbeutete, ohne jemanden zu verletzen, und durch drei spektakuläre Ausbrüche aus Gefängnissen. Sutton hat Platon, Dante und Hemingway gelesen. Doch dieser intellektuelle Robin Hood ist wählerisch. Seine Story gibt es nur exklusiv. Mit einem hartnäckigen Reporter, genannt „Schreiber“, und einem bekifften Fotografen, genannt „Knipser“, fährt er die Orte seiner Vergangenheit ab.

Das geschieht in einem sienabraunen Dodge Polara, einem umgebauten Polizeiwagen mit kaputtem Auspuff und gebrochenen Radachsen. So begleiten wir Sutton durch das verschneite New York, hören die Stones, die Nachrichten von Bankpleiten und Studentenunruhen. Eine verrückte Welt, aber wie verrückt muss sie sein für jemanden wie Sutton, der gerade siebzehn Jahre hinter Gittern verbracht hat.

Genau das ist die Ausgangssituation für den Roman „Sutton“ des amerikanischen Schriftstellers und Pulitzer-Preisträgers J. R. Moehringer. „Sutton“ ist, nach dem Bestseller „Tender Bar“, sein zweiter Roman. Der Titel der deutschen Übersetzung „Knapp am Herz vorbei“ klingt sentimental, was so gar nicht zum kaltschnäuzigen Duktus Suttons passt.

Moehringer, der Reporter bei der „Los Angeles Times“ war, hat sein Sujet genau studiert. Der reale Sutton, der 1980 starb, hat zwei in sich widersprüchliche Autobiografien geschrieben. Im März 1952 hatte er es mit seiner Geschichte sogar in das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ geschafft. Die Headline lautete damals „Der Mörder ohne Gesicht“. Sie bezog sich auf den Mord an dem jungen Kleiderverkäufer Arnie Schuster, der den flüchtigen Sutton 1952 in einer U-Bahn erkannt und der Polizei ausgeliefert hatte. Nach dem Mord an Schuster schlägt die Stimmung um. Sutton ist nicht mehr der verratene Volksheld, sondern erscheint als möglicher Auftragskiller im Hintergrund. Ob und wie er in den Mordfall verwickelt war, können auch die Journalisten nicht klären.

Wer ist Sutton nun wirklich? Die Autofahrt mit den Journalisten ist ein überaus passender Rahmen für diese Frage. Denn seine Vita ist im wahrsten Sinne bewegend, und er hat, meint „Schreiber“, eigentlich drei Leben geführt: „Eines, an das er sich erinnerte, eines, das er den Leuten erzählte, und eines, das sich wirklich abgespielt hat.“ Aufgabe der Journalisten ist es, diese multiple Biografie des ebenso wortkargen wie lebensklugen Kriminellen zu protokollieren. Doch außer markigen Sprüchen wie „Banken und Bräute solltest du immer zu deinen Bedingungen verlassen, bevor es zu spät ist“ bekommen sie von dem Mitfahrer relativ wenig zu hören.

Weitaus mehr geben Willie Suttons Erinnerungen her, die Moehringer aus überlieferten Berichten und fiktionalen Eingebungen breitformatig einblendet. Hier lernen wir einen abenteuernden „Geschichtenerzähler und Liebenden“ kennen, der im irischen Viertel von Brooklyn im falschen Milieu aufwächst, mit brutalen Brüdern und hilflosen Eltern, der bald auf die schiefe Bahn gerät und trotz mancher ehrlicher Arbeitsversuche als Gärtner oder Altenpfleger nicht von seiner Leidenschaft, Banken auszurauben, lassen kann, weil, wie er sagt, „dort das Geld liegt“. In den Erinnerungen von Moehringers Sutton geht es um Einbrüche, um Verkleidungen („Willie the Actor“ war sein Spitzname), um hochpräzise Fluchtplanungen und weniger raffinierte Verstecke, schließlich um die anspruchsvollen Lektüren, zu denen Sutton während der über dreißigjährigen Haftzeit reichlich Zeit hatte. Die FBI-Akte notiert, dass er Klassiker las, und als die Zeitungen die Leseliste des Bankräubers veröffentlichen, ist Proust am nächsten Tag in allen Buchhandlungen vergriffen. Und es ist zugleich die Geschichte einer frühen großen, vielleicht „wahnhaften“ Liebe: zu dem reichen Mädchen Bess, mit der er einst den Safe ihres Vaters knackte und durchbrannte, bevor sie ihn eines anderen wegen verließ.

Eine brisante Mischung aus Wunsch und Wirklichkeit also; die wahre Geschichte muss sich der Leser daraus selbst zusammenpuzzeln. Dabei kommt das faszinierende Porträt des wohl literarischsten Kriminellen Amerikas zustande. Was es über das Geigenspiel aussage, wenn der Geiger ein Dieb ist, hat Oscar Wilde einmal gefragt. Nun: Moehringers Sutton ist ein wunderbarer Geschichtenerzähler, er raubt einiges, nur nicht die Lesefreude. Episodisch komisch und zugleich grundtraurig, spannend, rasant und kantig, mit wenigen Reflexionsoasen und ohne moralischen Zeigefinger, erzählt J.R. Moehringer vom Leben eines belesenen Bankräubers.

Titelbild

J. R. Moehringer: Knapp am Herz vorbei. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013.
440 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100496034

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