Weg vom Schreibtisch, Weg zum Schreibtisch

Kultur als Praxis: Ein Sammelband untersucht, wie der Literaturbetrieb den Autor macht und dieser den Betrieb steuert

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es fehlt an einer schlüssigen Theorie der Gegenwartsliteratur. Neuere kulturwissenschaftliche Ansätze schließen an Pierre Bourdieus Feldtheorie und an Niklas Luhmanns Systemtheorie an. Aus der Literaturwissenschaft kommen selten Impulse. Aber es gibt Ausnahmen. Im Juli 2010 fand in Zusammenarbeit von Graduierten- und Promotionskollegs der Universitäten Paderborn und Göttingen ein Workshop zum Thema „Doing Contemporary Literature“ statt. Die englische Formulierung ist keine Schönfärberei. Sie würdigt Literatur als eine Sache von Aktion und Kritik, nicht nur als Gegenstand historisierender wissenschaftlicher Betrachtung. Praktiken, Wertungen und Automatismen der Gegenwartsliteratur stehen diesem praxeologischen Verständnis zufolge im Mittelpunkt des von Maik Bierwirth, Anja Johannsen und Mirna Zeman herausgegebenen Sammelbandes.

Im Kern geht es um die Frage, wie Wissen in einer Literaturgesellschaft produziert wird, die sich von der bildungsbürgerlichen Funktion, die Identität dieser Gesellschaft zu stiften und abzusichern, auf eine „Informatisierung und Telemediatisierung“ umgestellt hat, wie es in dem Band „Kanon, Wertung und Vermittlung“ (2012) heißt, den man parallel zu dem hier anzuzeigenden Buch heranziehen sollte. Das implizite und explizite Wissen der Gegenwartsliteratur wird – so der Ausgangspunkt der Beiträge – von den Routinen, Strategien und Skandalen des Literaturbetriebs erzeugt. Anders gesagt: Was Gegenwartsliteratur ist, verrät ihr Vollzug in der Praxis, ihre Performanz.

Damit sind zahlreiche Bereiche angesprochen, die in den einzelnen Beiträgen detailliert erörtert werden. Die Wertung ist eine Wasserscheide des Gegenwartsverständnisses. Woran erkennt man, ob ein Werk wirklich gut ist? Hier kommt die Kritik ins Schwimmen. Matthias Beilein, Leiter des Schreibzentrums an der Universität Tübingen, gelernter Buchhändler, promovierter Gegenwartsliteraturwissenschaftler, kennt die Stolpersteine der Wertung: die Spannungen zwischen Haltbarkeits- und Verfallsdatum eines neu erscheinenden Werkes, das „Zeitflüchtigkeitsproblem“ (Norbert Otto Eke), die Unabgeschlossenheit des Werkes lebender Autoren, der eingeschränkte Zugang zu quellenkritischen Zeugnissen. Er plädiert dafür, den Schreibtisch zu verlassen und – beispielsweise – mit Studierenden den Weg vom Manuskript zum gedruckten Buch zu simulieren und das ,Gute‘ an diesem Buch, also die Ursprünge der Wertung kritisch zu befragen.

Nun muss das Buch aber erst einmal gelesen werden, um herauszufinden, ob es gut ist. Damit hängt der Wandel der Bewertungspraxis von Lesern zusammen, die den Weg des Buches in die Öffentlichkeit etwa durch Laienrezensionen mitprägen. Aber auch die Vorsteuerung der Lektüre durch die Vermittlungsinstanzen des Literaturbetriebs, denen sich einige Beiträge unter der Überschrift „Modestoffe und Referenzökonomie“ widmen.

Wichtig ist die Selbstkanonisierung des Autors. Die interessantesten Fälle der Aufmerksamkeitsökonomie sind die, bei denen der Autor schon im Stadium der Entstehung seines Buches an dessen Vermarktung mitwirkt. Das wird von dem Göttinger Germanisten Gerhard Kaiser an dem Fall des späten Thomas Mann demonstriert. In der Schrift „Die Entstehung des Doktor Faustus“ aus dem Jahr 1949 gelang Thomas Mann das Kunststück, sich selbst in einer genialischen Reihe mit James Joyce zu platzieren, dessen epochale Romane „Ulysses“ (1922) und „Finnegans Wake“ (1939) er zwar nicht gelesen hatte, deren Autor er aber für die Selbstkanonisierung benötigte. Thomas Mann erfand sich mit Joyce neu und befestigte, wenn man so sagen darf, auf diese Weise den abbröckelnden Sockel der klassischen Moderne im literarischen Feld der Nachkriegsmoderne.

Ein anderer, von Doris Moser (Klagenfurt) wie auch von Philipp Theisohn (Zürich) untersuchter Fall von Autor-Inszenierung liegt mit Helene Hegemann vor, die mit ihrem Buch „Axolotl Roadkill“ (2010) eine handfeste Diskussion um die Rolle von Urheberrecht und Plagiat auslöste. Eine Debatte, in der die vermeintliche Qualität des Buches wiederum mit dessen Diskussionszündstoff verwechselt wurde. Mit ihrem sich freizügig aus fremden Blogs bedienenden Buch hat die Autorin ihr eigenes Werk sozusagen überrollt und bevormundet; sie „kann nicht erzählen, aber sie hat etwas zu sagen“, so zitiert Doris Moser in ihrem erhellenden Beitrag einen Kritiker.

Da hilft es, wenn Philipp Theisohn vom ontologischen Gesetz schreibt, welches Autor und Erzählen als zwei differente Seinsbereiche trennt. Damit kommt weder die Verlagswerbung noch die Kritik gut zurecht. Beide fördern Übergriffe zwischen Autormarke und Erzählqualität, weil sie dadurch die Aufmerksamkeit für beides erhöhen. Es ist nicht tragisch, wenn Realien in fiktionale Texte kommen und Fiktionales in die Realität wechselt. Man muss es nur unterscheiden können. Sonst verläuft man sich mit dem Stadtplan aus Uwe Tellkamps Dresden-Roman „Der Turm“ im Stadtviertel „Weißer Hirsch“. Es ist der Text, der die zerbrechliche Linie der literarischen Wirklichkeit signalisiert, weniger der Autor und der Leser.

Der Sammelband „Doing Contemporary Literature“ ist ein Kompass in der wilden Ordnung der Gegenwartsliteratur. Er zeigt eine akteur- und praxisorientierte Orientierung an. Das Motto heißt: die Erfahrungen erforschen. Das Theoriedefizit wird damit nicht aufgehoben. Aber es ist möglich, mit dieser weg vom Schreibtisch in den Betrieb führenden Orientierungshilfe auch wieder den Weg zurück zum Schreibtisch zu finden, um das theoretische Fundament dieses Gegenwartsliteraturbetriebs zu verstehen. Und das wäre ein guter Anfang.

Titelbild

Maik Bierwirth / Anja K. Johannsen / Mirna Zeman (Hg.): Doing Contemporary Literature. Praktiken, Wertungen, Automatismen.
Wilhelm Fink Verlag, München 2012.
286 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770553990

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