Vom Umgang mit dem Tod

Anna Enquists Roman „Die Betäubung“ wirft einen gnadenlosen Blick auf den Schmerz

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Tod seiner Frau Hanna stürzt den Psychoanalytiker Drik de Jong in eine tiefe Krise, er sieht sich lange außerstande, seine Arbeit wieder aufzunehmen, zu sehr ist er mit dem Schmerz, den der Verlust ausgelöst hat, beschäftigt, als dass er auf andere Menschen, ihrerseits in Krisensituationen, hätte eingehen können. Doch als ihm ein Kollege einen Patienten vermittelt, wagt er den Schritt – und scheitert. Es gelingt ihm nicht, zu Allard Schuurman, der nun also seine Hilfe in Anspruch nehmen will, durchzudringen, dieser bleibt für den Arzt ein Rätsel, er vermischt die Ebenen und verliert die professionelle Haltung.

Und erneut holt ihn ein, dass und wie Hanna gestorben ist. Er zieht sich immer mehr zurück, einzig zu seiner Schwester Suzan und ihrer Familie besteht der Kontakt weiterhin. Suzan, die als Anästhesistin im Krankenhaus arbeitet, hat ihre Schwägerin bis zu deren Tod begleitet. Das hat die Geschwister sehr stark aneinander gebunden. Drik fand und findet weiterhin Zuflucht bei Suzans Familie, und diese hat er bitter nötig. Auch Suzan ging Hannas Sterben sehr nahe, doch anders als Drik stürzte sie sich immer mehr in ihre Arbeit, die ihr gefällt und sie erfüllt. Sie braucht die Bestätigung, dass sie gebraucht wird und dass sie Verantwortung übernehmen kann und muss. Im Krankenhaus ist sie hoch angesehen, mit Mann und Tochter fühlt sie sich eng verbunden, die Beziehung zum Bruder trägt vieles zu ihrer Stabilität bei.

Trotzdem geht Suzan einen Schritt zu weit – und lässt sich mit einem jungen Praktikanten ein, völlig blöd und wie in einem schlechten Film, nämlich im Nachtzimmer auf der Station. Dass es sich bei dem Mann ausgerechnet um diesen seltsamen Allard Schuurman handelt, macht die Sache nicht eben besser. Suzan scheint nicht länger die starke Schwester, Ehefrau und Mutter zu sein, sondern lässt sich tief fallen, in die Niederungen von Sex im Krankenhaus.

Eine solche Geschichte könnte sehr peinlich werden – doch das ist sie nicht, wenn Anna Enquist sie erzählt. Ihr gelingt das Kunststück, die Leserinnen und Leser in höchste Spannung zu versetzen. Handlungen, die andernorts (so auch im realen Leben!) nur lächerlich werden, sind hier in einer tragischen Konstellation verortet. Reaktionen, die eher in das Pubertätsalter passen, werden so dargestellt, dass sie nachvollziehbar sind, ohne dass man ein allzu simples Verständnis entwickelte.

Dass der holländischen Autorin Anna Enquist (geboren 1945 in Amsterdam) in diesem Roman dieses erzählerische Kunststück gelingt, muss damit zusammenhängen, dass sie zum einen eine großartige Schriftstellerin ist, zum andern aber sich über mehrere Monate regelmäßig in der Anästhesiologie im Klinikum der Freien Universität Amsterdam aufhielt und dort Einblick nahm in den Alltag dieser Abteilung. Das Projekt „Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf der Abteilung“ faszinierte die ausgebildete Pianistin und Klinische Psychologin, die längere Zeit als Psychoanalytikerin arbeitete, und sie entschied sich nach der Anfrage für die Anästhesiologie, denn hier sah sie Verbindungen zur Psychoanalyse, denn: „In meinem eigenen Fachgebiet, der Psychoanalyse, gehen wir davon aus, dasss es für den Patienten in den meisten Fällen heilsam ist, zu fühlen, was in ihm vorgeht. Dazu muss der Widerstand gegen das verborgene Gefühl bearbeitet und aufgehoben werden. Wenn das Gefühl wirklich erlebt werden darf, kommt es zur Ruhe, und die Symptome verschwinden. Der Anästhesist dagegen schützt seinen Patienten vor dem Fühlen und betrachtet seine Arbeit als gelungen, wenn der Patient überhaupt nichts von den Schmerzen weiß, die ihm während einer Operation zugefügt werden.“ Den Gegensatz – oder ist es nur ein vermeintlicher Gegensatz? – arbeitet sie in „Die Betäubung“ meisterhaft heraus.

Diesen leisen Roman über Umgang mit Schmerz, Verlust, mit Sterben und Tod und dem Leben davor zu lesen, hinterlässt Spuren. Die leichte Sprache – die deutsche Übersetzung stammt von Hanni Ehlers – täuscht nicht darüber hinweg, dass große Gefühle aufbrechen können, obwohl es sie vermeintlich gar nicht gibt. Auch wenn am Ende für alle ein Scherbenhaufen bleibt, ist der Roman nicht ein depressiv stimmender, vielmehr regt er an, sich den Fragen nach Gefühlen und deren Betäubung zu stellen. Und er überträgt die Faszination der Autorin für die Anästhesiologie und deren Verständnis vom Menschen.

Titelbild

Anna Enquist: Die Betäubung. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Luchterhand Literaturverlag, München 2012.
320 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783630874005

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