Von den Verwandlungen eines Schriftstellers

Erwin Strittmatter – Eine Biografie von Annette Leo

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als „Nationalschriftsteller einer halben Nation“ („Der Spiegel“), brandenburgische Identitätsfigur von heute und als Theodor Fontane des 20. Jahrhunderts ist er bezeichnet worden: Erwin Strittmatter, dessen Bücher in an die 40 Sprachen übersetzt wurden. Was war er: Heimatdichter, Volksschriftsteller, Jahrhundertzeuge? In der DDR hatte er eine große Lesergemeinde, und es war dann die Romantrilogie „Der Laden“ und deren Verfilmung für das Fernsehen, die das Werk des 1994 verstorbenen Schriftstellers auch im vereinigten Deutschland bekannt machten. 2008 enthüllte Werner Liersch, dass Strittmatter im Zweiten Weltkrieg einem Polizeibataillon angehörte – es wurde später in das SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regiment Nr. 18 integriert –, das in Polen und auf dem Balkan an Aktionen gegen die Zivilbevölkerung beteiligt war. Muss also von einer damaligen SS-Mitgliedschaft ausgegangen werden, die der Autor in seinem Lebenslauf verschwiegen hatte? Günther Drommer, der Biograf Strittmatters, antwortete, indem er den „Fall Strittmatter“ mit der grundsätzlichen Frage nach der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit in Ost- und Westdeutschland verband.

Auf diesem Terrain der Vorwürfe und Entgegensetzungen, wobei auch Strittmatters eigene Stilisierungen zu hinterfragen waren, ist Annette Leos Strittmatter-Biografie erschienen, vom Verlag apodiktisch als „Die Biographie“ bezeichnet. Die Biografin ist Historikerin, sie outet sich als Angehörige der zweiten Generation, die in der DDR gelebt hat – und mit den Büchern Strittmatters aufgewachsen ist –, deren Eltern in der Nazi-Zeit im Widerstand und/oder im Exil waren. Wurde Günther Drommers Strittmatter-Biografie „Des Lebens Spiel“ (2000) noch im intensiven Kontakt mit Eva Strittmatter geschrieben und ganz von einem respektvollen Verständnis dem Schriftsteller gegenüber bestimmt, der im märkischen Schulzenhof zum „Weltdichter“ geworden ist, so setzt sich Annette Leo nun viel kritischer mit der Biografie auseinander. Denn sie konnte dem Lebensweg Strittmatters auf der Grundlage neuen Archivmaterials, bisher unbekannter Briefe und Tagebucheintragungen nachspüren, hat Familienangehörige, Freunde und Schriftstellerkollegen Strittmatters befragt.

Schon 1994 stellte die 2011 verstorbene Eva Strittmatter fest: „…er hat nie die reine oder platte Wahrheit gesagt, hat seinen Lebensstoff in seinen Arbeiten stets verändert und sich kaschiert. Wenn man sein Leben aus den Büchern rekonstruieren wollte, müsste man eine unsichtbare Seite des Mondes hinzufügen. Es gibt bei ihm immer jene abgewandte Seite. Ich habe Teile seiner Tagebücher gelesen, bei denen ich weiß, was in Wirklichkeit geschah. Er hat immer seine eigene verwandelte Wirklichkeit aufgeschrieben. Wenn sein Leben rekonstruiert werden sollte, brauchte man Zeugen; seine Schriften, auch die Tagebücher, sagen nicht alles, jedenfalls nicht über das Faktische“. Auch die Tagebücher sind also schon stilisiert und dienten weniger der Aufzeichnung authentischer Ereignisse, sondern mehr als Material für die spätere schriftstellerische Arbeit.

Der Versuch, „die Lebensgeschichte Erwin Strittmatters, quer zu seinen literarischen Selbstkonstruktionen, mit Hilfe von Dokumenten und Zeitzeugenberichten neu zu erzählen“, so sagt Annette Leo, würde lückenhaft bleiben, und er würde subjektiv gefärbt sein. Und doch geht sie von der Überzeugung aus, dass Strittmatters Hauptthema darin bestehe, die Kindheit und Jugend eines Jungen aus einem Lausitzer Heidedorf bis zum Erwachsenwerden nachzuzeichnen. Deshalb sucht sie ständig autobiografische Züge in den Romanen und Erzählungen des Schriftstellers nachzuweisen. Muss aber nicht davon ausgegangen werden, dass der Autor sich keineswegs nur „schreibend ein Bild von der eigenen Lebensgeschichte zu machen“ versucht, sondern mit verschiedenen Identitäts- und Lebensentwürfen experimentiert hat und so auch vom Leser nicht mehr als festlegbare Person greifbar wird?

Auf der Grundlage der ihr zugänglich gewordenen Materialien skizziert Annette Leo ein der Realität möglichst nahekommendes lebensgeschichtliches Porträt des Autors: Im September 1939 hatte sich Strittmatter freiwillig zur Wehrmacht gemeldet, sich bei der Schutzpolizei und schließlich bei der Waffen-SS beworben, um seinem unbefriedigenden Dasein zu entkommen. Er diente als Schreiber seines zur Partisanenbekämpfung in Slowenien eingesetzten Polizei-Bataillons, das später in das SS-Gebirgsjäger-Regiment Nr. 18 integriert wurde. Welche Rolle er aber bei dieser sogenannte „Befriedigungsaktion“ oder beim späteren „Wach- und Streifendienst“ im Generalgouvernement Krakau oder bei der „Bandenbekämpfung“ in Griechenland spielte, kann nicht nachgewiesen werden. In den Wirren des Kriegsendes tauchte er dann bei einer Bauernfamilie in Böhmen unter, was er später in den Verhören der Amerikaner als Desertation bezeichnete.

Strittmatter hatte im Dokumentarfilm von 1991 gesagt, er sei, nachdem er sich eine Weile gezwungen habe, vom Marxismus überzeugt zu sein, am Ende seines Lebens zu seinen weltanschaulichen Wurzeln – den taoistischen und buddhistischen Erkenntnissen – zurückgekehrt. Er habe nur einen Umweg über den Marxismus gemacht. Muss man von einer Wandelbarkeit des autobiografischen Gedächtnisses bei Strittmatter sprechen? 1958 schrieb er im damals üblichen selbstkritischen Duktus, er habe in der NS-Zeit ein „einzelgängerisches, völlig unpolitisches Dasein“ geführt – das wäre sein Weg von der bürgerlichen Versponnenheit zur marxistischen Klarheit gewesen. 1971 kehrte er seine frühere Bewertung völlig um: Arthur Schopenhauer würde er seine Skepsis gegen die Nationalsozialisten verdanken. Hat Strittmatter sich eine andere Vergangenheit erdichtet? Waren die Schichten von Schweigen und Ausflüchten, Vereinfachung und Umdeutung so angewachsen, dass er an die ursprünglichen Erlebnisse nicht mehr herankam? Wollte er ein sehr persönliches Schuldbewusstsein abwehren?

Zusammenhänge und Widersprüche aufzudecken, Faktisches und Stilisiertes zu trennen, die Fakten zwar zu benennen, aber keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, das sieht Annette Leo als ihre Aufgabe an. Aber dass Strittmatter „immer seine eigene verwandelte Wahrheit aufgeschrieben“ hat, wie das Eva Strittmatter bekannte, bezieht sie nicht in ihre Verfahrensweise ein. Schreiben war für Strittmatter Lebensbedürfnis, Daseinsbewältigung, Obsession. Ihm ordnete er alles unter, auch seine persönlichen Beziehungen. Der ostdeutsche Staat förderte ihn, erwartete aber auch von ihm, dass er diese Förderung honorierte. So hielt er sich aus allen politischen Entscheidungen heraus, akzeptierte im Wesentlichen die Politik von Partei und Regierung. Nach dem Erfolg des „Ochsenkutschers“ hatte er eine „Symbiose von Schriftsteller und Funktionär“ vollzogen, die er später dann wieder aufzulösen suchte.

Strittmatter hat viele der Parteidogmen mit voller Überzeugung vertreten. Als 1. Sekretär des Schriftstellerverbandes betrieb er den harten Kurs, den er 1958 auf der Realismus-Konferenz gefordert hatte. Die Enthüllungen über die Verbrechen der Stalinzeit bedeuteten für ihn gleichermaßen einen Schock wie eine Befreiung. Der Prozess der Distanzierung, so schlussfolgert die Biografin, verlief in Form eines „Zickzackkurses“. 1954 erfolgte sein Umzug nach Schulzenhof, wo er sich nun eine eigene Welt erschuf. Es begann der Prozess seiner Lösung aus der gläubigen SED-Abhängigkeit. 1972 wollte er aus der Partei austreten, fürchtete aber, wie er im Tagebuch schreibt, „dann würde man ein Hexentreiben gegen den ‚abgefallenen‘ Str(ittmatter) eröffnen. Meine Nerven wären dem nicht gewachsen, jedenfalls würde ich lange Zeit nicht schreiben können, müsste mein Werk unterbrechen. Niemand wäre geholfen“.

Schon in den 1960er-Jahren hatte Strittmatter begonnen, sein Verhältnis zur Gesellschaft neu zu formulieren. Jetzt kam es zu jener Kluft zwischen dem Bild des loyalen und vielfach geehrten Schriftstellers, das er nach außen bot, und dem enttäuschten, zornigen Schreiber des Tagebuchs. Was war das: Feigheit, Anpassung oder diplomatisches Taktieren, fragt Leo. Seine Aphorismen-Sammlungen sind wie die Tagebuchnotizen ein Spiegel von Strittmatters Ringen um Gleichmut und Gelassenheit – ein Ziel, das er immer wieder verfehlte, denn seine seelische Instabilität, seine Schwankungen zwischen Wut und depressiver Verzweiflung standen ihm im Wege.

In einer Schriftsteller-Biografie möchte man auch etwas über das schriftstellerische Schaffen erfahren: Welche Richtung nimmt es, welche ästhetischen Strukturen liegen der künstlerischen Gestaltung zugrunde? Strittmatter ist keineswegs nur der Chronist der proletarisch-bäuerlichen und kleinbürgerlichen Gesellschaftsschicht im heimatlichen Wirklichkeitsaufriss, sondern ein Autor, der sich im Gespräch und schöpferischen Austausch mit anderen Autoren befand und so bestimmte Darstellungstechniken umzusetzen versuchte. Sollte man nicht die durchaus komplizierten ästhetischen Strategien, die in Teilen seines Werkes strukturbildend sind, ebenso zur Kenntnis nehmen, wie die besondere Darstellungsabsicht, die sich in seinen Geschichten und Romanen dokumentiert, und sie nicht nur als bloße protokollarische Zeitzeugenschaft verstehen?

Es reicht nicht aus, Strittmatters Werke nur nach ihren versteckten autobiografischen Botschaften zu befragen. Weder Lope Kleinermann, der Held aus dem „Ochsenkutscher“, noch Stanislaus Büdner oder Esau Matt sind mit dem Autor gleichzusetzen. Sie sind eine Symbiose von Dichtung und Wahrheit. Weil die Biografin im „Wundertäter“ und dessen Meisterschelm Stanislaus Büdner allein nach authentischen Quellen sucht, verkennt sie, dass wir es hier mit einer spezifischen Romanform, mag man sie nun als Umkehrung des Erziehungs- und Bildungsroman oder als Schelmenroman bezeichnen, zu tun haben, in dem Ironie und Persiflage betrieben wird. Strittmatter verfremdet, er nimmt zwar die Wirklichkeit der DDR an, aber er umschreibt sie. Seine Figuren sprechen von der „Sache“, von der „Partei“, von „Espede“ und „Kapede“, von der „Sed“ und vom „Ländchen“. Es ist wohl Henning Gloege zuzustimmen, der den „Wundertäter“ als Komödie bezeichnet und Strittmatter bescheinigt, dass er sich in seiner Darstellung im Grunde an Karl Marx gehalten habe, nach dem „die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ihre Komödie ist“. Andererseits benennt Strittmatter auch andere Arbeiten wie etwa „Grüner Juni“ als ein Stück seiner Lebensgeschichte.

Das macht doch einen Schriftsteller aus: Er sucht das Leben zu verdichten. Man lässt weg, fügt hinzu, übertreibt das Wesentliche, Erinnerungen werden der Verwandlung unterzogen. „Was ich niederschreibe, gleicht niemals dem, was vorher in mir war und mich bedrängte“. Und an anderer Stelle: „Das Sehen, das Auswählen, das Überhöhen – das ist die Dreieinigkeit in der Kunst“. Strittmatter macht im „Wundertäter“ Krieg zum Gegenstand eines Schelmenromans, kündigt aber schon im „Vorspiel“ an, dass es jetzt um „Leben und Leiden“ seines Helden Stanislaus Büdner geht. So wird daraus eine Passionsgeschichte.

Eine Geschichte entsteht bei Strittmatter aus der anderen, typisch für ein mündliches Erzählen auf dem Lande. Dieses Konzept des assoziativen Erzählens – Eva Strittmatter nannte es das „Erzählen in Blasen“ – liegt auch seiner „Laden“-Trilogie zugrunde. Im Gegensatz zu früheren Romanen wird nicht linear, chronologisch erzählt. Durch schweifende Assoziationen wird ein Springen in der erzählten Zeit erreicht. Das Erzählen kann nach oben und unten ausgeweitet werden, es kann in die Tiefe gehen oder von der Handlung abschweifen. Es wird zur Seite erzählt. Stück für Stück, wie bei einem Puzzle, stellen sich die Zusammenhänge her. Das gibt dem Text jene schwebende Leichtigkeit und ungeheure Dichte. Der Leser wird in die Lage versetzt, „hinter die Dinge zu sehen“. Hinter der ersten, der Handlungsebene, verbirgt sich eine zweite, eine Sinnebene.

Annette Leo zeigt Strittmatter als einen Meister der List, der Täuschung, des Andere an der Nase herum Führens. Hat er das von Bertolt Brecht gelernt? Sie rückt biografische Fakten in ein neues Licht, immer streng an den Quellen orientiert, aber sie demontiert nicht einen großen Schriftsteller, bei dem wie bei so vielen Schriftstellerkollegen Biografie und Werk nicht deckungsgleich sind. Sie legt nicht „Die Biographie“ vor, sondern eine zweifellos wichtige und notwendige; denn es ist voraussehbar, dass sie in absehbarer Zeit wieder von einer anderen abgelöst wird. Zudem liegt Strittmatters schriftstellerischer Rang nicht in erster Linie in den Umständen seiner Biografie, sondern in seiner erzählerischen Kraft, die ihn durchaus bis zuletzt Anschluss an eine wiedervereinigte Literatur finden ließ.

Titelbild

Annette Leo: Erwin Strittmatter. Die Biographie.
Aufbau Verlag, Berlin 2012.
447 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783351033958

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