Eine Erinnerung an unsere Einmaligkeit

Oder: Wozu Lyrik nach Joseph Brodsky gut ist

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

„Wozu Lyrik heute“ hat Hilde Domin ihr 1968 zuerst erschienenes Buch über ‚Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft’ genannt. Sie hat im Titel aus einer seinerzeit oft gestellten Frage eine Feststellung gemacht, um anzuzeigen, dass die Lyrik sehr wohl eine Aufgabe in unserer Zeit habe. Das ist schon damals nicht ganz durchgedrungen. Andere haben die Feststellung gleich wieder in eine Frage zurückverwandelt, wie Arnfrid Astel in seinem Epigramm

Ja, wozu eigentlich?
Hilde Domins Frage
„Wozu Lyrik heute“
erinnert mich an einen Witz,
wo der Leutnant
den Rekruten fragt:
„Weshalb soll der Soldat
das Gewehr nicht fallen lassen?“
worauf dieser antwortet:
„Ja, warum soll er eigentlich nicht?“

Das ist zweifellos witzig gemeint: mit einem Witz in einem Gedicht Gedichte in Frage zu stellen. Und doch wirkt der flotte Selbstzweifel auch etwas kleinmütig – wenn man liest, was anderen Dichtern zu ihrer Frage der Fragen eingefallen ist.

Joseph Brodsky zum Beispiel. 1940 in Leningrad geboren, 1972 nach einem Gefängnisaufenthalt ausgebürgert und in die USA ausgewandert, gehörte er zu den am höchsten ausgezeichneten Lyrikern seiner Zeit. 1987 erhielt er, vergleichsweise früh im Leben, den Nobelpreis für Literatur – und doch auch vergleichsweise spät: Er lebte danach keine zehn Jahre mehr. 1996 starb er in New York. In seiner Nobelpreisrede, einer der bemerkenswerteren ihrer Art, die ihn als glänzenden Essayisten ausweist, versuchte Brodsky darzulegen, wozu Lyrik da ist. Er tat das in einer Mischung aus Bescheidenheit und Selbstbewusstein, Nüchternheit und Übertreibung und bei allem Ernst nicht ohne Ironie. Seine Rede ist auch heute noch lesens- und bedenkenswert.

Die Schlüsselwörter seiner Poetik mögen allerdings zunächst Vorbehalte wecken: „Privatheit“, „Individualität“, „Geschmack“ und „Stil“. Also die altbekannte elitär-subjektivistische Poetik? Nein. Wenn Brodsky die Lyrik auch an das Subjekt oder, besser, an das Individuum bindet, so gerät ihm die Gesellschaft doch nicht aus dem Blick. Und er wehrt sich entschieden dagegen, in der Beschäftigung mit Literatur das „Privileg einer Minderheit“ zu sehen: „Anders als in anderen Bereichen sind wir auf diesem Gebiet von Natur aus gleichberechtigt“. Nach Brodsky müssen wir von unserem Recht nur Gebrauch machen. Denn „ein Gedicht springt den Leser frontal an, sozusagen tête-à-tête, und tritt ohne Mittelsmänner mit ihm in Kontakt.“ Wir stehen alle unmittelbar zur Kunst, wenn wir sie wollen.

Brodskys Hauptgedanke steckt in zwei Sätzen: „Wenn die Kunst den Künstler – in erster Linie – überhaupt etwas lehrt, dann ist es die Privatheit der menschlichen Existenz. Als älteste Form der Privatinitiative fördert sie in jedem Menschen, wissentlich oder unwissentlich, das Bewusstsein seiner Einzigartigkeit, seiner Individualität und Einsamkeit.“ Das ist ein einfacher und schöner Gedanke, der für alle Literatur gelten mag, für Lyrik aber besonders und besonders wiederum für moderne Lyrik. Sie will jedes Mal etwas so machen, wie es noch nicht war. Brodsky versteht das als Appell. Gedichte, weil sie einmalig sind, ermahnen uns, es auch zu sein. Sie erinnern uns an unsere Einzigartigkeit.

Der „Individualismus“ hat in seiner Poetik allerdings eine anthropologische Bedeutung. Jeder, ob er „Leser oder Schriftsteller“ sei, hat nach Brodsky „zuallererst die Pflicht, ein Leben zu meistern, das nur ihm gehört, und das ihm nicht aufoktroyiert oder von außen vorgeschrieben worden ist, auch wenn es noch so glänzend ist. Denn jeder von uns hat nur dieses eine Leben, und wir wissen nur zu gut, wie es ausgehen wird.“ In dieser Bemerkung schwingt Brodskys Skepsis gegenüber sozialen Rollen mit, durch die wir unser eigenes Leben verfehlen. Man kann dabei an viele denken: den Funktionär, den Manager, den Politiker, den Star. Sie alle tun und sagen, was andere vor ihnen auch getan und gesagt haben – und was andere nach ihnen ebenso tun und sagen werden. Die Dichter vermeiden das. Es zeichnet sie aus, „daß sie die Wiederholung verabscheuen“. Nach Brodsky wollen sie schreibend neue Erfahrungen machen. Sie wollen sich und ihre Kunst weiter entwickeln. Sie sind unruhige Geister, die das Neue suchen: das noch ungekannte und unverwirklichte Besondere.

Sie können allerdings auch gar nicht anders, nach Brodsky. Denn die Entwicklung der Kunst wird nicht nur von der „Individualität des Künstlers, sondern von der inneren Logik und Dynamik ihres Materials“ verlangt, „dessen überlieferte Mittel eine qualitativ neue ästhetische Organisation erfordern“. Indem die Kunst sich ständig entwickele, sei sie aber „stets weiter als der geschichtliche Fortschritt“.

„Im ganzen gesehen hat jede neue ästhetische Erfahrung das ethische Bewusstsein der Menschen geschärft. Denn die Ästhetik ist die Mutter der Ethik: unsere Kategorien von ‚gut’ und ‚schlecht’ sind zuallererst ästhetischer Natur, und etymologisch älter als unsere Begriffe von ‚gut’ und ‚böse’.“

Die Ästhetik als Mutter der Ethik: Das ist ein starkes Wort. Aber wenn man es einmal gelten läßt: Was für eine Ethik ist denn diese Tochter der Ästhetik? Eine Ethik der Erneuerung? Des Gutmachens und Verbesserns? Der Ermunterung zum Experiment? Der Achtung vor dem Einzelnen?

Brodskys Lob der individualistischen Kunst hat aber nicht nur eine anthropologische Seite. Sie schließt auch eine Kritik der Politik ein. Die „Privatheit, die sich manchmal als literarischer oder sonstiger Geschmack tarnt, ist zwar keine Garantie, aber doch eine wirksame Verteidigung gegen jede Form von Versklavung.“ Auch diesen Gedanken spitzt Brodsky zu:

„Ein Mensch mit sicherem Geschmack, besonders in Stilfragen, ist nämlich weniger anfällig für die primitiven Refrains und rhythmischen Beschwörungsformeln, die jeder Art von politischer Demagogie eigen sind. Zwar ist die Tugend keine Voraussetzung zur Schaffung eines Meisterwerks, aber das Böse, besonders das Böse in der Politik, ist immer ein schlechter Stilist. Je substantieller die ästhetische Erfahrung eines Menschen ist, je gesunder [sic!] sein Geschmack, desto schärfer ist auch sein moralisches Urteilsvermögen und desto freier – wenn auch nicht unbedingt glücklicher – ist er.“

Es ist schön, wenn es so ist. Dass es nicht immer so ist, lässt sich jedoch schwer leugnen. Wem müssten wir da nicht alles Geschmack absprechen: William Butler Yeats, Gertrude Stein, auch Gerhart Hauptmann, die sich beispielsweise alle lobend über Mussolini geäußert haben? Eine glänzende Gesellschaft von Stilisten und eine traurige zugleich.

Brodsky geht nun allerdings – zum Glück – nicht so weit, Gedichte zum Heilmittel für eine heillose Welt zu stilisieren. Sein Optimismus ist bescheidener: „Wahrscheinlich ist es zu spät für die Welt, aber für das Individuum gibt es immer eine Chance.“ Auch das wäre schön. Aber auch das mag noch zu gewagt sein und kaum für das Individuum generell, nur für Einzelne gelten, für wie viele auch immer.

Weil die Lyrik individualistisch ist, wird sie, Brodsky zufolge, „von den Predigern des Gemeinwohls, den Lenkern der Massen, den Herolden der historischen Notwendigkeit“ sowenig geschätzt: „Dort, wo die Kunst zu Hause ist, wo Gedichte gelesen werden, entdecken sie, an Stelle von Konsens und Harmonie, Pluralismus und Polyphonie; an Stelle des Entschlusses zur Tat – Trägheit und Indifferenz.“

Vielleicht muss man selbst das einschränken. Die eiligen und voreiligen Aktivisten unter den Autoren sollte man nicht vergessen: etwa Majakowski, den jungen und nicht mehr ganz so jungen Neruda, den mittleren und späten Brecht, auch den politisch unbelehrbaren Ezra Pound. Manche Lyriker hätten vielleicht nicht indifferenter, aber doch träger sein können. Trägheit und Indifferenz wiederum mögen auch nicht in allen Lebenslagen genügen. Aber darum geht es Brodsky nicht, sondern um das von der Kunst geprägte, kunstverständige Individuum: Er hält es für widerständiger als das kunstferne, für weniger beeindruck- und verführbar, vor allem wohl, weil es seine eigenen Erfahrungen macht und seine eigene Sprache spricht.

Wer an das Individuum glaubt, mag Brodskys Poetik gern folgen – zumal er selbst gelebt und durch sein Leben beglaubigt hat, was er verkündete. Dass das ästhetische Subjekt eine moralische Instanz ist oder sein kann, ist im Übrigen durchaus ein aufklärerischer Gedanke. Mündigkeit war einmal, bei Kant, das Schlüsselwort dafür. Habe Mut, dich deines künstlerischen Talents zu bedienen und ein Individuum zu werden, würde Brodsky vielleicht dessen berühmte Maxime variieren.

Sein Gedankengang fordert heraus: auf seinen Haupt- und Nebenwegen, seinen Wendungen und Windungen. Brodsky führt uns nicht nur die Ästhetik als Mutter der Ethik und das Gedichte lesende und schreibende Individuum als eigensinniges zoon politicon vor. Er streut, nebenbei, auch noch einige weitere kühne Aperçus und Aphorismen aus, zum Zu- oder Widerspruch, je nachdem. Es sind gewagte, auch witzige Behauptungen eines Einzelnen, über die jeder Einzelne ganz individuell urteilen mag. Etwa die, „daß ein Buch ein zuverlässigerer Gesprächspartner ist als ein Freund oder eine Geliebte“. Oder die: Diktatoren wie Hitler und Stalin verbinde, „daß ihre schwarzen Listen länger waren als ihre Lektürelisten“. Oder die, dass „das materielle Wohlbefinden einer Gesellschaft und deren literarische Ignoranz einander bedingen“. Oder die, „daß nicht die Sprache das Werkzeug der Dichter ist, sondern daß sich die Sprache der Dichter als Werkzeug bedient, um ihr Weiterleben zu sichern.“ Und schließlich: dass „die kleinste Ungenauigkeit in der Sprache eine falsche Entscheidung im Leben nach sich ziehen kann.“

Das alles ist ein bisschen unerhört. Darf ein Dichter, wenn er hoch geehrt wird, so etwas vor aller Welt sagen?

Ja, warum soll er eigentlich nicht?

Literaturhinweise

Hilde Domin: Wozu Lyrik heute. Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft. Neuausgabe München 1975.

Arnfrid Astel: Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir. Alle Epigramme. Frankfurt a.M. 1978. Zitat S. 557.

Joseph Brodsky: Das Volk muß die Sprache der Dichter sprechen. Rede bei  der Entgegennahme des Nobelpreises für Literatur. In: Ders.: Flucht aus Byzanz.  München, Wien 1998, S. 7-20. Zitate S. 13, 9, 9, 10, 11, 11-12, 12, 12, 12, 9, 13, 16, 15, 18, 13.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Signet von Simone Frieling.