Eine Entdeckungsreise

Der Bildband „Musica“ von Vera Minazzi lädt ein zum Lesen und Staunen

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Musik nahm im kulturellen Leben des Mittelalters einen zentralen Platz ein. In den heutigen Darstellungen und Untersuchungen zur Gesellschaft und Kunst dieser Epoche wird sie jedoch häufig nur am Rande behandelt. Auch in der musikwissenschaftlichen Forschung ist die mittelalterliche Musik ein Nischenthema. In Überblicksvorlesungen und Geschichtsbüchern beginnt die abendländische Musikgeschichtsschreibung in der Regel erst mit den ersten polyphonen Werken der „Ars Nova“ des Spätmittelalters. Was in den Jahrhunderten davor geschah, wo und wie Musik erklungen ist, wie sie notiert wurde und welche theoretischen Konzepte dahinter standen, kommt selten zur Sprache. Das liegt vor allem an der schlechten Quellenlage mittelalterlicher Musik, schließlich sind kaum Noten überliefert. Wenn man sich also mit der Musik des Früh- und Hochmittelalters auseinandersetzen will, ist es notwendig, das Blickfeld zu weiten und interdisziplinär vorzugehen. Das heißt, dass auch andere geschichtliche Zeugnisse heran- und der jeweilige kulturelle Kontext einbezogen werden müssen.

Diesen Weg geht die Herausgeberin Vera Minazzi in ihrer Publikation „Musica“ und belegt dabei, wie verschiedene kulturwissenschaftliche Fächer voneinander profitieren können. „Denn zum Verständnis der mittelalterlichen Kunst- und Kulturgeschichte ist das Wissen um musikalische Phänomene unerlässlich – und umgekehrt“, erläutert sie in ihrer Vorbemerkung. So könne man die Raumstruktur einer mittelalterlichen Kathedrale nur dann verstehen, wenn man den Klang berücksichtigt, der sie erfüllte. Ebenso aufschlussreich ist ihre Anbindung an internationale Pilgerwege, die einerseits kulturellen Austausch ermöglichte und andererseits die Entwicklung eines musikalischen Repertoires beeinflusste. Es gibt viele indirekte Zeugnisse und Spuren dieser Art, deren Potenzial für die wissenschaftliche Forschung bisher kaum ausgeschöpft wurde.

In einem umfangreichen Bildband trägt Minazzi und ihr Team eine beeindruckenden Fülle solcher Quellen und Materialien zusammen, die Aufschluss über die Klangwelt und das Musikleben im Mittelalter geben. Neben Abbildungen aus Notenhandschriften werden Buchillustrationen, Fresken, Reliefs und Skulpturen, Mosaike, Gebäudefassaden und Kirchenfenster vorgestellt. Diese Quellen werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln untersucht, musikwissenschaftliche Arbeit wird durch Ansätze der Archäologie, Architektur- und Kunstgeschichte, Philosophie, Geschichte, Theologie und Kirchengeschichte bereichert. Hinzu treten Landkarten, Gebäudegrundrisse, Grafiken und Skizzen, die das Beschriebene visuell verdeutlichen.

Das Buch ist chronologisch eingeteilt und in fünf große Kapitel gegliedert. Der Bogen reicht von der Spätantike über das Hochmittelalter bis zum Ende des 14. Jahrhunderts. Es fällt positiv auf, dass bei der Themenauswahl eine europäische Perspektive gewählt wird, die nicht nur die westlichen Länder sondern auch den gesamten Mittelmeerraum, Osteuropa und das Baltikum einschließt. Jedem Kapitel ist eine doppelseitige Landkarte vorangestellt, der die geopolitischen und kulturhistorischen Zusammenhänge zu entnehmen sind. Diese Karten machen interkulturelle Einflüsse anschaulich und helfen bei der Einordnung der folgenden Einzelbeiträge. In insgesamt 65 kleineren, reich bebilderten Beiträgen zeigt ein Team international bekannter Fachleute wichtige Aspekte der mittelalterlichen Musikkultur detailliert auf.

Der Band eröffnet einen facettenreichen und multiperspektivischen Blick auf die Epoche des Mittelalters. Die großformatigen, farbenreichen Abbildungen laden zum Betrachten, Blättern und Schmökern ein. So ist es die Vielfalt der historischen Bauwerke, Gegenstände und Bilder selbst, die den Leser faszinieren und über Musik und Kultur des Mittelalters staunen lassen.

Titelbild

Vera Minazzi (Hg.): Musica. Geistliche und weltliche Musik des Mittelalters.
Übersetzt aus dem Italienischen von Yvonne El Saman.
Herder Verlag, Freiburg 2011.
288 Seiten, 88,00 EUR.
ISBN-13: 9783451324161

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