Wagner-Literatur im Jubiläumsjahr

Zu drei ausgewählten Publikationen

Von Stephan KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn des Richard-Wagner-Jahres – die Reklame an den Leipziger Straßenbahnen weiß: „Richard ist Leipziger“ – lässt sich deutlich wahrnehmen, dass der 200. Geburtstag des Dichter-Komponisten eine erkleckliche Zahl an Neuerscheinungen mit sich bringt. Zu dominieren scheint das Genre ‚Biographie‘, mit gutem Abstand gefolgt von Auswahlpublikationen aus Wagners Schriften oder Briefen. Eine neue, kritische Gesamtausgabe der Schriften, die wünschenswert gewesen wäre, findet sich nicht. Die verlässliche, zehnbändige Jubiläumsausgabe aus dem Jahr 1983 – herausgegeben von Dieter Borchmeyer aus Anlass von Wagners 100. Todestag – bleibt neben den älteren Ausgaben (Leipzig 1887; Leipzig 1913-1915; Leipzig 1914; Hildesheim [Faks. v. 1887] 1976), den Reclamausgaben der Operntexte und einer CD-ROM (Berlin 2004) als Buch weiterhin die jüngste Referenzedition. Daneben steht noch die große Musikdruckausgabe, herausgegeben im Auftrag der Bayrischen Akademie der Künste.

Ein exemplarischer Überblick über bevorstehende Neuerscheinungen und solche aus jüngerer Zeit zeigt, in welchem Kontext die Wagner-Titel dieser Besprechung über den schlicht institutionell-kalendarischen hinaus zu sehen sind. Udo Bermbach hatte 2011 eine profunde Studie zur Wagner-Rezeption publiziert und analysiert nun den „Mythos Wagner“. Er verfolgt diesen Mythos von der Wagner’schen Selbststilisierung bis zur ‚Werkstatt Bayreuth‘ und einem aktuellen „Wagner-Verständnis […], das einer offenen Demokratie einzig angemessen ist.“ Dieter Borchmeyer ist mit zwei Büchern vertreten. Es erscheint eine Neuauflage seines lange vergriffenen Standardwerkes „Das Theater Richard Wagners“ (Stuttgart 2013) und die Biografie „Richard Wagner Werk – Leben – Zeit“ (Stuttgart 2013), an der der explizite Anspruch reizvoll sein dürfte, dass allzu direkte Verbindungen zwischen Leben und Werk „ausdrücklich vermieden [werden]“. Von Friedrich Dieckmann gibt es „Das Liebesverbot und die Revolution“ (2013), worin es um den „rote[n] Wagner“ geht, dem sich Dieckmann über den zentral gesetzten Begriff des Begehrens in fünf selbständigen Texten annähert. Unter den enzyklopädisch angelegten Büchern soll auf zwei hingewiesen werden: Seit 2010 liegt das umfangreiche „Dictionnaire encyclopédique Wagner“ vor, das durch eine große Auswahl an Lemmata einen äußerst differenzierten Zugang zum Kosmos Wagner bietet. Es gliedert sich in die Teile ‚Werk‘ und ‚Rezeption‘, wodurch eine historische Perspektivierung erreicht wird und das Format des Lexikons mit deutlichem Gewinn für Nutzbarkeit und Informationsgehalt überschritten wird. Das „Wagner-Handbuch“, herausgegeben von Laurenz Lütteken (2012) bietet die von der Metzler’schen Handbuch-Reihe gewohnte, höchst praxisorientierte Zugänglichkeit der Informationen, die hier nach elf thematischen Bereichen geordnet sind. Es wird sich erweisen, inwieweit dieser Band und das „Richard-Wagner-Handbuch“ von Peter Wapnewski und Ulrich Müller (Stuttgart 1986) sich nachhaltig ergänzen.

Die im Folgenden besprochenen Titel sind durchaus unterschiedliche Beiträge zu Richard Wagners Werk und zu Forschung und Rezeption. Sie werden daher nicht miteinander verglichen, sondern nebeneinander vorgestellt.

Eckart Kröplin legt unter dem Titel „Richard Wagner – Musik aus Licht“ vier opulente Teilbände vor, die als sechster Titel der Reihe „Wagner in der Diskussion“ erschienen. Die Darstellung beeindruckt durch die Ausgedehntheit und Fülle ihrer Materialgrundlage, die sich an der Menge der zitierten Primärliteratur erweist. Der Autor führt auf den knapp zweitausend Seiten seiner – so steht es im Untertitel – „Dokumentardarstellung“ durch einen kunst-, musik- und literaturhistorischen Zeitraum von etwa 150 Jahren und geht stellenweise (vor allem in Teil III) auch bis hinein in die Gegenwart. Kröplin sieht Wagners Schaffen und sein ästhetisches Konzept Gesamtkunstwerk als Zentrum eines synästhetischen „Trends“ (Kröplin). Die Betrachtung benennt Textauszüge und bezeichnet Aussagen sowie musikalische und bildende Kunstwerke im Hinblick auf den Zentralbegriff Synästhesie. Dabei kommen die Texte einer Vielzahl von Künstlern zu Wort, unter anderem von E. T. A. Hoffmann, Runge, Beethoven, Kleist, Schlegel, Novalis, Hölderlin, Liszt, Weber, natürlich Schopenhauer und Nietzsche, schließlich Proust, Joyce und Thomas Mann.

Diese Texte werden oft ausführlich zitiert. Sie fungieren zumeist als Dokumente für synästhetische Phänomene beziehungsweise von deren Darstellung. In der eingangs aufgestellten Hypothese wird gesagt, infolge der Französischen Revolutionen habe sich eine „künstlerisch-ästhetische Geisteshaltung“ zusehends etabliert, die markant durch synästhetische Konzepte gekennzeichnet sei. Dies stehe unter einem „ideell-fiktiven Primat“ und zeige sich „direkt über das Kunstwerk“, in dem die Künstler Synästhesien „realisieren, […] hier tatsächlich sich ereignen lassen“ würden. Sie seien ein prägnantes Kennzeichen „der Kunstentwicklung von der Romantik in die Moderne“.

„Musik aus Licht“ wartet vor diesem Hintergrund zwar mit einer großen Zahl an Textauszügen auf, doch sollen diese offenbar hauptsächlich den dokumentarischen Anspruch der Untersuchung erfüllen und weniger Gegenstand interpretativer Diskussion sein. Angesichts der Attraktivität der Hypothese und von deren bisher äußerst geringer Präsenz in der Forschung wäre eine analytische Betrachtung der Texte beziehungsweise eine Klassifizierung oder gar eine detaillierte Problematisierung von Synästhesie als zentraler Kategorie der Beschreibung wünschenswert gewesen. Dies hätte zudem vielleicht eine Abgrenzung des Begriffs gegenüber intermedialen Konzepten, Rezeption und Rezeptionsästhetik, intertextuellen Relationen oder schlichten Erwähnungen ermöglicht. „Musik aus Licht“ erweist sich damit in der Hauptsache als reichhaltiges Materialkonvolut, das auch als „Dokumentarbiographie“ beschrieben wird.

Diese sehr beachtliche Materialfülle bietet sich leider nicht immer als möglicher Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen oder Untersuchungen an. Dies liegt an der Inkonsequenz, mit der bibliografische Nachweise jeweils erbracht beziehungsweise eben nicht erbracht werden. Welche Kriterien (zitiertechnische, argumentative, strukturelle?) dem zugrunde liegen, ist hierbei leider nicht zu erkennen.

Doch die Lektüre von „Musik aus Licht“ bietet trotz dieser Abstriche einen beträchtlichen Kenntnisgewinn. Dieser resultiert aus der kleinteiligen Paralleldarstellung. Kröplins umfangreiche Arbeit zeigt die ungeheuer vielfältige Beeinflussung von Wagners Werk und seinem ästhetisch-theoretischen Denken durch die Künste, gesellschaftliche Entwicklungen und die Wissenschaften. „Musik aus Licht“ dokumentiert auf diese Weise die zentrale Position Wagners in diesem Netzwerk und weist seine Wirkung über die Grenzen der Musikgeschichte hinaus originell nach.

Der von Isolde Schmid-Reiter herausgegebene Sammelband „Richard Wagners Der Ring des Nibelungen“ stellt „Europäische Traditionen und Paradigmen“ im „Ring“ dar. Reich illustriert und ebenso reich an spannenden Einblicken in einzelne nationale Wagner- beziehungsweise „Ring“-Traditionen, lässt sich aus dem Band eine kleine europäische Inszenierungsgeschichte von Wagners Tetralogie ablesen. Der Band versammelt die Beiträge zu einer Konferenz der Europäischen Musiktheater-Akademie, bei der es um die „europäische Rezeption“ des „Rings“ ging. In den Texten werden „Ring“-Inszenierungen aus insgesamt sechzehn europäischen Ländern vorgestellt. Den Abschluss bildet ein Gespräch zwischen Musikwissenschaftlern und RegisseurInnen „zur gegenwärtigen Verortung von Wagners Ring“.

Insgesamt drei Artikel setzen sich zunächst mit der Rezeptionsgeschichte des „Rings“ allgemein beziehungsweise mit einem ersten Schwerpunkt im deutschen Sprachraum (im Artikel von Sven Friedrich) auseinander. Weitere Texte beschreiben jeweils die Rezeptions- und Inszenierungsgeschichte in einem Land oder in einer ausgewählten Stadt. So wird Wien in zwei Artikeln behandelt und Joachim Herz gibt eine eingehende Darstellung seiner Arbeit am Leipziger „Ring“ (1973-1976). Durch Russland, Polen, Ungarn, Estland, Lettland und Litauen sind Aufführungen in Ostmittel- und Osteuropa vertreten, West-, Süd- und Nordeuropa durch Texte zum „Ring“ in Großbritannien, Frankreich, Italien und Portugal sowie Finnland, Dänemark und Schweden. Dem schließen sich noch Susanne Vills Überlegungen zu postmodernen Sichtweisen auf die „Ring“-Tetralogie an.

Schmid-Reiters Band liefert einen spannenden rezeptionsgeschichtlichen Überblick und bestätigt vollauf die europäische Verbreitung von Traditionen und Inszenierungen des „Ring“. Deren Variationsbreite beeindruckt, weil dies auch eine vielfältigen Präsenz des wohl umfangreichsten Werks der Operngeschichte auf europäischen Bühnen belegt. Der Band eröffnet somit ein – reichhaltig illustriertes – Panorama der Deutungsansätze und Rezeptionswege des „Ring“, das zwar keinen Opernbesuch ersetzen, doch das umso mehr Appetit darauf machen dürfte.

Als vierten Band der Leipziger Beiträge zur Wagner-Forschung veröffentlicht Werner P. Seiferth sein Buch „Richard Wagner in der DDR – Versuch einer Bilanz“. Der Autor dieser Studie kennt die Theaterlandschaft genau, in der er den Umsetzungen von Wagners Opern nachspürt. Er erstellte diese Arbeit auf der Grundlage seines privaten Archivs, dessen Bedeutung für den Gegenstand deutlich gespiegelt wird und dessen dokumentarischer Wert (trotz der beiläufig genannten Zahl von rund 60 Ordnern) nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Die Gründlichkeit und die detaillierten Kenntnisse, die das Buch aufweist, haben ihre Grundlage in dieser wohl nahezu umfassenden Materialsammlung. Dies erklärt zugleich den Aufbau des Buches in zwei Teilen. Der erste umfasst eine ausführliche Darstellung der Aufführungs- und Inszenierungsgeschichte von Wagner-Opern in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR für den Zeitraum von 1945 bis 1990.

Seiferth berücksichtigt in seinen Ausführungen immer wieder (natürlich) die Bayreuther Festspiele sowie, speziell für die Zeit vor 1961, auch einzelne Aufführungen in der BRD. Er bezieht sich immer wieder auf die Akteure im Opernschaffen, RegisseurInnen, Dirigenten und SängerInnen und lässt flankierend kritische Einschätzungen aus der zeitgenössischen Presse sowie eigene Sichtweisen zu Wort kommen. So entsteht ein kleinteilig gezeichneter Überblick über die Präsenz, die Qualität und auch die Wirkung von Wagner-Aufführungen in der DDR. Seiferths Darstellung bleibt wohltuend im Bereich der Bühnen, Inszenierungen und der dort Handelnden. Er zeigt in dem nötigen knappen Maße auf, wie politische Einflussnahme seitens der DDR-Regierung und der SED und ihrer Kulturpolitik sich auf die Gestalt der Wagner-Aufführungen auswirkte. Er stellt weiterhin sehr anschaulich dar, welche Auswirkungen der Mauerbau am 13. August 1961 konkret auf die Opernarbeit – hüben wie drüben – hatte. Die zentrale Perspektive der Untersuchung aber bleibt dennoch „Wagner in der DDR“. Die Studie gerät mithin ausdrücklich nicht zur bloßen Aburteilung der DDR-Kulturpolitik, sondern zeichnet ein hochdifferenziertes Bild, das sich nachhaltig durch Kenntnisreichtum und kritische Distanz auszeichnet. Der zweite, umfangreichere Teil des Buches umfasst eine hochinformative Statistik, die ihrerseits ein zweites Bild von „Wagner in der DDR“ zeichnet. Seiferth legt hier eine ausführliche und, wie aus der Einleitung zu entnehmen, genau recherchierte Übersicht über die „Inszenierungen, konzertanten Aufführungen und Einspielungen“ von 1945 bis 1990 vor. Hinzu kommen vier weitere Register – Inszenierungschronologie, Wagner-Werke in den einzelnen Spielplänen, Theater nach Wagner-Aufführungen und nach 1990 gespielte DDR-Inszenierungen – sowie eine Übersicht zu den in Bayreuth aufgetretenen DDR-KünstlerInnen. Seiferths Buch „Richard Wagner in der DDR“ ist damit nicht nur eine aufschlussreiche Dokumentation eines Stücks DDR- und damit deutscher Theater- und Operngeschichte, sondern hat das Zeug zum (speziellen) Nachschlagewerk.

Das verbindende Element der drei vorgestellten Publikationen ist die Rezeption des Wagner’schen Schaffens. Eckhart Kröplin wählt einen dokumentarisch-ästhetischen Zuschnitt, während bei Schmid-Reiter ein Werk im Zentrum steht und Seiferth einen territorial-politischen Rahmen setzt. Deutlich wird noch immer – und immer noch – die Bedeutsamkeit von Wagners Werken, die nicht allein das allenthalben begangene Wagner-Jahr hervorruft.

Titelbild

Isolde Schmid-Reiter (Hg.): Richard Wagners Der Ring des Nibelungen. Europäische Traditionen und Paradigmen ; [eine Publikation der Europäischen Musiktheater-Akademie (EMA)].
ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg 2010.
255 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783940768162

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Eckart Kröplin (Hg.): Richard Wagner - Musik aus Licht. Synästhesien von der Romantik bis zur Moderne ; eine Dokumentardarstellung.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
1984 Seiten, 128,00 EUR.
ISBN-13: 9783826044496

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Werner P. Seiferth: Richard Wagner in der DDR – Versuch einer Bilanz.
Sax-Verlag, Markkleeberg 2012.
415 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783867290968

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch