Die hauchfeinen Brüche der Existenz

Zu Botho Strauß’ „Die Fabeln von der Begegnung“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es gleich zu Beginn abzuhacken. Es sind keine Fabeln im literaturwissenschaftlichen Sinne, die Botho Strauß geschrieben hat. Es sind eigentlich nicht einmal fabelartige Versatzstücke, die dem Leser vielleicht über Tiergestalten den Weg ebenen könnten zu einer Interpretationsmöglichkeit. Aber solche eindimensionalen Zugänge zu seiner Literatur sind auch nicht das, was man von Botho Strauß erwarten könnte. Somit ist der Leser zu Beginn der Lektüre erst einmal auf seinen Instinkt angewiesen. Der Autor hilft, eine entspannte Haltung der Anfangs vielleicht etwas heterogenen Lektüre gegenüber zu gewinnen: „Alles hat seine Zeit, nur die Orte haben ihre Weile. Und am Ort zu bleiben, verführt oftmals zu einem zeitwidrigen Verhalten.“ Dass diese vermeintliche Heterogenität sich als Herantasten an das Thema entpuppt, das Umkreisen des Erzählstrangs, der die Fäden zusammenhält, dies entbirgt sich dem Leser allerdings nur langsam.

Die Nicht-Fabeln des Botho Strauß sind von einer Vielzahl von Figuren bevölkert. Es gibt einen „Wohltäter“, einen „Verderber“, eine „Pläneschmiedin“ und so weiter. Sie sind Stellvertreter, Synonyme für Situationen und Vorgehensweisen, für Rituale im Umgang von Menschen miteinander. Es ist die kleine Form, die Botho Strauß bevorzugt und geschickt in seinem Roman unterzubringen weiß: „Der verdiente Mitarbeiter, der immer noch im Vorzimmer der Chefetage darauf wartet, endlich auf seine Eignung zum Geschäftsführer geprüft zu werden, erfährt vielleicht nie, daß er über die ganze Zeit auf seine Fähigkeit zum Warten geprüft wurde.“ Und in Bezug auf den „Verderber“ schreibt er: „Das Halseisen trug von Beginn an die Inschrift: Du bist nie eine Bildhauerin gewesen. Ein Wittgensteinexperte war der Mann, durchdrungen von der ausgefallenen Perversion, Künstlerinnen zu zerstören, mittleren weiblichen Begabungen den Garaus zu machen, ihnen ihr Künstlertum auszutreiben wie einen Dämon.“

Dabei lenkt Strauß sein Augenmerk auf die Verwerfungen in Beziehungen, auf die Irritationen und Brüche in den Oberflächen des Umgangs miteinander. Individuelle Befindlichkeit werden seziermesserscharf analysiert: „Der Schlamm steigt in mir. Nein, er kommt nicht von unten herauf. Er sackt vom Plafond herab. Ich gehe von oben unter. Verschwemmt in Muren und Geröll.“ Gesellschaftliche Situationen, mit den ihnen inhärenten Brüchen, beschreibt er mehr als nur treffend, etwa wenn er die „Forever-Young-Generation“ analysiert: „Eigentlich hatte er sich vorgenommen, ein älterer Mann vom alten Schlag zu sein, kein Gernejung, kein Seniorenteenie. Aber er fand nicht recht zu seinem Stil, gab nach und benahm sich zeitgemäß. Auf einer Spanienreise fand er Anschluß an eine Schar von ungebundenen Männern und Frauen, die meisten etwas jünger als er und noch an weiteren Reisen interessiert. Gemeinsam in die Berge, auf dem Fahrrad über Hollands Deiche, Silvester auf Kreuzfahrt im Golf von Mexiko – sie waren eigentlich immer unterwegs.“

Die literarischen Blitzlichter, die Botho Strauß auf die Menschen und ihre Befindlichkeiten wirft, tragen die hohe und detailreiche Qualität der Beobachtungen in sich: „Denn die Literatur trägt sie ja alle mit sich, alle nur träumbaren Träume, und streut sie – gelesen oder ungelesen – in die Nächte der Menschen.“ Aber mit fortschreitender Lektüre stellt sich auch ein merkwürdiger Schrecken ein, den der Autor offensichtlich mit dem Leser teilt: „Anhaltende Ereignisleere ist Stoff nur für sehr große Erzähler. Der geringere wird sich damit behelfen, den quälenden Zeitraum nicht eintretender Begebenheiten in ein Gleichnis zu fassen.“ Dabei sind es die verschrägten Handlungen, die komischen Tonfälle, seltsame Einzelheiten an der Kleidung einer Person und merkwürdige Liebesarrangements, für keinen anderen sichtbar, als für den auf Analyse von Physiognomie und Habitus spezialisierten „Menschenseher“ Strauß.

Bothe Strauß ist der „Verwerfungsentdecker“, der „Situationsbeobachter“ und der „Brüchebemerker“. Dabei sind es eigentlich keine Brüche in Beziehung oder Persönlichkeiten, auf die die Ausführungen des Autors verweisen, es sind die unauffälligen Verwerfungen, die kleinen Unebenheiten und kaum bemerkbaren Verschiebungen im Alltäglichen, in den Beziehungen der Menschen miteinander, auf die Botho Strauß aufmerksam macht. Und dies „Aufmerksammachen“ ist manchmal eher ein Erschrecken vor dem Unvermögen, vor dem, was nicht mehr zwischen Menschen passiert. Dabei wird der Leser auch durch die erzählte Welt ein Teil der Erzählung: „Puer fabulae, der ewig unreife Erzähler. Ein Junge, noch in seinen abschüssigen Jahren grün und verbummelt. Der, was er vom Boden liest, was liegenblieb und hinterlassen ist, mehrmals wendet, prüft und sich als Bruchstück denkt einer ehmals sehr verführerischen Wirklichkeit. Der, was er fand, erfand. Denn wie’s hier steht, so hat es sich nicht zugetragen.“ Und so verschwindet mit dem Leser die Lektüre in Poesie.

Titelbild

Botho Strauß: Die Fabeln von der Begegnung.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
243 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446241800

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