Das Gesicht verfällt

Zur Ideengeschichte der Physiognomik, neuerdings gelesen bei Hans Belting, Judith Elisabeth Weiss und anderen

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1.

Dass das Gesicht im Zeitalter von Facebook eine unerforschte Größe sei, kann wohl niemand behaupten. Unergründlich ist es als psychologische und ästhetische Problemhöhle, als kriminalistisches Werkzeug, medizinisches Labor und medientechnische Herausforderung. Technische und akademische Ausdifferenzierung haben einen Höhepunkt erreicht: Mimikforschung steht neben ästhetischer Chirurgie, experimenteller Psychologie, Biometrik oder Gesichtserkennung, die ihrerseits wieder bei den Technologien der allerneuesten Medien fazialer Kommunikation landen. Viele kulturwissenschaftliche Institute haben eigene Forschungsprojekte; teils medienorientiert, teils kunsthistorisch, teils fantastisch interdisziplinär und historisch weitausgreifend.

So etwa seit Jahrzehnten Nadeije Dagen in Paris, Gottfried Boehm in Basel, Jeannette Kohl Leipzig/Riverside mit einem DFG-Netzwerk, und seit 2011 Sigrid Weigel im Zentrum für Literatur- und Kulturforschung ZfL zu Berlin unter dem Titel „Das Gesicht als Artefakt“. Aus diesem letztgenannten Großprojekt sind nun zwei Bücher erschienen (weitere sollen folgen), mit einer Summe von Raisonnements über das Gesicht im Porträt, oder was aus dem Porträt im Medienzeitalter geworden ist. Was immer die engere Kunstwissenschaft dazu sagen wird: Auch andere Fachleser können davon profitieren. Die folgenden Überlegungen stammen aus der nun deutlich bereicherten Ideengeschichte der Physiognomik.

Im August 2012 widmete die Zeitschrift „Kunstforum“ einen Schwerpunkt dem „Gesicht im Porträt / Porträt ohne Gesicht“, herausgegeben von Judith E. Weiss, Kuratorin und Mitarbeiterin am ZfL. Nach Art eines kommentierten Katalogs, mit mehr als 150 meist farbigen Abbildungen von rund 70 lebenden KünstlerInnen, zeigt das Heft so viel Material, wie es kein erschwingliches Buch im Handel je hätte reproduzieren können. Eine Fülle von fazialen Anmutungen blättert sich vor dem Betrachter auf; dazu Überlegungen von Künstlern und Ko-Autoren wie Mona Körte, Lydia Haustein und Fritz Emslander. Eindringlich widmet man sich der kurrenten Misshandlung oder obsessiven Verwandlung des Kunstgesichts durch Löschung, Übermalung, Fragmentierung, Vermeidung von Ähnlichkeit, intertextueller beziehungsweise interdisziplinärer Bearbeitung. Das Fazit ist einhellig. Fast alle Künstler sehen sich hier in einer gesichtsgefährdenden Welt, fast alle üben Kritik an der medialen Kultur, so erfinderisch auch immer. Angesichts dessen, meint Weiss, müssten „die Begrifflichkeiten Antlitz, Gesicht, Visage, Konterfei und Facies einer Revision unterzogen werden“.

Aber müssen sie das? Sind es nicht Namen aus der Familie der Bilder (Thomas W. Mitchell) mit einem langen Stammbaum, und finden nicht Ausstellungen wie etwa die „Gesichter der Renaissance“ (Berlin 2012) ungeheuren Zulauf? Wer entscheidet, was hier zu revidieren ist – die Avantgarde des Kunstbetriebs, eine Sozial- oder Geschichtsphilosophie, oder die Kunden? Seit und mit Johann Kaspar Lavater (1741-1801) gibt es bekanntlich einen immer weiter anschwellenden Gesichtsdiskurs. Physiognomik als Körper-, vornehmlich aber Gesichtslesekunst wird ja in allen Kulturen betrieben, wenn auch mit unterschiedlichen Referenzrahmen. Gelesen und gedeutet wird das Gesicht als Index einer handelnden Kreatur mit Absichten, die mittels Anleitung erraten werden sollen. Grundsätzlich geht es dabei um das lebendige Gesicht vor einem lebendigen Betrachter, stammt doch die Mehrzahl unserer Gesichtserfahrungen aus dem lebendigen Face-to-Face. Tote haben keine Absichten (mehr).

Anders das artefaktische Gesicht. Seit der Antike wurde mit jeder neuen Medientechnik das Gesicht neu definiert, bis in die heutige Sackgasse. Die Porträtkunst der Gegenwart, meint Judith E. Weiss, sei nur noch von Impulsen der „Impersonifizierung, Manipulation und Zitation“ beherrscht. Tatsächlich zeigen die Beispiele aus ihrem Portefeuille zahlreiche und raffinierte Muster dafür. Aber die theoretische Verortung dieser Diagnose bleibt unklar. Wollen die Künstler wirklich generell von einem ihrer Lieblingsthemen Abschied nehmen? Schließlich ist das Gesicht als Abbild, Selbstbild, Spiegelbild oder Wunschbild eine der reichsten Spielformen der Kunstgeschichte. Kann man sie unabhängig von anderen sozialen Segmenten betrachten, die das Gesicht favorisieren? Mit Blick auf die ungeheure Gesichtsgeschichte des Abendlandes und seine Popkultur stimmt wohl eher das Gegenteil. Angefangen von der antiken Statuenkunst über die Mumienporträts, mittelalterlichen Ikonen, neuzeitlichen Sozialporträts, über Holzschnitt, Lithographie, Fotografie, Film, Plakat, Fernseh- und Videobild bis hin zu Internet und smart phone, kurz, in dieser ganzen gewaltigen Geschichte wird doch seit jeher und ganz überwiegend eine faziale Erinnerungsdroge verteilt, die bewunderten Personen gilt, der wärmenden Sonne des Ruhms, der Macht und der Schönheit, der erinnernden Zuneigung und der Liebe, nicht zuletzt der Liebe zu Gott.

Ist diese Droge etwa aus der Gegenwart verschwunden? Nein, ganz im Gegenteil. Im medialen Handel findet sie immer mehr Abnehmer, sei’s in den Starkulten der Screenkünste, sei’s in der allgemein fazial-ästhetischen Begierde unserer echtzeitlichen Interaktion, sprich in der plastischen Chirurgie. Das alles bildet aber keine Zäsur zu jener Adoration, die dem Antlitz und Angesicht gilt, sondern bezeugt deren technische Anpassung an den Weltbedarf. Die faziale Lobkultur von heute stellt sich im globalen Wettbewerb unterschiedlichsten Phänotypen und unterschiedlichsten Praktiken.

Ihren kleinsten gemeinsamen Nenner, ihren schmeichelnden Inbegriff jenseits der Künste und im lebenspraktischen Umgang findet sie heute womöglich in einer einzigen mimischen Kundgabe: im Lächeln, genauer: im Lächeln der Smileys. Smileys, in ihrer charakteristischen Aufmachung als gelbes Sonnengesicht in unterschiedlichsten Launen (und deren Entsprechung in den Emoticons), werden in diesem Band freilich so wenig vorgestellt wie faziale Karikaturen, obgleich diese eine fast ebenso alte Hasskulturgeschichte haben und in unserer religiös überspannten Gegenwart so effizient sind wie nie zuvor. Aber es fehlt dem Buch auch das Gesicht im Comic, und damit der ganze Bereich der Subkultur, die längst keine mehr ist, sondern ein Soziotop der Jugend.

Die Gründe für diese Lakune im Projekt des ZfL sind nicht leicht auszumachen, denn unpolitisch im Sinn einer Kohortenästhetik ist das Arrangement von Weiss keineswegs. Politisch, ja sozialpolitisch daran ist aber nicht die Ausgrenzung der Alltagskultur sondern die Frage nach dem „Porträt ohne Gesicht“.

Seit der vorletzten Jahrhundertwende, erst recht seit der vielzitierten Studie von Max Picard über „Das Menschengesicht“ von 1929, wird ja vom Ende des Menschengesichts im Bild gesprochen. Walter Benjamins Aura-Begriff legte eine nachdenkliche Verabschiedung nahe; Autoren wie Rilke, Rudolf Kassner und andere haben sie vorweggenommen oder bekräftigt. Man fürchtete die Masse Mensch; man ahnte, dass kein Schneider mehr aussehen würde wie ein Schneider, als hätte dieser jemals ein spezifisches Gesicht gehabt. Gerade dieser Verfallsdiskurs, der das Verschwinden des bürgerlichen oder auch antiken Subjekts und Individuums betrauert, wurde aber im Gegenzug von jeder neuen Generation immer auch lustvoll konterkariert; von der Fotografie, vom Film, zuletzt von der Trickfilm- und Comicszene. Immer wieder setzt sich ein neues blickwechselndes Soziotop in Szene. Wer also heute beklagt, dass die digitalen Künste das Porträt erledigt hätten, weil kein Weg mehr zum Vorbild des Abbilds führt, mag vielleicht recht haben, unterschlägt aber womöglich gegenläufige, mindestens ausdifferenzierende Tendenzen.

Judith E. Weiss findet sie abschließend im Werk von Mark Lammert: „Als Antithese zum überzeitlichen Porträt entziehen sich die Zeichnungen […] der physiognomischen Deutungsmacht und entwerfen das Gegenüber als beweglich, provisorisch, verschwindend.“ Beweglich, provisorisch, verschwindend – Lammert zeigt tatsächlich nur noch winzige Details, einen Bart, ein Ohr, ein Auge. Lauter Vorlagen mithin für das gegenläufige Smiley-Format, das die Avantgardekunst als verlorenen Rest zeigt, während es selber in seiner ubiquitären Verwendung (auch als Emoticon) in Trillionen von E-Mail-Botschaften oder Tweets zur kommunikativen Großfigur aufgestiegen ist.

Wie soll man diese Gegenläufigkeiten, diese Kompensationen theoretisch erfassen? Wären Odo Marquardt, der Meisterdenker der Kompensationen, oder gar Arnold Gehlen hier zuständig? Das „Kunstforum“ als Medium des Kunstbetriebs muss diese Frage nicht unbedingt beantworten. Viel näher läge sie der zweiten Arbeit aus dem Umkreis des ZfL, dem prachtvoll illustrierten Buch von Hans Belting, „Faces. Eine Geschichte des Gesichts“.

2.

Auch hier und hier erst recht geht es auf fast 350 Seiten mit fast 150 Abbildungen um eine Verfallsgeschichte des Gesichts, in einem zugleich provokanten und nachdenklichen Buch. Es übertrifft die Tagungsbände der letzten Jahre mit ihren meist unglücklichen Versuchen, das Gesicht interdisziplinär panoptisch zu erfassen. Wenn Belting hier seinerseits aufs Ganze geht (obgleich er den Untertitel gleich eingangs zurücknimmt), so ist das bei ihm wohlbegründet. Zum einen durch eine katholische Faszination durch die byzantinische Ikone, denn sein frühes Standardwerk „Bild und Kult“ (1990) stellt ihn ja in denselben christlichen Hintergrund wie schon Max Picard 1929. Dass Belting bei Konstantin Chudjakow eine moderne Arbeit von 2004 finden konnte, die am Ende des Buches in diesen ikonisch spirituellen Raum zurückführt, ist eine glückliche Pointe.

Aber Belting verhandelt „das Ganze“ der Gesichtlichkeit nicht nur katholisch (hellenische Vorläufer kommen nicht vor), sondern vor allem im Sinn seiner eigenen „Bildanthropologie“. Als Neologismus ist das Wort paradox, denn „Anthropologie“ und Bildkunst stehen im Antagonismus von Natur/Kultur gegeneinander. Tatsächlich werden sie in dem Buch teils einleuchtend, gelehrt und originell, teils aber auch in einem fast quälenden Konflikt eng geführt. Dieser Konflikt, den weniger die diskutierten Künstler erleben als ihr Interpret, entsteht um den Begriff der Maske. Gerade weil Belting das Gesicht nicht als Kunstwerk sondern als „Artefakt“ betrachten will, wird die Maske zur Schlüsselfigur. Um ihn in diesem Argument voll zu erfassen, muss man kulturtechnisch etwas ausholen.

Masken kennt man interkulturell seit jeher als jene Gesichtsbedeckungen, die eine einzige Miene und Figur verewigen und vom Träger zu bestimmten rituellen Anlässen getragen werden, wie etwa im Theater. Der Ritus mit seiner repetitiven Anlage verleiht eine bleibende Semantik; im Sinne des Soziologen Gabriel Tarde bildet er den Inbegriff einer sozialen Institution namens „Mimesis“ oder „Imitation“. Faziale Interaktionen mit unmaskierten lebenden Gesichtern dagegen gehören zu Sprache und Stimme. Lebendige Mimik teilt prae- und vielleicht postverbale Botschaften mit, die, je feiner und schneller sie auftauchen, nur noch situativ verständlich sind, wie etwa im Dialog zwischen Mutter und Kind.

Dies alles verliert natürlich an Geltung, sobald das gesamte Setting medial, das heißt kulturtechnisch vermittelt wird, wie etwa durch die Literatur. Mimische und gestische Interaktionen werden in Lyrik, Epik und Drama schon seit jeher willkürlich und selektiv beschrieben. Ihre Agenten sind so wenig lebendig wie die Akteure, die sie auf Bühnen zeigen, aber sie suggerieren Lebendigkeit. Erst recht im Filmbild täuschen uns virtuelle Körper, zumal im Stummfilm, dessen erster Theoretiker Béla Balász sie analysiert hat. Kurz, zweidimensionale filmische Mienenspiele sind mit dreidimensionalen, körperlich lebendigen so wenig zu vergleichen wie der Wein mit der Traube, es sei denn, man hält die gesamte rituelle Konstruktion eines Films mit theatralischer Entstehung, filmischer Technik, Leinwand, Kinosaal, Zuschauer et cetera für sekundär und überflüssig. Die Miene des Schauspielers im beliebig oft wiederholbaren Film kann man daher mit Fug als Maske bezeichnen; Bálász hat sogar von mehreren Masken gesprochen, die sich im Filmgesicht übereinander lagern, weil es einerseits in die visuelle, andererseits in die narrative Situation eingestellt wird.

Hans Belting nun will anthropologisch keinen Unterschied zwischen lebendiger Miene und Maske sehen. Den Begriff des Ausdrucks hat er aus seinem Diskurs praktisch gestrichen. Sein Buch beginnt mit den Sätzen: „Die mimische Leistung des lebenden Gesichts besteht ebenso im Zeigen und Offenbaren wie im Verbergen und Täuschen. Dasselbe Gesicht drückt Wahres und Falsches aus: Einmal scheint uns jemand im Gesicht lebhaft sein ‚Inneres‘ zu enthüllen, ein andermal verbirgt er sich mit einem verschlossenen Gesicht wie hinter einer leblosen Maske. Im Leben verändert die Mimik das Gesicht, das wir haben, zu dem Gesicht, das wir machen. Sie löst ein Perpetuum mobile vieler Gesichter aus, die sich alle als Masken verstehen lassen, wenn wir den Maskenbegriff erweitern. In diesem Sinne ist das Maskengesicht als Begriff doppeldeutig, denn es ist nicht nur ein Gesicht, das einer Maske gleicht, sondern auch ein Gesicht, das seine eigenen Masken erzeugt, wenn wir auf andere Gesichter reagieren oder einwirken. Wir können also auch im mimischen Schauspiel von Masken sprechen.“

Sätze wie diese könnte man sich im 17. Jahrhundert vorstellen, bei Hofe, mit Gracians „Handorakel“ in der Tasche. Zwar haben im letzten Jahrhundert auch Helmuth Plessner und Helmut Lethen dieses Lieblingsbuch Arthur Schopenhauers gelesen und empfohlen – aber stimmt denn die Aussage überhaupt? Sehen wir Gesichter nur unter einem binären Code, als wahr oder falsch an? Vielleicht beim Schachspiel oder im diplomatischen Umgang oder in Bewerbungsgesprächen oder in manchen Liebesdialogen – aber wann sonst?

Wissenschaftlich erörtert wurde die lebendige Mimik schon längst, am bekanntesten wohl von Paul Ekman mit seinem Facial Action Code System, das interkulturell gleichbleibende Mienen mit bestimmten Affekten koordiniert, aber umstritten ist. Prominenter wurde die „Naturgeschichte des Gesichts und unnatürliche Geschichte derer, die es verloren haben“ (1998) des Neurologen Jonathan Cole. Eindringlich analysiert Cole, welchen Lebensverlust Menschen erleiden müssen, die krankheitsbedingt keine ausdrucksvolle Face-to-Face-Kommunikation mehr zustande bringen und daher völlig auf die Einfühlung der Mitwelt angewiesen sind. Es mag die angelsächsische Tugend der Colloquialität sein, die aus diesem Ansatz spricht; jedenfalls erinnert er daran, dass primäre Sozialität sich ausschließlich in Face-to-Face-Situationen abspielt. Hier gälte eine stillgestellte Mimik niemals als entweder wahr oder falsch, sondern unbedingt als humanes Signal, dessen Deutung situativ erfolgen muss.

Aber Belting versucht in den folgenden 21 Kapiteln immer wieder, die Kunsttechnikgeschichte des Gesichts bis hin zu den neuesten Avataren als Kampf der (Kunst-)Gesellschaft um oder besser gegen die Maske darzustellen, als Kampf des lebenden Menschen, sich aus der Umklammerung durch ubiquitäre Maskentechnologien zu befreien. Viele informative Mikrogeschichten um einzelne berühmte Bilder oder Künstler oder Kunstgattungen führen den Leser dabei an der Hand; mit zu den suggestivsten Ausführungen gehören die Seiten über die Papst-Porträts von Francis Bacon. Denn unter das Verdikt der Maske fallen hier natürlich auch und gerade Porträt, Selbstporträt und Ikone; nur die nicht menschengemachte vera ikon aus dem Grab Jesu als wird als Gottpräsenz anerkannt. Hat man also ein Glaubensbuch vor sich? Eine barocke Weltkritik?

Für die Kunstwissenschaft jedenfalls füllt das Buch eine interessante Lücke. Rudolf Preimesberger hat in seiner  vielkonsultierten Anthologie (1999) mit Schlüsseltexten über das Porträt eine Pause zwischen 1906 und 1960 gelassen – als habe es in diesem Zeitraum keine erwähnenswerte Diskussion über das Porträt gegeben. Gegeben hat es aber natürlich eine Flut von Texten über das Gesicht. Diese wiederum umkreisten alle möglichen Felder zwischen Film, Fotografie, Rassen-, Charakter- und Menschenkenntnis-Kunde. Was die NS-Kunstphilosophie daraus gemacht hat, ist bekannt: sie adorierte und imitierte das hellenistische Bildnis (Ernst Buschor). Niemand hätte damals sämtliche Felder panoptisch präsentieren können, Belting liefert das nach und füllt die von Preimesberger gelassene Lücke mit einem eindrucksvollen Parallelogramm der fazialen Kräfte zwischen Gesicht-Schädel-Spiegelbild und Maske, die alle kunstlos jenseits des Porträts existieren, und fast genauso gesichtspessimistisch auch um 1930 hätten diskutiert werden können.

Freilich: Der alte und parawissenschaftliche Anspruch der Physiognomik aus Antike und Barock wird dabei von der Idee der Maske verdrängt. Das konfuse Großwerk Lavaters wird auf ein paar Seiten abgehandelt, der kräftige frühneuzeitliche Diskurs bleibt im Schatten. Dabei gab es schon 1984 die erstaunliche Studie von Martin Warnke über „Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image“. Mit diesem Begriff ließ sich einerseits die reformatorische Bildpraxis im zeitgenössischen physiognomischen Diskurs vernetzen, andererseits eine kunstwissenschaftliche Brücke zu den neuesten Gesichtspraxen schlagen, ohne die Kunst abzuschreiben. In mancher Hinsicht gleich Beltings Begriff der Maske dem „Image“, das Warnke in seiner Vorstudie zur Politischen Ikonografie eingeführt hat, denn auch Belting schlägt ja den Bogen zu allerneuesten medialen Gesichtspraxen. Aber er hält sie für Sackgassen, während die Arbeit am „Image“ doch längst das Gesicht im sprachlich rückkoppelnden Dialog mit dem Publikum sieht und damit affin zu allen Forderungen der Moderne: Politik und Propaganda, Werbung, bürgerliche Selbstdarstellung und so weiter. Von Porträt mochte die Kunstwissenschaft schon um 1900 nicht mehr sprechen; und doch hielt das (klein-)bürgerliche Familienalbum eine solche Idee am Leben. Warum beharrt Belting aber doch auf dem Begriff der Maske, die nur binär, als wahr oder falsch soll betrachtet werden?

3.

Teil II seines Buches widmet er jedenfalls eingehend jenem europäischen Porträt, um dessen Verfallsgeschichte es ihm vornehmlich geht. Jedes Porträt sei eine Maske, dem eigentlich gemeinten, hässlichen Schädel des Toten, an den erinnert wird, gleichsam vorgebunden. Das Bild als vielsagendes und ikonologisch deutbares Kunstwerk verliert sich in dieser Definition. Denn was heißt Maske, wenn von Ruhmesbildern historischer Personen die Rede ist? Geht es um eine Metapher des Interpreten, um den Nachweis, dass Menschen in trügerischer Absicht gemalt wurden – oder ist überhaupt nur die „Totenmaske“ gemeint? Totenmasken aus Gips sind das Gegenteil von Theater- oder Rollenmasken. Porträts wiederum, und das arbeitet Belting sehr schön heraus, vermitteln beides, sowohl die Identität des Dargestellten als auch seine Rolle, sein soziales Selbst. Beides kann hoch komplex zusammenwirken, aber auch auseinandertreten, und es tut dies auf vielfache Weise, wie etwa in Dürers Porträt von Melanchthon (1526), Belting erwähnt es kurz. Eine berühmte Inschrift darauf besagt, dass kein Bild des äußeren Menschen dessen Geist zeigen könne. Aber Dürers Melanchthon zeigt eine offenbar übertrieben vorgewölbte hohe Stirn. Preimesberger, in seiner erwähnten Anthologie, sieht darin ausdrücklich eine Konzession an die zeitgenössische Physiognomik, die hohe Stirnen mit einem hohen Geist assoziiert.

Statt einer Maske sähe man also das Innere nach außen gekehrt, eben als „Ausdruck“, dessen Idee Belting konsequent meidet. Assoziationen wie diese durchziehen aber die Kunstgeschichte mindestens bis in die 1940er-Jahre. Sie stammen aus dem Gesichts- und Körperdiskurs, der ab dem 15. Jahrhundert den Bildungskanon erobert und als fazialer common sense die europäische Geistesgeschichte geprägt hat. Und er konnte sie so nachhaltig prägen, weil er zugleich von der europäischen Literatur tradiert, intensiviert und diskutiert wurde. Bildungsbürgerliche Betrachter und Sammler von Porträts waren immer auch Leser, man denke nur an Wilhelm Gleim, den Korrespondenten der deutschen Geisteswelt und legendären Porträtsammler.

Nur am Rande erwähnt Belting, was denn nun am Porträt – vor allem der Renaissance – jenseits der Maske physiognomisch bleibt: Offenbar soll es nun ausgerechnet die Mimik sein, die den Dargestellten naturalistisch täuschend Leben einhaucht, wohlgemerkt ewiges Leben, wenn man von der Möglichkeit absieht, dass Bilder auch entstellt, verbrannt, verfolgt werden können. Womit also die Anfangsbehauptung des Buches – Mienenspiele lebender Menschen seien Maskenspiele – umgekehrt wird: Maskenspiele der Kunst funktionieren als Mienenspiele. Eine Pointe, aber doch eher theorieabstinent.

Nach Theorie sucht man auch in Teil III, „Kontext der Archive: Kontrolle über die Gesichter der Masse“, vergebens. Natürlich gelten auch die „Gesichter der Masse“ Belting als Masken, negativ konnotiert. Dass übervolle Bildarchive zur Inflation einer gesichtlichen Erinnerungsarbeit führen, steht außer Frage. Aber müssen die einzelnen Gesichter deshalb generell als „Erinnerungsorte“ (Pierre Nora) versagen? Christian Boltanskis „archives“ aus der documenta 1987 erinnern Belting jedenfalls an die anonymen Steckbriefe aus der Werkstatt des Pariser Polizeipräfekten Bertillon – als müsse oder könne die optische Technik Opfer mit Tätern übereinander blenden. Doch Boltanski selber hat soeben, im März 2013, in der Kunsthalle Wolfsburg eine ganz andere Deutung vorgezogen.

Unter dem Titel „Geist(er)“ zeigt er Gesichter auf überdimensionalen Tüchern, nicht Passfotos für eine Registratur, sondern gleichsam lauter Turiner Grabtücher. Die Tücher, heißt es in der Vorschau, „hängen von der Decke der Halle in regelmäßigen Abständen, aber in unterschiedlichen Höhen herab, so dass sie das gesamte Volumen des Raumes ausfüllen. Einige von ihnen bewegen sich an Ort und Stelle im leichten Luftzug des Raumes, andere schweben – an einem Transportmechanismus hängend – zwischen diesen hindurch. Dank der hohen Transparenz der Tücher überlagern sich so die Physiognomien für Augenblicke, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Die auf den durchsichtigen Tüchern abgebildeten Gesichter wecken in ihrer Flüchtigkeit umso mehr das Bedürfnis, jeden einzelnen dieser Menschen ‚erkennen‘, etwas über sein Schicksal zu erfahren zu wollen.“

Das Wort „Geister“ ist hier wirklich prägnant. Es stellt diese Arbeit in jenen Diskurs, der sich neuerdings gern mit Geistern, Gespenstern, Untoten oder gar Auferstandenen befasst, wie etwa Marina Warner. Eine Konjunktur, die der zunehmenden Virtualisierung unserer Lebenswelt entspricht. Hauptmotiv für das Wiederauftauchen der Gespenster ist dabei nicht nur die immer schon virtuelle literarische Kreation von Personen – man lese dazu die „Geistergespräche“ des Germanisten Heinz Schlaffer – sondern vor allem der Film. Dessen Bilder bedienen sich jetzt gerade noch des lebendigen Menschen als Schauspieler – aber nicht mehr lange. Denn schon kann die Technik leibhaftige Menschen mit Gestik und Mimik in Avatare verwandeln, in wahrhafte Gespenster, die immer häufiger sogar in einem virtuellen 3D-Raum zirkulieren. Maskencharakter möchte man dem nicht mehr zusprechen.

Aber kein Entzug ohne Kompensation. Tatsächlich befasst sich der Kulturdiskurs schon seit den 1960er-Jahren und immer dringlicher mit den leibhaften Realitätsgaranten von Raum und Zeit, mit Akustik und mit der Stimme, die akusmatisch im Raum hallt und doch zugleich innigste Kommunikation ermöglicht. Wer sich mit dem Gesicht befasst, darf den „acoustic turn“ nicht vergessen. Auch und gerade mit Stimmen hat Boltanski bekanntlich Erinnerungsarbeit geleistet.

4.

Das Kapitel „Archive“ bezeugt vor allem aber eines: Beltings Blick auf die Masse vermeidet die lange und reiche Geschichte des Gruppenporträts. Angefangen mit dem antiken Überschwang an rühmenden Skulpturen im öffentlichen Raum bei den Hellenen, weiter zum römischen Pantheon, das die Tradition der Ahnengalerien in fürstlichen Häusern und schließlich auch bei bürgerlichen Sammlern eröffnet hat. Man denke an Wilhelm Gleims Freundschaftstempel aus den 1770er-Jahren, und an das Pendant bei Stefan George um 1900. Das Marbacher Archiv verfügt über tausende von Bildern und hunderte von Totenmasken: alle im Dienst der Memoria einer verehrten Person. Auch auf Staatsebene, nach dem Ende der großen Imperien entstehen nationale Porträtgalerien, die bis heute fortgeführt werden. Überall gibt es immer mehr Bilder von immer mehr Verstorbenen – nirgends entsteht der Eindruck der Masse.

Warum unterschlägt Belting das Gruppenbild oder bezeichnet es gar als Maske, wie etwa angesichts der Arbeiten eines August Sander, der doch gerade ausdrücklich soziale Gruppen porträtiert hat? Hat nun womöglich die Mediengeschichte Oberhand über die Kunstgeschichte gewonnen? Tatsächlich befasst sich das ganze 15. Kapitel mit dem Verschwinden der Person hinter und im Medium. Mit Rekurs auf Thomas Machos viel zitierte Studie über die faziale Überschwemmung der visuellen Konsumenten sieht Belting die Medien das Publikum nur noch mit „Gesichtsklischees bedienen“, die der „Stellvertretung einer Person in der Öffentlichkeit dienen“. Die Idee der Stellvertretung gibt aber nun doch ein zentrales Stichwort. Stellvertretung hieße ja: Repräsentanz – aber wer wird von einer Maske repräsentiert, und ist das Klischee im selben Sinn Maske wie das Porträt der Kunstgeschichte? Natürlich kann jedes Porträt, selbst jeder Schnappschuss als namentlicher Erinnerungsort eine geschätzte, geliebte Person repräsentieren, je kunstvoller desto eher auch in ihrem Image; und es kann sie verächtlich vernichten wollen. Die gegenwärtige Diskussion um das Bild der Angela Merkel mit dem Hitlerbärtchen ist ein Lehrstück, nicht etwa im Maskenwesen, sondern in politischer Polemik.

Gibt es also wirklich eine „Krise der Repräsentanz“, oder haben sich nicht die Werkzeuge des Gedenkens und der Imagebildung nur immer weiter verfeinert? Längst kann man doch auch Verstorbene quasi lebendig in Videoform erleben, Testamente Face-to-Face mündlich anhören, artefaktisch natürlich, aber doch unmittelbar. Doch Belting sieht überall nur Verfall. Man begreift endlich, dass er die ganze kunst- und wissensgeschichtlich modisch konstatierte „Krise der Repräsentanz“ im Großsymbol der Maske auffangen will, also mit einer eigentlich postmodernen ironischen Theorie, die gleichwohl die (Post-)Moderne gar nicht erfassen kann.

Viel besser könnte man dies womöglich mit Anthony Giddens. In seinen „Konsequenzen der Moderne“ (1990) analysiert er den Übergang der primären Face-to-Face-community in eine sekundäre symbolgelenkte Gesellschaft und zeigt am Beispiel des Geldes die Notwendigkeit für die immer urbaneren und größeren Sozietäten, nicht nur Symbole zu verwenden, sondern auch ihnen zu glauben und zu vertrauen, und damit die Idee der Repräsentanz zu akzeptieren. Gottgewollte und leistungsbewehrte Eliten lassen sich immer schon visuell repräsentieren; Porträt und Münze sind seit der Antike verschwistert. Wohl nicht zufällig stammen die ersten lächelnden Gesichter im Porträt aus dem Lande der Unternehmer, den reichen Niederlanden, von Frans Hals.

Man könnte die Etappen verfolgen, in denen das Geldwesen immer abstrakter und die Gesichtskünste immer konkreter werden, immer mehr auf Identität aus sind, während die Informationsgesellschaft als solche die Idee der Repräsentanz zu verlieren droht. Für einen Staat, der massenhafte Bevölkerungen verwalten soll, Zuwanderer, Steuerzahler, Patienten, Verkehrsteilnehmer und wo weiter, gibt es in der Tat nur noch biometrisch erfassbare Körperwesen oder die Masse als Zahl und Statistik und Objekt der Videoüberwachung.

Aber es gibt eben nicht nur eine Informations-, es gibt auch eine Kommunikationsgesellschaft. Mit dem Ausbau der technikgestützten Dialogik, vom Telefon bis zur email und in Gestalt der sozialen Netzwerke, kommt eine der stärksten Gegenbewegungen zur fazialen Entleerung oder gar „Gesichtsauflösung“ zustande, die sich denken lässt. Selbst wenn die Einträge auf Facebook geschönte Gesichter zeigen, also Masken, und das Ich in ein start up Unternehmen des eigenen Selbst verwandeln: Die Kommunikationstechnik von heute hat weite, vor allem junge Teile der Weltgesellschaft in die Situation einer historisch frühen, vertrauensseligen und zugleich moralisch anspruchsvollen Nahbeziehung versetzt. Und mit dem neuesten „acoustic turn“ der skype Verbindungen wird längst auch die tönende Face-to-Face Gesellschaft wieder belebt; raffinierter, eindringlicher denn je. Das Gesicht spielt dabei eine trickreiche Rolle, als trillionenfach handyerzeugtes Privatbild im familiären Verkehr, als gigantisches Markenzeichen, subkulturelles Spielzeug oder expressives Token wie eben das Smiley. Recht haben die Künstler, die auf dieser ganzen Klaviatur spielen.

Titelbild

Hans Belting: Faces. Eine Geschichte des Gesichts.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
340 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406644306

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