Beschwiegene Vergangenheit

Knud von Harbou folgt in seinem Buch „Wege und Abwege“ den Spuren des Journalisten und Verlegers Franz Josef Schöningh

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er habe „auf keinen Fall Soldat Hitlers“ werden wollen, notierte der Mann im Frühsommer 1945, als alles vorbei war, das „Dritte Reich“ in Trümmern lag und Deutschland für einen kurzen historischen Moment nur noch als geografischer Begriff existierte. Was er zu Papier brachte, war ein Rückblick im Gewand eines Rechenschaftsberichtes. Tatsächlich handelte es sich um Rechtfertigung und Selbstentschuldung. Autor war Franz Josef Schöningh, ein Angehöriger der Paderborner Verlegerfamilie, der nach Studium, Promotion und vergeblichen Versuchen, sein Geld als Schauspieler zu verdienen, 1934 in das intellektuelle Flaggschiff der katholischen Publizistik, in die Redaktion der Zeitschrift „Hochland“ eintrat und alsbald deren Leitung übernahm. Als das Journal 1941 sein Erscheinen einstellen musste, war guter Rat teuer. Denn dem 39-jährigen Schöningh drohte die Einberufung zur Wehrmacht, wo er sich „ohne Aussicht auf Offiziersrang“ als Rekrut der „preußischen Massenbehandlung“ hätte unterwerfen und schlimmer noch: auf den „Führer“ einen Eid schwören müssen.

Die beherzt ergriffene Alternative bot eine Position in den Okkupationsgebieten des Ostens. Die Freundin seiner Frau vermittelte Kontakte zu einem der Kreishauptleute in Galizien, das im Sommer 1941 nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Sowjetunion dem Generalgouvernement zugeschlagen worden war. Dort traf Schöningh auf Mogens von Harbou, der als Chef der Zivilverwaltung in einem Nest namens Sambor, nordwestlich von Lemberg, amtierte. Mit ihm verstand er sich offenbar auf Anhieb. Harbou sei zwar Parteigenosse gewesen, meinte er, aber kein Nazi, vielmehr ein Bruder im Geiste, vor dem er seine Überzeugungen nicht habe verhüllen müssen: weder seine Aversionen gegen das NS-Regime, noch die Gewissheit, „daß Deutschland den Krieg verlieren werde“. Seine Funktion war die eines stellvertretenden Kreishauptmanns, die er auch in Tarnopol behielt, einem Städtchen am östlichen Rand des Distrikts, wohin Harbou und er im März 1942 versetzt wurden.

Folgt man der eingangs zitierten Niederschrift, so war Schöninghs Tätigkeit an Harmlosigkeit kaum zu übertreffen. Vor allem die Jagd und die Pflege der Wälder hatten es ihm, dem passionierten Jäger, angetan. Welche Pflichten ihm wirklich oblagen, bleibt jedoch relativ dunkel. Erwähnt werden die regelmäßig bei der vorgesetzten Behörde in Lemberg einzureichenden Berichte, in denen er ein ungeschminktes Bild der Lage gezeichnet, namentlich das Augenmerk auf die „Stimmung und Nöte der Bevölkerung“ gelenkt habe. Auch deren religiöse Empfindungen seien stets anerkannt und berücksichtigt worden. Beim unbefangenen Leser erweckt dies den Eindruck, als sei der Amtswalter in erster Linie der Protektor von Land und Leuten gewesen. Wiederholt wird auf Spannungen zwischen der Kreishauptmannschaft und anderen Dienststellen hingewiesen, etwa dem Arbeitsamt, bei dem die zwangsweise Aushebung von Arbeitskräften für die Bedürfnisse des Reichs ressortierte, oder der Sicherheitspolizei, deren Führer in Tarnopol, ein Sturmbannführer Müller, als „Verbrecher“ tituliert wird. Die Ermordung der in der Stadt und im Kreis ansässigen Juden, die sich seit dem Sommer 1942 häufenden „Judenaktionen“, ein Synonym für Massenerschießungen und Deportationen in das Vernichtungslager Belzec, werden der Rede nicht für Wert befunden, wohl aber – trotz der Gefahr für Leib und Leben – Schöninghs und Harbous Initiativen zur Rettung einzelner Juden, die sich im Angesicht der allenthalben veranstalteten Exzesse recht bescheiden ausnahmen, gleichwohl nicht gering zu achten waren.

Tatsächlich spielte sich die „Endlösung“ vor den Fenstern des stellvertretenden Kreishauptmanns ab. Und es ist schwer vorstellbar, dass dieser nichts davon bemerkt haben sollte. Nach dem Krieg betonte er in Entnazifizierungsverfahren, zu denen er als Zeuge geladen war, mehrfach und wider besseres Wissen, dass die Zivilverwaltung im Generalgouvernement mit sauberer Weste agiert und sich nichts vorzuwerfen habe. Terror, Mord und Totschlag seien allein auf das Konto der SS, der Gestapo und deren Helfershelfer gegangen: eine Legende, mit der auch die Wehrmachtsgeneralität operierte, um sich nach dem Krieg aus der Verantwortung zu stehlen. Die Befunde der neueren Forschung lassen jedoch hier wie dort an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die Kreishauptleute, deren Rolle – und damit die eigene – Schöningh systematisch klein redete, waren jeweils über die einzelnen Maßnahmen zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung informiert und in unterschiedlichem Umfang darin eingebunden. Am 23. Juni 1943, nachdem zuvor die letzten Insassen des Ghettos von Tarnopol erschossen worden waren, ließ Harbou plakatieren, die Stadt sei „judenfrei“. Während die Mehrzahl seiner Amtsgenossen die Verfahren vor den Spruchkammern unbeschadet überstand, hatte er selber das Pech, dass Polen seine Auslieferung beantragte. Um sich der dortigen Justiz zu entziehen, von der er vermutlich nichts Gutes zu erwarten hatte, wählte er im Dezember 1946 den Freitod.

Rekonstruiert hat diese Begebenheiten sein Sohn Knud von Harbou, dessen Mutter Lily in den frühen 1950er-Jahren eine Zeitlang mit Schöningh liiert war. Herausgekommen ist im strengen Sinne keine Doppelbiografie, für die Kriegsjahre aber doch fast. Sich mit Schöninghs „Wegen und Abwegen“ zu beschäftigen, erhellt zugleich die des Vaters. Die Urteile, die der Autor mit gebotener Nüchternheit über jenen fällt, gelten ebenso für diesen. Die Quellen, aus denen er hauptsächlich schöpft, sind Papiere aus dem Nachlass Schöningh, die sich bei den Kindern von dessen Tochter fanden: Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und vereinzelte Dokumente. Sie werfen Licht auf die private wie die berufliche Existenz des Protagonisten. Für den entscheidenden Zeitraum der „Endlösung“ in Tarnopol zwischen Juli 1942 und August 1943 klafft allerdings eine Lücke. Das mag Zufall sein, und zweifelsfrei klären lässt sich das nicht. Aber es gibt ein paar Indizien dafür, dass nach dem Krieg belastendes Material, welches die Strategien der Selbstentschuldung hätte konterkarieren können, mit Bedacht beseitigt worden ist. Dies passt insofern ins Bild, als überhaupt offen bleiben muss, wie Knud von Harbou resümiert, ob und wenn ja auf welche Weise ein „humanistisch-bildungsbürgerlicher Intellektueller mit starkem kirchlichen Hintergrund“ den „mörderischen Dauerterror reflektierte, verarbeitete und für sich bewältigte“.

Die Schilderung der Kriegsjahre ist eingebettet in eine kürzere Vor- und eine längere Nachgeschichte. Jene ist der Herkunft aus einer westfälisch katholischen Verlegerfamilie gewidmet, diese der Tätigkeit als Lizenznehmer und Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ und parallel dazu erneut als verantwortlicher Schriftleiter der Zeitschrift „Hochland“. Auch hier versteht es der Autor, das Wirken Schöninghs in aufschlussreiche Kontexte zu setzen, Licht zu werfen auf die Entstehung und die Entstehungsbedingungen, auch auf Kontinuitätslinien des bundesdeutschen Nachkriegsjournalismus. Das Porträt der Hauptfigur weitet sich dabei zu einem solchen der „Süddeutschen Zeitung“, deren Anfänge geprägt waren von einem dezidiert süddeutsch bayerischen Föderalismus mit deutlich antipreußischer Spitze. Ihn vertrat Schöningh ebenso wie sein damaliger Mentor Wilhelm Hausenstein, später der erste Repräsentant und Botschafter der Bonner Republik in Frankreich.

Das Markenzeichen des Blattes, das „Streiflicht“ auf der ersten Seite, geht auf Schöningh zurück, der darin eine „Art Leuchtturm im Sturmgebraus der täglichen Hiobsbotschaften“ sehen wollte. Diese Plauder- und Kommentarspalte nutzte er häufig, um seinen Überzeugungen, auch den eigenen Ressentiments, Ausdruck zu verleihen. Er polemisierte gegen kollektive Schuldzuweisungen an die Deutschen, die sich von der Suggestivkraft Adolf Hitlers hätten blenden und 1939, als der Krieg vom Zaun gebrochen wurde, zur „Schlachtbank“ führen lassen. Auch die emigrierten Schriftsteller kamen nicht ungeschoren davon. Schöningh stempelte sie, wie in jenen Jahren vielfach üblich, zu „Nichtdabeigewesenen“, sprach ihnen das Recht ab, die Daheimgebliebenen zu be- oder gar zu verurteilen. Das Attentat vom 20. Juli 1944 wertete er als „Notschrei eines vergewaltigten und irregeleiteten Volkes“, eine abenteuerliche Interpretation. Aber auch dies gehörte zur Unschuldspropaganda, die der Entlastung von Individuum und Nation diente, eingehüllt in Selbstgerechtigkeit und wolkiges Pathos.

Nach der Lektüre des Buches wird klar, warum Schöninghs Enkel, als Knud von Harbou sie mit der Geschichte ihres Großvaters konfrontierte, fürs erste „fassungslos“ waren. Denn bis dahin hatte man im Kreise der Familie die Schattenseiten der Biografie, die „Abwege“ ihres „verehrten“ Altvorderen nicht besprochen, sondern beschwiegen. Der moralische Preis dafür, dass Schöningh nicht „Soldat Hitlers“ hatte werden wollen, dürfte hoch gewesen sein: für ihn selber ebenso wie für Kind und Kindeskinder.

Titelbild

Knud von Harbou: Wege und Abwege. Franz Josef Schöningh, der Mitbegründer der Süddeutschen Zeitung. Eine Biografie.
Allitera Verlag, München 2013.
357 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783869064826

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