Atmosphären von Wahrnehmungszuständen

Nico Bleutges Gedichtband „verdecktes gelände“ – zwischen Dunst und Raumbewegung

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den Augenblick, das Sehen und die subjektive Wahrnehmungsbewegung in Sprache zu wandeln, ist eine Herausforderung, die anzunehmen sich viele zeitgenössische Dichter berufen fühlen. Doch nur wenige nähern sich ihr auf einem so nüchtern-ästhetischen und gleichzeitig hellwachen wie vielschichtig verträumten Weg wie Nico Bleutge, der sich dieser Herausforderung zum wiederholten Mal stellt. Die Wahrnehmung von Landschaften ist durchgängiges Thema seiner Lyrik und beschäftigte ihn bereits in seinen ersten beiden Gedichtbänden. Auch Bleutges neuer, dritter Gedichtband „verdecktes gelände“ führt hinaus – an die Nordsee, in düstere Wälder und in graue Städte – und schärft die Sinne. Er setzt Groß- und Kleinschreibung außer Kraft und lädt zum Schauen und Horchen auf eine sehr spezielle Weise ein.

Die Landschaften, die sich in den Versen ausbreiten, sind nicht statisch. Sie verändern sich. Oft sieht man zuerst Details wie Pollenstaub, einen Strohhalm, einen Tautropfen und regennasse Steine. Doch wenn ein Mädchen am Strohhalm saugend den Teer der Straßen heranholt und schließlich eine ganze Stadt an Kabeln gezogen wird, ist längst die Grenze zur Traumwelt überschritten worden. Die Grenzen zwischen enigmatischen Traumzuständen und hellwachen Beobachtungen verschwimmen, sind dennoch erkennbar und werden sogar immer wieder diskret nachgezogen. Hernach verdecken Rauch, Baustaub, Nebel, Dämpfe, Dunst, Dämmerung und Dunkelheit die räumlichen Strukturen und lassen Vorhandenes und Fantasie ineinander gleiten. Sogleich verliert das Sehen an Bedeutung. Wenn der klare Blick verstellt ist, horcht das lyrische Ich äußerst einfühlsam, aber nicht verzückt auf den ,Zustand der Luft‘. Dann beginnt das Lauschen, die Töne stehen im Vordergrund: „saugende töne“, „blubbern“, „murmeln“, zischen und auch Echos nachhallender Keller sowie „die dichte ruhe / der bebauungsflächen“ sind einige wenige Ausschnitte der ausgebreiteten Klangwelten, „eine neue verbindung / von lauten und grenzen“. Die Sinne ergänzen sich. Auf diese Weise entsteht ein komplexer Resonanzraum für Reflexionen und Erinnerungen.

Verschwimmt alles vor den Augen und in den Ohren und beginnt ein Traum mit einem schleichenden Crescendo der Satz-Segmente, setzen die Verszeilen einen fesselnden Rhythmus in Gang wie beispielsweise im Gedicht „nur seufzen“, in dem die Flucht eines Hirsches „über wurzeln hinweg“ so erhitzend und gehetzt inszeniert wird, dass der Leser die Angst, die nassen Flanken und bebenden Nüstern des Tieres spüren kann. Die Kraft der Gedichte geht nicht allein von ihren Inhalten aus, sondern die verschiedenen Rhythmen führen zu neuen konnotativen Ketten, die erfühlt werden können. Nico Bleutge hat nicht nur beobachtet, gehorcht und in Worte gefasst, er hat ästhetische Kompositionen aus Rhythmus und Sinn geschaffen.

Diese Verbindung der Dinge – das Auflösen der Sichtlinien, Vergehen in Glut und Dunst und die rhythmische Sortierung („dunst und raumbewegung“) – verbirgt sich hinter Sätzen wie „die luft nimmt form an“ oder „der ganze raum schlägt aus“. Räume fächern sich mehrschichtig auf, „die schichten vermischen sich langsam“. Ein Sog entsteht. Es handelt sich um eine neue Raumsemantik, die fernab des klassischen „Naturgedichts“ liegt. Lutz Seiler gab daher in seinem Juryurteil für den Erich-Fried-Preis, mit dem Nico Bleutge 2012 ausgezeichnet wurde, als Begründung die Erneuerung der Naturwahrnehmung in der Sprache des Gedichts an und attestierte den Gedichten eine vollkommen eigene Bildqualität.

Nico Bleutge lässt den Leser an dem teilhaben, was er konzentrierte Euphorie und Atmosphären von Wahrnehmungszuständen nennt. Gleichzeitig webt er Impulse anderer Autoren in seine Texte ein, die sich zwischen seine Worte ducken und mit denen er Denkstränge aufnimmt, auf die er in einem kurzen Nachwort eingeht. Als Zitate sind die fremden Stimmen nur teilweise erkennbar. Doch das ist auch nicht wichtig. Indem Bleutge Sprachmaterial nutzt und sich von dessen Rhythmen inspirieren oder gar leiten lässt, entsteht eine vielstimmige Essenz, von der eine noch größere Faszination ausgeht.

Es sollte sich eine ruhige Minute finden, um diese Expedition in eine Welt abstrakter Wahrnehmungen anzutreten und um selbst Bleutges ungewöhnliche sprachliche Zugangsart zur Natur über Klänge und Rhythmen nachzuempfinden. Dieser Gedichtband verdient Beachtung.

Titelbild

Nico Bleutge: verdecktes gelände. Gedichte.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
75 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783406646782

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