Flucht nach Hinten

Udo Bermbachs „Mythos Wagner“ enttäuscht nach seinen früheren Büchern

Von Ulrich DrünerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Drüner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Udo Bermbachs neuestes Buch ist sein sechstes zum Thema Wagner; zusammen mit 20 Artikeln repräsentieren sie das staunenswerte Ergebnis einer fast lebenslangen Beschäftigung mit diesem Komponisten. Seine bisherigen Bücher stehen in den Regalen eines jeden Wagner-Forschers. Das neueste Buch aber überrascht etwas; es ist für ein viel breiteres Publikum gedacht. Es soll den Mythos erklären (Kapitel 1), indem ein biografischer Teil (Kapitel 2-4) einem rezeptionsgeschichtlichen (Kapitel 5-8) gegenübergestellt wird. Doch fängt das Buch ‚von hinten‘ an, das heißt mit Wagners Begräbnis, mit viel Trauerflor, Tränen und Menschenmassen – mit viel Wagner-Kitsch, der auf das Buch abzufärben droht.

Die Umkehrung hat Methode, denn aus den Nachrufen schließt der Autor: „Das waren die Sprache und der Ton, die zum Mythos Wagner führen sollten.“ Die Botschaft lautet: Der Mythos beginnt in der Hauptsache erst mit dem Tod Wagners und stammt weniger von ihm als von seinen Erben und Nachfolgern. Und wo es Mythos gibt, ist in der Regel die dazu gehörende Gründungslegende nicht fern. Man findet sie gleich zu Beginn des Buches: „Dass er seine Überzeugungen in großen Teilen auch lebte, machte ihn lange vor seinem Tod schon zu einem Mythos.“

Das ist sehr fraglich, weil man die Überzeugungen, auf denen Wagners Werke gründen, gar nicht leben kann: sie sind abstrakt, sie sind künstlerischer und gesellschaftlicher Natur – Bermbach hat das in seinen vorangehenden Büchern dargestellt. Wagner hat seine Überzeugungen verwirklicht, aber nicht gelebt – das ist etwas anderes.

Wie groß der Zwiespalt zwischen Lebensführung und Ideologie ist, geht aus tausenden Briefen Wagners hervor. Er hat allerdings schon früh eine bewusste Legendenbildung seiner selbst gestaltet, wie Klaus Kropfinger in seiner Untersuchung zur Beethoven-Rezeption Wagners bereits 1975 feststellt. Bermbach beruft sich auf die veraltete Vorstellung, wonach Mythen „ewig gültige Geschichten“ erzählen. Das stammt von Kurt Hübner, und daran glaubt heute niemand mehr; Roland Barthes, der auf die Manipulierbarkeit des Mythos hingewiesen hat, gibt Definitionen, die für Wagner weitaus genauer zutreffen.

Bermbach bemüht sich um ein kohärentes Bild des Komponisten, was die Gefahr birgt, dessen Lebensbezüge einzuebnen. Er zeichnet einen Wagner der 1848er-Revolution, der seine Zürcher Schriften verfasste, um eine bessere künftige Welt zu beschreiben. Heraus kommt ein eher politisch interessierter Künstler, der sowohl eine „Weltanschauung“ als auch ästhetische Postulate vertrat und diesen Überzeugungen alles unterordnete. Ein solches Bild ist nur um den Preis selektiver Vorgehensweisen möglich, und es übersieht, dass Wagner nicht zuerst Philosoph oder Politiker war, sondern Musiker, der sein eigenes Werk verstanden wissen wollte und alles erdenkliche tat, um es voranzubringen. Bermbach sieht schon in dem Verfasser der Novellen „Ein deutscher Musiker in Paris“ und „Ein Ende in Paris“ (beide 1841) den Autor als „exzeptionelle Persönlichkeit“, der „aus dem Meer der Durchschnittlichkeit“ heraustritt. Zu diesem frühen Zeitpunkt, 1841, hat Wagner gerade den keineswegs reifen „Rienzi“ vollendet; hier „Alleinstellungsmerkmale“ zu suchen, die Wagner schon 1841 über alles „herausheben“ sollen, macht keinen Sinn. So zu tun, als habe sich um diesen noch sehr jungen Wagner herum nur Durchschnittliches abgespielt, kann man nur als einen völligen Mangel an musikhistorischem Überblick bezeichnen. Ebenso verfehlt ist es, die Zürcher Schriften (1849-1852) quasi als Wagners ‚letztes Wort‘ emporzustilisieren, weshalb Bermbach große Probleme hat, die späten Schriften in sein Gesamtbild einzuordnen.

Die Biografie, die Bermbach mit dem 2. Kapitel beginnt, ist demnach bereits mit ahistorischen Etiketten belastet. Sie stützt sich weitgehend auf Gregor-Dellin, Aktuelleres benützt Bermbach nicht, und er bietet auch keine eigene Recherche an. Das Verhältnis Wagner-Meyerbeer verzerrt er vollkommen und gibt Letzterem die vollständige Schuld am Hass des Jüngeren, obwohl erst durch Meyerbeers persönlichen Einsatz Wagners erste Erfolge in Dresden und Berlin zustande kamen. Wagners „blanken Hass“ hält er trotzdem für „psychologisch leicht nachzuvollziehen“. Warum? Weil es so in „Mein Leben“ steht. Es ist atemberaubend, mit welch gläubiger Naivität Bermbach die tendenziösen Informationen aus Wagners Autobiographie übernimmt, obwohl die Wiedergabe der Pariser Verhältnisse 1839-42, insbesondere die genannten Geldbeträge und deren Vergleichsmaßstäbe, als ‚getürkt‘ zu erkennen sind. Bermbach aber glaubt noch felsenfest an Wagners „Elendsjahre“, an „Erniedrigung“, „Verzweiflung“, „Tiefpunkte“, „Kränkung“ – worüber sich „alle seriösen Biographien“ angeblich einig seien. Nicht einmal das stimmt, weil man schon längst einige der Pariser Klagen als Übertreibungen identifiziert hat, um Geldgeschenke aus der Heimat einzutreiben. Viele Briefe der Jahre 1839-42 sprechen denn auch eine andere Sprache, und daher ist Martin Geck in seiner Wagner Biografie zuzustimmen, den Schilderungen Wagners zutiefst zu misstrauen.

Das Heldenepos, das Bermbach herrichtet, kommt für die Jahre 1849/50 ins Schlingern. Die Mai-Revolution 1849 als Aktion „von links“ zu vereinnahmen, ist bei passender Zitatauswahl nicht schwer. Nun gibt es aber auch gegenteilige Aussagen Wagners, welche seine Revolutionsbeteiligung zu einer komplexen Sache machen. Noch heikler ist’s, wenn es um Wagners antisemitische Positionierung im Jahre 1850 geht. Das Pamphlet „Das Judentum in der Musik“ wird mehrfach erwähnt, konkret analysiert wird es nicht. Wo der Antisemitismus in die Kunst überschwappt, zieht Bermbach die Notbremse des selektiven Zitierens. So greift er zur rechten Zeit den an Franz Liszt gerichteten berühmten Brief vom 11. Februar 1853 auf, der den Inhalt des Nibelungen-Rings zusammenfasst: „Beachte wohl meine neue Dichtung – sie enthält der Welt Anfang und Untergang! – Ich muß es nächstens noch für die Frankfurter und Leipziger Juden komponieren – es ist ganz für sie gemacht.“ Bisher hat jede Biografie dieses Zitat gebracht – jedoch ausnahmslos ohne den hier kursiv markierten Teil. Bermbach bringt ihn freilich auch nicht. Dass Wagner in dem Brief sein philosophisches Konzept verankert, hat man zur Belehrung des Lesers stets weitergereicht – dass darin aber auch die ideologische Position desselben Kunstwerks angesprochen ist, darf der Leser nicht erfahren. Und auch bei dem Zitat „Parsifal sei seine letzte Karte“ verschweigt Bermbach den Rest. Es heißt aber korrekt: „Gobineau sagt, die Germanen waren die letzte Karte, welche die Natur auszuspielen hatte, Parsifal ist meine letzte Karte“. Auch hier unterschlägt Bermbach den ideologischen Kontext.

Gute zu lesende Wagner-Biografien haben oft mäßige Werkbeschreibungen; die Autoren guter Interpretationen haben dagegen oft weniger Interesse am Biografischen (wie die neuen Bücher von Geck und Millington zeigen). Musikologische Analyse ist nun Bermbachs Sache gar nicht, und so hat das Wort „clusterhaft“ im Kontext des „Parsifal“ einfach nichts zu suchen, es ist ausschließlich an Phänomene des 20. Jahrhunderts gebunden. Dass Bermbach kein musikwissenschaftlicher Fachmann ist, zeigte er bereits in seinem Buch von 2003, wo er die chromatik- und septimengeschwängerte Venusberg-Musik in „Tannhäuser“ doch glatt mit Rousseau’schem „Naturzustand“ verwechselt. Der Praktiker Wagner hätte seinen Rousseau logischerweise in diatonischen und harmonischen Grundschritten dargestellt und damit das Gegenbild zu seinem Venusberg erreicht: dieser ist selbstverständlich Abbild des „ekelhaften Bodens der modernen Sinnlichkeit“, Zeichen jener Moderne, die Wagner bereits in „Tannhäuser“ frontal angreift. Das deutlichere Beispiel aus dem älteren Buch ist hier nötig, um ein Grundübel auch des neuen Bermbach-Buches zu markieren: dass die von ihm als Musikfremdem nicht verstandenen musikalischen Sachverhalte zu abwegigen Interpretationen führen.

Noch bedenklicher wird Bermbachs Darstellung, wenn er in gleicher Manier mit den Schriften Wagners umgeht. So behauptet er, der (von Cosima, Wolzogen, Chamberlain und Glasenapp geprägte) „Bayreuther Gedanken“ sei eine „völlige Umdeutung der Intentionen Wagners“. Bermbach meint, Glasenapp bezeichne zu Unrecht „den arischen Idealismus als die leitende Idee seiner [Wagners] Werke“. Doch Glasenapp täuschte sich nicht. In einem Brief vom 17. Mai 1881 an König Ludwig II. bezeichnete Wagner seinen „Ring“ unumwunden als „das der arischen Rasse eigentümlichste Kunstwerk“.

In den berüchtigten „Regenerationsschriften“ (1880-81) wird Wagner noch deutlicher, doch behandelt Bermbach sie zu oberflächlich. Um ihn zu verifizieren, muss man die Originaltexte zu Rate ziehen, welche dem Normalleser freilich nicht zu Gebote stehen. Das liest sich wie das große Alphabet des „Bayreuther Gedankens“: Antisemitisches Gottesbild, Antisemitismus als biologischer Rassismus, Ausbeutung niederer Rassen als Naturrecht, Dekadenz und Degeneration (durch rassische Blutsvermischung), Feindschaft gegen die Moderne, gegen Liberalismus und Demokratie werden behandelt; es geht um die Forderung nach „Helden-Naturen“ (diese müssen arisch und rassenrein sein, zum Beispiel Siegfried). Deren Steigerungsform sei der „göttliche Held“ (= der Heilige, zum Beispiel Parsifal). Dazu braucht er Jesus als den entjudeten „Erlöser“.

Ferner sind angesagt: Kapitalismuskritik (in antisemitischem Ton), Kunstreligion, der Künstler als Priester, Materialismus als jüdische Partikularität, Regeneration durch Besinnung auf den „Neuen Menschen“ (Stichworte: groß – schön – stark – naiv – führergläubig – konservativ). Man liest auch über die angebliche „soziale Ausbeutung“ durch das Judentum und erfährt einiges zur „Überlegenheit“ der weißen Rasse (durch schärferen Intellekt und größere Willensstärke); es kommt auch die „Weltverschwörung“ des Judentums zur Sprache. Zur Bewältigung des ‚jüdischen Problems‘ erwägt Wagner sogar eine „große Lösung“, die erreicht würde, „wenn es keine Juden mehr geben wird“. Diese Lösung, meinte Wagner, dürfte „uns Deutschen“ wohl „eher als jeder anderen Nation ermöglicht sein“. Freilich konnte Wagner nichts von der Zeit ahnen, in der solche Texte jedem Leser das Blut in den Adern gefrieren lassen muss. All diese „Erkenntnisse“ wurden im 10. Band der „Gesammelten Schriften und Dichtungen“ wieder veröffentlicht und gingen mit dem „Parsifal“-Libretto, quasi als ‚Gebrauchsanleitung‘ dazu, in die Welt.

Bermbach verwischt die Grenzen zwischen Text und Wirkung bis zur Unkenntlichkeit. Dass der grandiose Musiker eine Nachtseite hatte, kann er nicht ertragen, weshalb er glaubt, ihn bis zur Verfälschung ‚in Schutz‘ nehmen und schier vergöttlichen zu müssen. Bermbachs Buch von 2011 („Richard Wagner in Deutschland“) war auf hohem Niveau, wie auch die davor erschienenen; seine neueste Publikation ist ein Rückfall in längst vergangen geglaubte Jahre der selektiven Wahrnehmung und Mythisierung. Man kann diesem Komponisten nur beikommen, indem man seine Widersprüche akzeptiert und nicht, indem man blinde Flecken produziert.

Titelbild

Udo Bermbach: Mythos Wagner.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2013.
335 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347313

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