Gwald geschrign!

Thomas Meyers Erfolgsroman über die putzigen Assimilationsversuche eines orthodoxen Zürcher Juden schwelgt in Klischees. Dass der Autor vom Antisemitismus vermutlich nicht einmal etwas ahnt, macht die Sache auch nicht besser

Von Matthias N. LorenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias N. Lorenz

„Zwei Klischees sind lächerlich, hundert Klischees sind ergreifend.“[1] Gilt der berühmte Satz von Umberto Eco auch für den Schweizer Erfolgsroman „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer schickse“?[2] Man möchte es annehmen, immerhin ist sein Buch ein kleiner Bestseller, noch im Debütjahr 2012 nicht weniger als fünfmal aufgelegt und als einziger Romanerstling nominiert für den Schweizer Literaturpreis.

An Klischees mangelt es dem Roman wahrlich nicht: Sexualisierung der Juden, ihr angeblicher Hang zum Handeln, Gestikulieren, Debattieren und Wehklagen, die Sphäre des Geldes wie einige einschlägige Körperstereotype sind massenhaft vorhanden und provozieren. Liegt hier vielleicht eine besonders raffinierte Antisemitismuskritik vor, die uns die Stereotype so dick aufgetragen präsentiert, damit wir sie als solche erkennen? Und kann das gutgehen?

„Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer schickse“ ist ein zeitgenössischer Bildungsroman, genauer: eine Adoleszenz- und eine Assimilationsgeschichte, und er tritt zudem als dezidiert komischer Roman auf. Erzählt wird aus der Perspektive des 25-jährigen Mordechai Wolkenbruch, genannt Motti, dem von seiner Mutter nahezu täglich Frauen aus dem orthodoxen Schweizer Milieu zugeführt werden. Das Problem: Mottis mame ist besessen von der Vorstellung, ihr Jüngster müsse baldmöglichst chassene (Hochzeit) machen, sie will einen guten schidech (Heiratsvermittlung) organisieren, und das heißt für sie vor allem: so schnell und so orthodox wie möglich. Das zweite Problem: Die jungen Jüdinnen, die aus Zürich, Basel, Bern angekarrt werden, sehen alle exakt so aus wie die mame, vor allem haben sie alle einen enormen tuches (Hintern). Wieviel attraktiver erscheint Motti da seine Kommilitonin Laura, die titelgebende schickse, deren Hintern dagegen so aufregend „kompakt“ anmutet.

Motti lehnt sich im Romanverlauf gegen die Mutter und damit gegen Familie und Gemeinde auf, weil ihn der Gedanke an diesen nichtjüdischen Allerwertesten nicht mehr loslässt. Eine Entsendung nach Israel (ausgerechnet nach Tel Aviv) erweist sich als kontraproduktiv, da Motti sich hier nicht auftragsgemäß eine Braut sucht, sondern mit der freizügigen Michal schläft. Es geht im Folgenden darum, diesen Weg gegen alle äußeren Widerstände und inneren Bequemlichkeiten zugunsten eines etwas penetrant beschworenen ‚eigenen Wegs‘ zu verlassen. Am Ende bekommt Motti den ersehnten tuches der schickse. Die blutigen Lippen, die er sich deswegen bei seinem deutschen Nebenbuhler Thorsten holt, sind wohl der Preis der Freiheit.

Thomas Meyers Roman einer nachgeholten Mannwerdung ist in der Schweiz wohlwollend bis hervorragend besprochen worden, in den Foren der Rezensionsorgane äußern sich die Fans. Seine weitgehende Nichtbeachtung im deutschen Literaturbetrieb[3] sowie die reservierte Reaktion jüdischer Presseorgane nutzt der Autor zu einer subtilen Profilierung als Tabubrecher.[4] Ein Nichtjude dürfe so einen Roman nicht schreiben, er als Jude aber schon, schließlich sei das alles eine Parodie auf das eigene Milieu.[5] Ähnlich wie bei den Filmen seines Schweizer Landsmanns Dani Levy („Alles auf Zucker!“, Deutschland 2004[6]) dient die Person des Autors zur Immunisierung gegen eine Kritik, die im Spiel mit den Klischees Antisemitisches erkennen wollte. Meyers Roman, so die „Jüdische Rundschau“, sei ein Buch für Nichtjuden, und Meyer stimmt dem zu.[7] Zugleich ahnt auch er, dass sich die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft wohl nicht deshalb um sein Werk reißt, weil sie plötzlich so interessiert am Judentum wäre.[8] Der Grund für den Erfolg des Romans ist vielmehr, davon zeugen auch die mitunter geradezu befreiten Kommentare in den Foren, seine Komik. Diese stellt sich auf mehreren Ebenen ein, unter anderem durch die Anpassungsschwierigkeiten Mottis an das Leben außerhalb der jüdischen Orthodoxie, die stereotypen Figuren, die Erfindung absurder Episoden (etwa Mottis nostichl-Versorgung durch die mame: die mütterliche Ausstattung mit Taschentüchern fungiert als Stimmungsbarometer der Mutter-Kind-Beziehung), vor allem aber durch das Jiddisch, in dem Meyer seinen Ich-Erzähler über weite Strecken nicht nur mit anderen Figuren sprechen, sondern auch denken und an uns Leser berichten lässt.

Die Judendarstellung in der europäischen Literaturgeschichte ist mittlerweile ein anerkanntes Forschungsgebiet der Literaturwissenschaft, insbesondere was die deutschsprachige Literatur angeht. Es sind Kriterienkataloge entwickelt worden, denen antisemitische literarische Texte entsprechen, und es sind auch für die nachnationalsozialistische Zeit Typisierungen beschrieben worden, denen die literarische Judendarstellung immer wieder gefolgt ist. Diese Instrumentarien sind sämtlich dort defizitär, wo sie Allgemeingültigkeit beanspruchen oder aber die künftige literarische Produktion vorab reglementieren wollen. Gleichwohl helfen sie dem Interpretierenden, sein Augenmerk zu schulen und etwaige antisemitische oder eben gegenläufige Textmerkmale zu erkennen. Bewerten muss sie der Interpretierende schließlich aufgrund einer Deutung, die dem jeweiligen Text gerecht wird, stets selbst.[9]

Martin Gubser hat sechs Indikatoren ausgemacht, anhand deren sich der antisemitische Grad literarischer Texte messen lasse. Er nennt 1. die Verwendung tradierter antisemitischer Stereotype, die die Figur auf ihr Judentum reduzierten, 2. die ‚jiddelnde‘ Figurensprache als Instrument, eine Figur lächerlich zu machen, 3. die Betonung einer spezifischen Andersartigkeit ‚der Juden‘, wenn diese im Text als Makel erscheine, 4. eine dichotomische Rollenverteilung zwischen guten Nichtjuden und schlechten Juden, 5. einen pejorativen Erzählerkommentar. Der sechste Indikator, der Gubsers Liste abschließt, lautet: „Will ein Autor mit einem fiktionalen Text literarischen Antisemitismus aufzeigen, so muß er durch geeignete Distanzierungsmittel den Unterschied zum Aufweisen hinreichend deutlich machen. Fehlen diese Hinweise, muß der Autor damit rechnen, daß der Text als antisemitisch interpretiert und ihm die Verantwortung dafür angelastet wird.“[10] Sehen wir uns daraufhin „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer schickse“ einmal an.

Klischees: Ob es die angebliche sexuelle Überaktivität der Juden ist (vgl. Mottis Gesäßfixierung und sein ausschließlich sexuelles Interesse an Frauen; beim Meditieren über das Nabel-Chakra, den Sitz der Zeugungskraft, vermag er vor Geilheit seine Atmung nicht mehr zu kontrollieren, vgl. S. 127) oder die vertauschten Geschlechterrollen mit dominanten Frauen und schlappen Männern, ob es der jüdische Hang zum Handeln (beim Autoverkäufer, bei einem selbst verschuldeten Verkehrsunfall oder gar mit dem Tod, vgl. S. 44, 76, 85), das wilde Gestikulieren beim ‚uferlosen Debattieren‘ (vgl. S. 65) ist, das immer wieder beschworen wird (vgl. u.a. S. 73, 190, 247, 254), oder ihr theatralisches Wehklagen (z. B. „Gwald geschrign!“, S. 134; „Oj wej!“, S. 87) – Meyer lässt hier wenig aus. Die Stereotypisierung setzt sich fort in der Überzeichnung der Figuren, allen voran der jüdischen mame, die in immer neuen Ausgaben als Mutter oder potentielle Schwiegermutter oder Heiratskandidatin auf den Protagonisten losgelassen wird. Es sind alles „Duplikate“ (S. 14) von Mottis Mutter, sie stopfen sich voll, wollen viele Kinder, schwatzen den Mann „in Grund und Boden“ (14), kleiden sich in „züchtiges X-Large“ (S. 25) und haben alle den gleichen, monströsen Hintern. Mottis mame entspricht dem Klischee der überprotektiven jüdischen Mutter bis zur Karikatur, wenn sie nach einer halben Stunde Abwesenheit den Sohn anruft („Mottele, wo bist du? Ich mache mir sorgn!“ – S. 9), weil diesem doch auch im Migros-Supermarkt etwas Schlimmes zustoßen könnte („Was alles hätte passieren können!“ – S. 10), und schon nach einer auswärts verbrachten Nacht des 25-jährigen Sohnes eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgibt. Die Liste der aus der Geschichte des Antisemitismus bekannten Klischees ließe sich fortsetzen, etwa um den rötlichen Bart Mottis („das schüttere jüdische Gestrüpp“, S. 98), die vergleichsweise subtil eingesetzte, aber eben auch in diesem Roman „schnuppernd[e]“ jüdische Nase, die „Witterung auf[nimmt]“ (vgl. S. 234), oder den Reichtum der Juden (Frau Silberzweig: „Ich habe viel gelt“, S. 68).

Gubsers sechstem Indikator gemäß wäre nun zu fragen, ob der literarische Text diese Klischees beabsichtigt oder unbeabsichtigt aufweist, oder ob er sie vielmehr aufzeigen will, das heißt: sie so überdreht oder aber konterkariert, dass sie erstens als Klischees und damit zweitens als kritikwürdig aufscheinen und den Leser daran gemahnen, dass antisemitische Klischees eben nicht unschuldig, sondern konstitutive Bestandteile der Verfolgungsgeschichte der Juden sind. Wege, die Deutungsmöglichkeit eines bloßen Aufweisens auszuschließen, gibt es diverse. So kann ein Text zum Beispiel jüdische Gegenfiguren präsentieren, die dem Klischee gerade nicht entsprechen, und so deutlich machen, dass es sich bei der klischierten Darstellung nur um ein ,Exemplar‘ handelt, das jedoch nicht stereotyp für das Ganze steht, dass ‚die Juden‘ also so nicht sind. (1) Oder nichtjüdische Figuren fungieren analog zu den jüdischen, so dass ebenfalls deutlich wird, dass die Klischees nicht exklusiv jüdische sind. (2) Auch kann durch ironisierende Komik signalisiert werden, dass die überzeichnete Darstellung nicht der Realität entsprechen will. (3) Und nicht zuletzt können antisemitische Stereotype als solche aufgezeigt werden, indem Figuren als Antisemiten auftreten, die die Vorurteile über die jüdischen Figuren erst in Umlauf bringen (so ließe sich bei wohlwollender Lesart etwa Rainer Werner Fassbinders umstrittenes „Müll“-Stück retten[11]). (4)

(1) Meyers Roman lässt die genannten Möglichkeiten der Differenzierung weitestgehend ungenutzt verstreichen. Alle jüdischen Mütter sind gleich und gleich hässlich, und ihre Töchter gleich dazu. Das scheint gottgegeben: So „fragte ich mich wieder amol, warum G’t keine einheitliche Formensprache verfolgen und alle frojen so gestalten konnte wie [die schicksen] Ena und Laura … … und ob es vielleicht doch mehr als nur einen G’t gebe: einen geschickten, was die schejnkajt anbelangt, jenen G’t, der die Nichtjüdinnen erschafft, und Seinen unbeholfenen Kollegen, den jiddischen G’t – diesen Stümper …“ (S. 187). Als Motti auf Brautschau nach Tel Aviv geschickt wird, lebt er bei seinem Onkel und dessen Frau, die nicht jüdisch-orthodox, sondern esoterisch angehaucht sind. Ist Tel Aviv also jene Gegenwelt, in der die stereotyp gezeichnete Zürcher Judenschaft konterkariert wird? „Es war eine andere Welt. Auch jüdisch, aber anders.“ (S. 139) Doch spätestens bei Mottis Rückreise erweist sich diese Wahrnehmung als trügerisch, als ein junger Flughafenangestellter sich als Leidensgenosse herausstellt, der genauso wie Motti unter seiner übergriffigen mame zu leiden hat (vgl. S. 145).

Es gibt eine einzige Gegenfigur, die nicht dem Klischee der hässlichen jüdischen mame entspricht: Michal, die junge Frau, die Motti in Tel Aviv bei einem schtup (= Stopf, für one night stand) in das Liebesleben einführt. Als Gegenentwurf zur Stereotypisierung der Jüdinnen kann Michal jedoch mitnichten dienen, entspricht sie doch voll und ganz dem Stereotyp der Schönen Jüdin: „eine schlanke junge froj mit krausem schwarzen hor und oliv-brojner Haut; von einer solch offenen scheijnkajt und zugleich betörenden Zerbrechlichkeit, dass ich kurz glaubte, es mit einer orientalischen Ausgabe von Laura zu tun zu haben.“ (S. 125) Zudem ist sie, ganz dem tradierten Typus entsprechend, sexuell die Aktive, ebenso verführerisch wie schamlos, und muss vom Protagonisten schließlich zugunsten einer nichtjüdischen Frau überwunden werden.[12]

(2) Zwar reflektiert der Ich-Erzähler darüber, dass nichtjüdische Mütter sicher genauso wie jüdische Mütter seien: „Vermutlich geben alle mentschn einander ejzes [ungefragte Ratschläge], bloß heißen sie anderswo nicht so. […] Die jiddischen Kinder rufen: ‚Mame, her ojf!‘, und die gojischen rufen: ‚Mutter hör auf!‘“ (S. 45) – allein, der Roman beglaubigt diesen Gedanken nicht. Erstens kommen keine nichtjüdischen Mütter vor, und zweitens werden im Roman Juden und Nichtjuden dichotomisch organisiert. Dies wird deutlich in den Zuschreibungen, die etwa ein jüdischer und ein nichtjüdischer Optiker erfahren, die Motti nacheinander aufsucht, nachdem bei einem harmlosen Auffahrunfall seine Brille zerbrochen ist. Herr Grünstern erscheint als verschrobenes Kerlchen, dessen Schaufenster „stellenweise trüb“ ist und dessen Brillen alle gleich aussehen, ein altmodisches jüdisches Einheitsgestell (wie die Juden auch alle einen Toyota Previa fahren, und so weiter – vgl. S. 66). Auf die Nachricht von dem Autounfall reagiert Grünstern völlig übertrieben. Obwohl nur kleine Schürfwunden zu beklagen sind, stimmt er ein jiddisches Wehklagen an: „und er rief ‚Oj!‘ und ‚Oj!‘ und ‚Oj!‘ und ‚Oj wej!‘ und verwarf die Hände“ (S. 87). Versuche Mottis, das Geschehen zu entdramatisieren, quittiert er „verärgert“ (89). Sein gojischer Kollege dagegen ist ein „simpatische[r] man mittleren Alters“, der nicht nur „freundlich“ schöne Brillen auf einem „hipschn Holztisch“ und auch einen Sehtest anbietet, sondern in Abgrenzung zu Grünstern „mit echter Anteilnahme“ (S. 90) nach dem Unfall fragt. Die dichotomische Gegenüberstellung von trüb vs. hipsch, unechter vs. echter Anteilnahme, verärgert vs. freundlich und so weiter ist überdeutlich: das Jüdische wird ab- und das Nichtjüdische aufgewertet.

Analog fungiert die Opposition von Schönheit vs. Hässlichkeit, die auch noch einmal als Gegensatz von hell vs. dunkel durchkonjugiert wird: in der zitierten Gegenüberstellung von Laura und Michal, deren dunkle Haut betont wird, aber auch in den Zuschreibungen für die allerschönste der Frauenfiguren, die nichtjüdische Ena („ein bleiches Wesen von derart zauberischer schejnkajt, dass ich meinen blik sofort wieder abwenden musste“ – S. 186), und die schrecklichste, Mottis Mutter Judith, geb. Eisengeist, deren Augen „fettige, schwarze Blitze“ (S. 148) aussenden.[13] Die Schwarzweiß-Zeichnung wiederholt sich auch in der stetigen Betonung, die Nichtjuden würden Motti „offen“, „freundlich“ und „simpatisch“ (wörtlich oder sinngemäß u. a. S. 89, 109, 152, 184, 185, 230) begegnen. Während für die Welt des Judentums das Bild der Mauer (vgl. S. 232) stehen bleibt, evoziert die Welt außerhalb das Bild der befreiend „frische[n] Luft“ an einem „strahlende[n] frijmorgn“ (S. 212). Beglaubigt wird diese Dichotomie auch im folgenden Gedankengang Mottis: „Den eigenen Weg zu gehen, überlegte ich, heißt wohl nichts anderes, als sich den Dingen zu stellen, die einem begegneten. Nicht zu versuchen, sie zu umschleichen.“ (S. 142) Überdeutlich wird hier das nichtjüdische Sich-Stellen kontrastiert mit dem jüdischen Umschleichen.

(3) Komik ergibt sich im Roman vor allem aus zwei Umständen, und beide sind nicht geeignet, den Verdacht einer antisemitischen Darstellung zu zerstreuen. Zum einen ist das Jiddische zu nennen, das sowohl im Rahmen der erzählten Geschichte (wenn sich etwa Verständigungsschwierigkeiten mit den gojim ergeben) als auch als Darstellungsmodus insgesamt für komische Effekte sorgt. Dies wird schon deutlich auf der ersten Seite des Romans, dem vorangestellten „Jüdische[n] Trinklied“: „Itzt, bruder, trink ich, / un wen es rojscht in kop, / fajf ich ojf der ganzer welt / un tanz mir hop-hop-hop!“ Die jiddischen Elemente tragen nicht unwesentlich dazu bei, dass die Zürcher orthodoxe Gemeinde wie das Volk der Schlümpfe erscheint: uniform, irgendwie putzig und vor allem nicht ganz ernst zu nehmen.[14] Die Frage nach der Akkuratesse des Jiddischen in literarischen Texten (also nach dem Einwand, in diesem oder jenen Milieu werde doch tatsächlich genau so gesprochen) hat Matthias Richter in einer überzeugenden Studie als irrelevant herausgearbeitet. Entscheidend sei, dass das „Literatur-Jiddisch“ als ein Fremdheitssignal für das nichtjüdische Lesepublikum fungiere.[15] Dass Thomas Meyer das Jiddische vor allem um des komischen Effektes willen verwendet, wird auch daran deutlich, dass er es nicht nur für die direkte Rede, sondern durchgängig auch immer wieder im Bewusstseinsstrom Mottis verwendet. Zugleich handelt es sich jedoch nicht um jiddische Literatur: Die jiddischen Begriffe werden stets nur eingestreut in ein ganz gewöhnliches Hochdeutsch.[16]

Zum anderen sind es Mottis Anpassungsversuche an die außerjüdische Welt, die Komik generieren. So hat der 25-jährige Wirtschaftsstudent augenscheinlich das Weltwissen eines Kleinkindes. Er hat noch nie etwas von Gin Tonic, Cannabis, Kartoffelchips, einer WG oder HipHop gehört, kennt keine Internetpornografie und weiß rein gar nichts über das andere Geschlecht.[17] So kann der Autor seine Figur als weltfremden Gast in ‚unsere‘ Moderne einführen und ihn dabei jeweils dumm aussehen lassen. Mit seiner neuen, hypermodernen Brille macht Motti sich in den Augen des Lesers lächerlich (S. 91), seine in Tel Aviv erworbenen bunten Kleider, die ihn „unsichtbar“ (S. 148) machen sollen, erscheinen ihm selbst als „wie aus dem jüdischen Zirkus entsprungen“ (S. 124), im unkoscheren Café wirkt sein Versuch, die Coolness der gojim zu adaptieren, albern und scheitert auch (vgl. S. 155). Im Prinzip wird hier ein Schema reinszeniert, das als Überaffirmation der nichtjüdischen Welt wohlbekannt ist, insbesondere aus der antisemitischen Literatur der Jahrhundertwende, die sich daran abarbeitete, dass die assimilierten Juden realiter kaum als solche zu erkennen waren.[18] Der Unterschied hierzu besteht darin, dass Meyer Mottis Assimilationsversuch trotz dieser komischen Anpassungsschwierigkeiten nicht scheitern lässt – freilich um den Preis, dass seine Figur dem Judentum völlig abschwören muss – und den assimilierten Juden auch nicht mehr als ‚gefährlichen Juden‘ wahrnimmt, wie ihn Martin Gubser als eines von vier semantischen Grundmustern antisemitischer Judendarstellung ausgemacht hat.[19] Dem ebenfalls von Gubser beschriebenen Typus des ‚lächerlichen Juden‘ entspricht Mordechai Wolkenbruch allerdings voll und ganz. In beiden Spielarten des Komischen im Roman – ‚jiddelnde‘ Sprache und lächerliche Assimilation – lachen wir als Leser nicht mit dem jüdischen Ich-Erzähler, sondern über ihn. Ein solches Lachen hat dann aber keinen emanzipatorischen, aufklärerischen Impetus mehr, sondern entspricht – wenn auch ohne dessen Aggressivität – dem in der gesamten Geschichte des Antisemitismus eingeübten Verlachen der Juden.

(4) Die antisemitischen Stereotype werden im Roman nicht etwa als Auswüchse antisemitischer Figuren vorgestellt, sondern von dem jüdischen Ich-Erzähler selbst geäußert, wodurch sie nicht nur nicht gebrochen, sondern sogar beglaubigt werden. Textintern geschieht hier, was sich textextern mit dem immunisierenden Verweis darauf, dass Thomas Meyer Jude ist, wiederholt. So registriert Motti, dass Laura eine große Nase habe, was im Zusammenhang eines derartigen Stereotypengewitters an die jüdische Nase, den Klassiker unter den antisemitischer Körperprojektionen, erinnern muss. Indem die Nase ‚jiddelnd‘ beschrieben wird („eine recht grojse nos“, S. 151), wird sie zu einer jüdischen Nase. Dass es Meyer genau hierauf anzukommen scheint, wird deutlich, wenn man sich ansieht, wie die sprachlich jüdisch codierte Nase von reinstem Hochdeutsch umschlossen wird: „Mir fiel nun auch auf, dass Laura eine recht grojse nos hatte. Normalerweise blickt man die Leute ja von vorn an, wenn man mit ihnen spricht, und dann sieht man eine allfällige grojse nos nicht. Jetzt aber, so von der Seite, konnte man es gut sehen.“ (S. 151)[20]

Ließe sich hier noch in der Logik der Geschichte annehmen, Motti unterlaufe diese Betrachtung der jüdischen Nase, weil er sich wünschte, Laura wäre Jüdin und stünde dadurch für ihn als Heiratskandidatin zur Verfügung, so lässt sich dies für das folgende Beispiel nicht annehmen. Über seinen Freund Enzo, der wild mit seinem Händen herumfuchtelt, denkt Motti: „Ohnehin gestikulierte er andauernd in alle Richtungen. Ob er heimlich a jid war?“ (S. 232) Das es sich hierbei um Ironie wenn schon nicht der naiv gezeichneten Figur, so doch aber des Autors handelt, liegt nahe. Ändert dies aber etwas daran, dass die jüdische Figur das antijüdische Stereotyp vom Roman unhinterfragt verwendet und damit nicht nur perpetuiert, sondern als ‚Wissen‘ über ‚Juden‘ auch scheinbar plausibilisiert? Wie gesagt: Eine weitere jüdische Perspektive, die im Gegensatz zu der Mottis ernst zu nehmen wäre und ein Bewusstsein von der Problematik der Klischees hätte, gibt es nicht im Roman.

Der Antisemitismus und der Holocaust sind zentrale Bestandteile jüdischer Erfahrung. Last but not least ist also zu fragen: Kommt die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts inWolkenbruchs wunderliche Reise“ vor – und wenn ja: wie?

Es gibt drei Szenen, die sich im weitesten Sinne als Thematisierungen von Antisemitismus lesen lassen: Der Verkäufer in einem Elektrogeschäft bedient Motti wortlos (vgl. S. 97f.), eine Kellnerin hielt den Namen Wolkenbruch für einen Scherz (vgl. S. 253) und Enzo macht zwei Witze über Deutsche und Juden (vgl. S. 231). Tatsächlich erweist sich keines dieser Beispiele als manifest antisemitisch: Was den Verkäufer umtreibt, erfahren wir nicht – er sagt einfach nichts, ob seine ‚Knorrigkeit‘ aber antisemitisch motiviert sein könnte, bleibt vollkommen offen. Die Kellnerin entschuldigt sich, und das Thema ist aus der Welt; noch dazu, da sie den Namen gar nicht als jüdisch erkannt hat, sondern für einen Witz hielt, kann ihr Missverstehen auch nicht antisemitisch motiviert sein. Enzos Sprüche schließlich sind zwar geschmacklos, verweisen aber jeweils auf sein Bewusstsein vom Holocaust und gehen eher auf Kosten der beziehungsweise des Deutschen (Thorsten). Die einzige Gewalttat gegen Motti (ein Faustschlag) verübt eben dieser Thorsten, der jedoch nicht nur aufgrund seiner Figurenrede („Ich habe nichts gegen Juden. Nur gegen solche, die die Frau ficken, in die ich verliebt bin.“ – S. 260) unverdächtig erscheint: Thorsten hatte Motti bei sich spontan aufgenommen, als dieser von seinen Eltern wegen des Verhältnisses zu der schickse verstoßen worden war.

Auch das für den modernen Schuldabwehr-Antisemitismus konstitutive Thema Israel (im Nahostkonflikt seien ‚die Juden‘ die neuen Nazis[21]) wird von Meyer dergestalt angespielt, dass nahezu jede Nennung des Staates Israel mit einem Hinweis auf das Militär garniert wird: Der Zürcher Rabbiner, der den Israel-Trip verordnet, hat ein Poster mit einem „Kampfjet der israelischen Luftwaffe“ (S. 114) in seinem Büro aufgehängt; der El-Al-Kapitän, der Motti nach Israel bringt, fliegt so, als habe „er bei der Luftwaffe Karriere gemacht“ (S. 120); über dem Mittelmeer schweben israelische Armeehelikopter (vgl. S. 133); und ein von seiner Familie verstoßener junger Israeli, von dem berichtet wird, steht zwar auf „jidn […], aber bitte solche mit schlong [Penis] und bort und am liebsten in einer verschwitzten israelischen Uniform.“ (S. 233) Wenn es um den Starrsinn von Mottis bubbe (Großmutter) geht, wird diese von ihrem Schwiegersohn mit einem „israelische[n] Armeebulldozer“ (75) verglichen, wodurch vom Leser die brutale israelische Siedlungspolitik assoziiert werden muss. Höhepunkt dieser Strategie, heutige Juden nicht mehr als Opfer, sondern als Täter darzustellen, ist die Schilderung von Mottis Bruder Schloime, „in dessen bort tojsnt Matzenkrümel hingen“[22] und der meint, dass man im Atomstreit mit dem Iran nicht nur dessen Atomanlagen, sondern gleich „die Iraner zebombirn müsse, bevor es zu spät sei. Im Übrigen müsse die Sache mit Atomwaffen erledigt werden, […]. Der kleine Nathan wollte wissen, was Atombomben seien. Die beste meglechkajt, Israel zu verteidigen, sagte dieser und schlürfte zornig Suppe.“ (S. 106f.) Das gleiche gelte auch für Syrien. Nur zu deutlich wird hier jener Vorwurf aufgenommen und von einer jüdischen Erzählfigur beglaubigt (Motti teilt Schloimes Meinung nicht[23]), der im Zuge der Debatte um Günter Grass’ umstrittenes Israelgedicht „Was gesagt werden muss“ 2012 aktualisiert wurde: dass Juden und Nichtjuden mit zweierlei Maß – zuungunsten der Nichtjuden – gemessen würden und die israelischen Verteidigungswaffen in Wirklichkeit Angriffs-, ja sogar Völkervernichtungswaffen seien (so Grass’ Fehlinterpretation der U-Boot-Lieferung, die seither eigentlich als aufgeklärt gelten durfte[24]).

Antisemitismus kommt im Roman letztlich nur in einer Form vor, nämlich als eine ungerechtfertigte Projektion von Juden, die den Antisemitismusvorwurf instrumentell zu ihren Gunsten einsetzen. So qualifiziert Mottis mame pauschal alle Audi-Fahrer als Antisemiten ab (vgl. S. 43, 47, 85): Ein Audi sei ein Horch, womit wohl darauf angespielt werden soll, dass die Auto Union, deren vier Ringe unter anderem für die Marke Horch standen, die Wehrmacht belieferte; zudem fuhren die Auto Union-„Silberpfeile“ vor Kriegsbeginn zahlreiche Siege ein, die das Prestige des ‚Dritten Reichs‘ mehrten. Dass der Vorwurf, Audi-Fahrer seien Antisemiten, absurd ist, liegt auf der Hand und wird auch von Motti zurückgewiesen. Zudem wird die mame ins Unrecht gesetzt, wenn sie gerade mit so einem Wagen einen Auffahrunfall verursacht. Während ihr der Audi-Fahrer gefasst und ruhig begegnet, gibt sie „ihrer tiefen Genugtuung Ausdruck, einen Horch zerstört zu haben“. (S. 85) Das traditionsreiche Zürcher Lokal „Volkshaus“ würde sie wohl nie betreten, mutmaßt Motti, weil sie es für „einen Versammlungsort der SS“ (S. 223) hielte. Und wenn Sie den Sohn zum Einkaufen schickt, leidet sie angeblich unter der Angst, er könne einem antisemitischen Angriff zum Opfer fallen, was der Roman als völlig übertriebene Projektion herausstellt (vgl. S. 10). Alle Antisemitismusvorwürfe jüdischer Figuren sind ungedeckt. Und über Hitler weiß Mottis Großvater (und mit ihm der ganze Roman) nicht mehr zu sagen als „Hitler war ein böser man“ (S. 79).

Die Anspielung auf die Judenverfolgung wird von den jüdischen Figuren zu ihren eigenen Gunsten instrumentalisiert – hier wird in Szene gesetzt, was Martin Walser in seiner umstrittenen Friedenspreis-Rede 1998 als „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“[25] raunend beklagt hatte. Das Muster trifft sich mit der für den Antisemitismus nach Auschwitz typischen Klage, die Juden wüssten noch aus ihrer eigenen Vernichtung Vorteile zu ziehen, gemäß dem Motto „there’s no business like Shoah business“. So verkauft Mottis Vater Versicherungen an seine jüdische Kundschaft mit dem Hinweis „Man weiß ja nie!“ Dies ist „sein liebstes Verkaufsargument. Und auch das überzeugendste, hatte er es doch mit Leuten zu tun, deren Vorfahren von einem tog auf den anderen erst nicht mehr mit der Straßenbahn reisen durften und schpejter nur noch im Güterwaggon.“ (S. 13f.)

Und so ist auch die Äußerung der Mutter zu verstehen, die den widerspenstigen Motti, der sich keine arrangierte, sondern eine glückliche Ehe wünscht, damit zu disziplinieren versucht, dass sie die „Moralkeule“ schwingt: „‚Haha! Glücklich!‘ Meine Mutter war ehrlich amüsiert. ‚Weißt du, von wem du abstammst?‘ […] Jetzt klang meine mame nicht mehr so amüsiert. ‚Von Mimi Eisengeist aus Polen‘, antwortete ich brav. ‚Glik, mein Lieber‘, dozierte meine mame, ‚ist etwas für die Märchenbücher. Und zwar für gojische Märchenbücher.‘“ (S. 19) Das schamlose Ausnutzen des schlechten Gewissens der anderen zeigt sich insbesondere bei Mottis Großmutter, die „immer noch eine Meisterin jüdischer Manipulationskünste“ ist: „Musste meine Mutter aufwendigste Ränkespiele drechseln, um ihre Umgebung gefügig zu machen, genügte meiner Großmutter ein kaum merkliches Schulterzucken oder eine minimal wegwischende Geste, um sämtlichen Personen im Umkreis von finfzik Metern eine Jahresdosis schlechtes Gewissen zu verpassen.“ (S. 75)

Letztlich ist es diese Ausblendung der Realgeschichte von Antisemitismus und Holocaust, die es Thomas Meyer ermöglicht, das Lachen über Juden als unverfänglich zu inszenieren. Dass die Juden im Roman die Leidensgeschichte des europäischen Judentums zur Kontrolle ihres Umfeldes einsetzen und jegliches eigene Leid schamlos dramatisieren und aufbauschen (so muss sich die mame allein aufgrund von Mottis Widerspenstigkeiten beim Gang zur Synagoge von den anderen Frauen stützen lassen, vgl. S. 163), gibt dem Ganzen einen antisemitischen Hautgout. Hinzu kommt, dass im ganzen Roman kein einziges der antisemitischen Klischees destruiert wird und der jüdische Autor sich als deren unverdächtiger Zeuge zur Verfügung stellt. Womit wir bei dem Widerspruch gegen diese Lesart angelangt wären, der diesbezüglich zu erwarten ist: ‚Aber der Autor ist doch selbst Jude!‘ Meyer nimmt für sich in Anspruch, das eigene Milieu auf die Schippe zu nehmen. Seinen eigenen Aussagen zufolge stimmt das jedoch nicht, denn er bezeichnet sich als Atheist, der vollkommen anders als die karikierten orthodoxen Juden lebe.[26] Insofern gibt er hier gerade nicht sein eigenes Milieu dem Verlachen preis (das wäre wohl eher das Milieu einer urbanen Medienbranche). Aber darum geht es letztlich nicht, natürlich darf man Komödien nicht nur über das eigene Milieu schreiben. Worum es bei dem Hinweis ‚Aber der Autor ist doch selbst Jude!‘ geht, ist die Frage: Können Texte jüdischer Autoren antisemitisch sein? Man muss nicht erst auf das Extrembeispiel des jüdischen Selbsthasses etwa eines Otto Weininger verweisen, um das Argument als Scheinargument zu widerlegen. Ein harmloser Analogieschluss genügt: Ist es undenkbar, dass eine türkischstämmige Berlinerin ein islamkritisches oder ein Deutscher, der in Zürich lebt, ein tendenziell germanophobes Buch schreibt? Nein, das ist es sicher nicht. Neben einer etwaigen objektiv berechtigten Kritik könnte es diese fiktiven Autoren auch motivieren, dass sie damit auf ihrer persönlichen Assimilationsskala ein paar Stufen nach oben geklettert wären.

Thomas Meyer ist oder war „Weltwoche“-Autor. Die „Weltwoche“ ist in den letzten Jahren zu einem auflagenstarken Magazin mutiert, das sich konsequent am rechtsäußeren Rand des eidgenössischen Mainstreams positioniert[27] und in seiner vehementen ideologischen Einseitigkeit unter den anerkannten Presseorganen in Deutschland derzeit keine Entsprechung hat. Vor diesem Hintergrund lässt sich durchaus vermuten, dass der Autor seinen nichtjüdischen Lesern genau ihre eigenen Projektionen vom Judentum liefert. Sein vermeintlicher Tabubruch, man müsse doch über Juden lachen dürfen, trifft sich mit der Rhetorik des ‚Man muss doch endlich einmal sagen dürfen …‘, die konstitutiv für den Antisemitismus nach Auschwitz ist.[28] Niemand, der in Europa sozialisiert wurde, ist frei von einem uneingestandenen oder reflektierten ‚Wissen‘ über ‚die Juden‘ – zu sehr ist unsere gesamte Kulturgeschichte vom Antisemitismus durchzogen, von den Judenfiguren an den mittelalterlichen Münstern bis hin zu den Opern Wagners und weit darüber hinaus.[29] Bannen lassen sich diese Projektionen, die nur etwas über die Antisemiten, aber nichts über real existierende Juden aussagen, allein durch kritische Reflexion: den Leser erkennen zu lassen, welches antisemitische ‚Wissen‘ auch er selbst verinnerlicht hat, und ihn darauf hinweisen, um so eine Reflexion in Gang zu setzen oder zu halten. Edgar Hilsenraths Romane sind dafür das beste Beispiel: In „Der Nazi & der Friseur“ (1971) verweist unsere Rezeption des Rollentauschs von ‚jüdisch‘ aussehendem SS-Mann und ‚arisch‘ aussehendem Juden nicht nur auf die Unhaltbarkeit rassistischer Körperkonstruktionen, sondern sie entlarvt vor allem auch unsere eigenen Erwartungen als Leser, wie Juden- und Nazifiguren beschaffen zu sein hätten. Indem wir über die Vertauschung lachen, müssen wir erkennen, dass unsere Annahmen rassistische waren. Das ist die Art von groteskem Humor, die ‚im Halse stecken bleibt‘, weil sie den nichtjüdischen Leser seiner eigenen Projektionen überführt. Meyer spielt auf Hilsenrath an, wenn er Motti dessen GenreparodieMoskauer Orgasmus“ (1979) lesen lässt. Der intertextuelle Verweis auf den vergleichsweise wenig bekannten Text erschöpft sich in einer sehr kurzen Paraphrase des schlüpfrigen Inhalts. Was bei Edgar Hilsenrath in „Der Nazi & der Friseur“ kunstvoll ad absurdum geführt wird, wird bei Thomas Meyer bloß zum Spielmaterial einer Komödie, die kein einziges Stereotyp zu widerlegen vermag. Meyers Roman ‚holt‘ zwar wie Hilsenrath einen Leser mit potentiell antisemitischen Weltwissen ‚dort ab, wo er steht‘, im Unterschied zu Hilsenrath lässt er ihn aber bequem dort stehen. Das ist nicht „ergreifend“ im eingangs zitierten Sinne Umberto Ecos, sondern erschreckend banal: literarisch banal und politisch vollkommen unbedarft.

Offensichtlich kennt Thomas Meyer die Tradition antisemitischer Literatur, in die er sich mit seinem klischeebeladenen Roman gestellt hat, nicht. Daher gelingt es ihm nicht, die Bilder, die er evoziert, zu kontrollieren. Stattdessen perpetuiert sein Werk antisemitische Projektionen. Auch wenn wir annehmen dürfen, dass der Autor keinen intentional antisemitischen Text geschrieben hat, so schützt dieser Umstand nicht davor, dass für die Bilder und das damit verbundene Wertegefüge, das der Text etabliert, die Frage nach der empirischen Person des Autors unerheblich ist. Letztlich ließe sich der Roman wirklich nur über die unbefriedigende Hilfskonstruktion retten, dass sein Autor Jude ist. Aber das würde bedeuten, der Grad an Judentum eines Autors sei eine entscheidende Größe bei der Interpretation literarischer Texte. Das aber wäre ein ebenso absurdes wie bedenkliches Argument.

[1] Umberto Eco: Casablanca oder die Wiedergeburt der Götter, in: Ders.: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, Leipzig 1989, S. 295-300, hier: S. 300. Vgl. hierzu auch Anm. 6. Für hilfreiche Diskussionen über den Roman und meine Analyse danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meines Colloquiums zur Gegenwartsliteratur an der Universität Bern sowie den Kollegen Torben Fischer, Oliver Lubrich und Nike Thurn.

[2] Thomas Meyer: Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer schickse. Roman, 5. Aufl. Zürich 2012.

[3] Eine Ausnahme ist die Besprechung in der „F.A.Z“: Beate Tröger: Das Gesetz der Mutter, in: F.A.Z 18.09.2012.

[4] „Die Resonanz dort [im religiösen Milieu] war, ehrlich gesagt, ausserordentlich schlecht. Ich glaube, im frommen Umfeld gilt das Buch als Nestbeschmutzung. […] Man hat mich nicht kritisiert, sondern ignoriert.“ – Isabella Seemann: Von Schicksen und Räucherstäbchen [Interview mit Thomas Meyer], in: Schweizer Monat o. Datum. [Zuletzt abgerufen am 26.04.2013.]

[5] Meyer: „‚Ich darf das, ich bin Jude‘ sagt der jüdische Komiker Oliver Pollack [sic! (Polak)] – dasselbe gilt für meinen Roman. Macht ein Jude sich über Juden lustig, ist es witzig. Spielt ein Nichtjude mit den Klischees, fragt man sich sofort, ob er nicht doch überzeugt ist, dass sie zutreffen.“ – Peter Aeschlimann: „Jüdisch zu sein, ist auch ein Lifestyle“ [Interview mit Thomas Meyer], in: tagesanzeiger.ch 19.03.2012. [Zuletzt abgerufen am 26.04.2013.]

[6] Vgl. hierzu die Aufsätze von Torben Fischer und Oliver Lubrich, die die Frage nach Levys Umgang mit Stereotypen unterschiedlich beantworten: Torben Fischer: Arbeit am Stereotyp. Konstruktionen des ‚Jüdischen‘ in Dani Levys „Alles auf Zucker!“, in: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie 58/2010, S. 43-47; Oliver Lubrich: Sind hundert Klischees ergreifend? Dani LevysAlles auf Zucker!”, in: Text+Kritik, Bd. 180: Juden.Bilder, München 2008, S. 74-88. – Die Verwendung des Eco-Zitats im Zusammenhang mit dem Antisemitismus habe ich bei Lubrich entlehnt.

[7] Vgl. das Interview mit Isabella Seemann, siehe Anm. 4. – Auch, dass Meyer dem Buch ein zehnseitiges Jiddisch-Glossar mitgegeben hat, zeigt die avisierte Zielgruppe an.

[8] Meyer: „Ich bezweifle ehrlich gesagt, dass beim Schweizer Publikum ein latentes Interesse gegenüber den Juden bestanden hat, das nun endlich befriedigt worden ist.“ Zit. n.: Benedict Neff: „Je frommer, desto schlechter kommt mein Buch an“ [Interview mit Thomas Meyer], in: www.persoenlich.com 08.11.2012. [Letzter Abruf am 29.04.2013.]

[9] Vgl. hierzu Torben Fischer: Judenbilder und literarischer Antisemitismus. Bemerkungen zur Forschungsgeschichte, in: Text+Kritik, Bd. 180: Juden.Bilder, München 2008, S. 115-124; sowie Matthias N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck.“ Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser, Stuttgart, Weimar 2005, S. 59-78.

[10] Martin Gubser: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, S. 310.

[11] Vgl. Nike Thurn: Ein reicher Jude – und dessen Konstrukteure, in: Nicole Colin, Franziska Schößler und Nike Thurn (Hrsg.): Prekäre Obsession. Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder, Bielefeld 2012, S. 269-293.

[12] Vgl. hierzu Florian Krobb: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 1993.

[13] Auch die Namen sind sprechend: Ena ist eine Koseform von Jelena, der slawischen Variante von Helena – „die Strahlende“ (helios = Sonne). Judith dagegen ist die Witwe, die den schlafenden Holofernes enthauptet.

[14] Über das Jiddische sagt Meyer: „Es ist fast eine Comic-Sprache.“ Zit. n. dem Interview mit Benedict Neff, siehe Anm. 8.

[15] Matthias Richter: Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750-1933). Studien zu Form und Funktion, Göttingen 1995.

[16] Die Linguistin Lea Schäfer hat in einem Aufriss eines Forschungsprojektes zur Imitation des Jiddischen in der deutschsprachigen Literatur problematisiert, dass Meyer keineswegs einen Beitrag zur jiddischen Literatur, wie sie noch im 19. Jahrhundert zu beobachten war, geleistet hat. Typisch für Autoren wie Meyer sei, „dass sie die jeweilige jiddische Varietät nicht frei emulieren, d.h. Regeln umfassend anwenden, sondern […] lediglich einzelne, sich stets wiederholende, d.h. hochfrequente Lexeme sprachlich singulär manipulieren.“ Meyer gehe es nurmehr um die „orthographische […] Markierung“ als ,jüdisch/jiddisch’ - was zwangsläufig die Frage nach dem Sinn der Übung aufwirft. Die nachfolgenden Ausführungen zur jüdischen Nase unter (4) zeigen dies anschaulich.

[17] „Aus diesem Grund hatte ich kürzlich im Internet nach naket froj gesucht, war damit aber nur auf seltsame Kunst gestoßen. Mit nackte frau erzielte ich schon bessere Resultate.“ (S. 94.) – Auch Mottis Leidensgenossin Michèle, eine typische Jüdin mit dickem tuches etc., die von ihrer Mutter verheiratet werden soll, hat nicht die geringste Ahnung von Sex und ist entsprechend daran so brennend-naiv interessiert wie ein Backfisch (vgl. S. 173f.).

[18] Auch die stets zu kurzen Hosen und zu langen Ärmel aller orthodoxer Juden im Roman (vgl. S. 43) ließen sich als Effekt einer früheren misslungenen Anpassung lesen, als seien hier die osteuropäischen ‚Kaftanjuden‘ (Mottis Urgroßmutter stammte aus Polen) noch nicht in der europäischen Zivilisation angekommen.

[19] Die Grundmuster sind: lächerlicher Jude, gefährlicher Jude, schöne Jüdin und weiser Jude (vgl. Martin Gubser: Literarischer Antisemitismus, S. 110-127, siehe Anm. 10).

[20] Auch die Sätze, die vor und nach diesem Langzitat stehen, sind bruchlos hochdeutsch.

[21] Vgl. einführend Klaus Holz: Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft, Hamburg 2005.

[22] Überhaupt zielen diverse Charakterisierungen auf die Erzeugung von Ekelgefühlen ab, vgl. neben der misogynen Darstellung jüdischer Frauen z. B. auch die lustvolle Auseinandersetzung des Vaters mit seiner Verdauung (vgl. S. 21) oder eben die unsauberen Essensgewohnheiten nicht nur Schlojmes, sondern auch z. B. Mottis (vgl. S. 107). Herr Hagelschlag, der Angestellte des Vaters, ist ein „kugelrunder mentsch mit glänziger Glatze und schmutziger briln“ (S. 21), der ständig krümeliges Gebäck kaut, und so weiter.

[23] Das heißt, Motti fungiert zwar als jüdische Gegenfigur zum jüdischen Kriegstreiber Schlojme, so dass nicht alle Juden als Kriegstreiber erscheinen, aber die Funktion der Figur in diesem heiklen Diskurs ist eine andere: Indem Meyer eine Vulgärvariante der israelischen Außenpolitik entwirft und diese durch Mottis Kritik deutlich als abzulehnend markiert, kommt er jener Wahrnehmung Israels in der nichtjüdischen Welt entgegen, die in Israel – nicht zuletzt aus Schuldabwehrantisemitismus – genau einen derartigen Aggressor sehen will.

[24] Vgl. die engagierte Replik von Jan Süselbeck: Was geantwortet werden muss. Wie Günter Grass sein Gedicht „Was gesagt werden muss“ bereits 1990 in seiner Frankfurter Poetikvorlesung ankündigte – mit einem Exkurs zu seiner Novelle „Im Krebsgang“ (2002), in: literaturkritik.de 5/2012. [Letzter Abruf am 26.04.2013.]

[25] Martin Walser: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, Frankfurt am Main 1998, S. 18. Zum antisemitischen Gehalt der Rede vgl. Klaus Holz: Ist Walsers Rede antisemitisch?, in: Kultursoziologie 2/1999, S. 189-193, sowie Matthias N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck.“, S. 446-475, siehe Anm. 9.

[26] Vgl. die Interviews mit Isabella Seemann und Peter Aeschlimann, siehe Anm. 4 und 5.

[27] Zuletzt diskutiert anhand der Hetze gegen Roma in der Schweiz, vgl. http://www.humanrights.ch/de/Schweiz/Inneres/Rassismus/Vorfaelle/idart_9364-content.html [Letzter Abruf 26.04.2013.] Vgl. zur Einordnung der Weltwoche als rechtspopulistisch auch Linards Udris: Politischer Extremismus und Radikalismus. Problematisierung und diskursive Gelegenheitsstrukturen in der öffentlichen Kommunikation der Deutschschweiz, Wiesbaden: VS 2011, S. 88, 205, 280.

[28] Vgl. etwa Michael Naumann (Hrsg.): „Es muss doch in diesem Lande wieder möglich sein …“ – Der neue Antisemitismus-Streit, München 2002. Selbstverständlich soll hier nicht insuniert werden, jeder, der Meyers Roman gerne gelesen hat, sei deshalb bereits ein Antisemit (oder auch nur „Weltwoche“-Leser). Es gibt aber auch eine Perpetuierung von Vorurteilen, die sich unschuldig glaubt – nicht zuletzt vielleicht auch aus einer literarhistorischen Unkenntnis heraus. Selbstredend ist die literaturwissenschaftliche Antisemitismusforschung ein Spezialgebiet, dessen Erkenntnisse nicht unbedingt zum Allgemeingutzu zählen sind. Aber genau dadurch ist auch die Beschäftigung dieser Forschung mit einem derartigen Roman gerechtfertigt: nämlich das notwendige Kontextwissen bereitszustellen, um bestimmte Klischees als nicht mehr unschuldig zu erklären. Zu bedenken bleibt in Bezug auf die maßgeblich Schweizer Rezeption des Romans, dass erstens die Sensibilisierung für das Thema naturgemäß in der Bundesrepublik nach Jahrzehnten der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ eine andere sein muss. Und zweitens gilt, dass in Zürich die orthodoxen Juden in einer Weise sichtbar sind, die es in der Bundesrepublik so wohl immer noch nicht (wieder) gibt, d.h. ein alltäglicherer Umgang mit realen orthodoxen Juden erlebbar ist, der wie jeder andere Sozialkontakt auch komische Potentiale birgt, während Juden in der Bundesrepublik allzu oft nur als Konzept wahrgenommen werden, an dem sich philo- oder antisemitische Standpunkte abarbeiten.

[29] Gerade zeichnet sich in Frankfurt am Main eine Debatte über einen Roman von Büchnerpreisträger Martin Mosebach ab (Das Bett, 1983), den der Aachener Germanist Stephan Braese im Rahmen der Ausstellung „Juden. Geld“ überzeugend als antisemitisch problematisiert hat. (Stephan Braese: „… als ob man ein Bündel raschelndes Papiergeld küsst“ – Reiche Juden in der westdeutschen Nachkriegsliteratur, in: Fritz Backhaus, Liliane Weissberg, Raphael Gross (Hrsg.): Juden. Geld. Eine Vorstellung [Ausstellungskatalog], Frankfurt am Main 2013, S. 392-406.) Vgl. hierzu Reiner Hank: Reiche Juden, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 25.04.2013; Martin Mosebach: [Leserbrief], in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 28.04.2013. Dieter Bartetzko: Auch Vorurteile können töten, in: FAZ 29.04.2013; Grete Götze: Böser Shylock, guter Nathan?, in: zeit online 30.04.2013. [Letzter Abruf am 06.05.2013.]