Nicht genügend Bordmittel

Harald Martenstein sammelt „Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land“

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich mag den kleinen Prinzen nicht. Mit 14 habe ich Saint-Exupérys Text gelesen, weil ich wissen wollte, warum jeder daraus zu zitieren schien. Zweimal. Ich fand nichts darin, was das Aufheben gerechtfertigt hätte. Seitdem habe ich die leise Furcht verborgen, dass mir etwas Wesentliches zum Verständnis fehlt und bin jedem Gespräch über das Buch ausgewichen. Was von Jahr zu Jahr einfacher wurde, weil es in meinem Umfeld an Popularität zu verlieren schien. Das hat mich schon irgendwie erleichtert.

Vor einigen Tagen dann hielt ich „Romantische Nächte im Zoo“ in den Händen – und entdeckte im Inhaltsverzeichnis: Harald Martenstein hat auch „Der kleine Prinz“ einen kurzen Text gewidmet. Konfrontationstherapie also, diese Geschichte war mein Einstieg in die Sammlung von 34 preisgekrönten Reportagen und Betrachtungen aus zwölf Jahren – vorbei am „Glück“ und am „positive[m] Denken“, den „Totmacher“ und den „deutschen Humor“ links liegen lassend.

Harald Martenstein beteuert mehrfach, er wolle die „schöne Geschichte“ des französischen Schriftstellers „gar nicht pauschal heruntermachen, obwohl mir das niemand glauben wird“. Und dabei bleibt es natürlich auch nicht – allerdings nimmt er den Text routiniert auseinander, bis deutlich wird: Die so häufig zitierten Sätze sind banal, ihr „Erkenntnisgewinn tendiert gegen null“, sie suggerieren lediglich Tiefe: Saint-Exupéry spiele „meisterhaft“ auf dem menschlichen „Seelenklavier“, lulle die Leser mit seinem „philosophischen Sound“ ein, bis diese nicht mehr bemerkten, dass all die emotional aufgeladenen Worte lediglich „romantisches Gedöns“ verbrämten.

Und die Satzenden erst! Martenstein bemerkt boshaft, dass sich auf den letzten Seiten des „Kleinen Prinzen“ der Gebrauch des Stilmittels der in drei Punkten auslaufenden Sätze häuft, was er mit einigen Beispielen untermauert. Diese, so hält der Autor fest, stellten oft „den Versuch dar, einen Satz mit einer schwebenden Bedeutung aufzuladen, Bedeutung, die der Autor mit Bordmitteln nicht hat beschaffen können“.

Der Kolumnist untersucht einzelne Sentenzen auf ihren Gehalt hin, nimmt die Gegenstände so nah und so lange unter die Lupe, bis diese die Konturen verlieren, in ihrer Verzerrtheit fremd wirken und dadurch ihre zunächst verborgene Beschaffenheit offenbaren. Er ordnet das Betrachtete in andere Kontexte ein und ruft den Leser dadurch auf, seine Urteile neu zu überdenken. Wenn man etwa den vielfach zitierten Satz aus „Der kleine Prinz“, „Die Sprache ist die Quelle der Missverständnisse“, einmal genau besieht, erkennt man, dass er zwar richtig, aber ähnlich reduktiv ist wie „Der Hund ist die Quelle des Hundekots“. Der Vierbeiner kann als Spielgefährte, Begleiter, Lebensretter firmieren, die Rede dient dem Gespräch und stellt – geschickt gebraucht – „ein wunderbares Werkzeug“ dar. Zähle dagegen nur das Gefühl, so der Autor, wie der Subtext Saint-Exupérys zu implizieren scheine, werde die Affektkontrolle des Verstands ausgeschaltet, bedeute das möglicherweise, dass auch „negative Gefühlswallungen, Hass, Wut, Ärger“ nach oben geschwemmt würden.

An diesem Beispiel lässt sich jedoch auch zeigen, wie kalkuliert Martenstein rhetorische Kurzschlüsse produziert: Der Sprung von der Möglichkeit von sprachlichen Irrtümern auf der einen Seite zur grundsätzlich von Emotionen bestimmten Welt ist denn doch zu groß, hier täuscht der Autor mit Wortspielereien über die vorhandene Kluft hinweg, indem er die unterstellte Eindeutigkeit von Gefühlen mit der Kontrolle des Verstandes durch die Affekte gleichsetzt. Schließlich führt er die erst aus diesem erst durch diesen Austausch resultierende Aussage ad absurdum: „Das Kind, welches ein anderes Kind auf dem Schulhof verprügelt, hört einfach nur auf die Stimme seines Gefühls.“ Das ist typisch Martenstein.

Manchmal sind solche Simplifizierungen amüsant, an anderen Stellen werden sie ärgerlich. Martenstein schreibt nicht nur über den „Kleinen Prinzen“, sondern auch über anderes, das ihm bei der Betrachtung seines „komischen Landes“ aufgefallen ist: Über die thüringische Gemeinde Gerstengrund, in der 95 Prozent der 47 Wähler für die CDU abstimmen – neben dem mangelnden Mobilfunkempfang und den fehlenden Satellitenschüsseln offenbar ein weiteres Zeichen für die hinterdörflerische Rückständigkeit des Ortes. Über den Suhrkamp Verlag unter Ulla Berkwicz, dessen Prospekte der Autor nicht in die Hände bekommt und dessen Umgang mit der Presse ihn an Scientology erinnert. Über den Kirchentag in Potsdam und Pfarrer Büser, der Gottesdienste auf einem Ausflugsboot anbietet, an denen 250 Personen teilnehmen, mutmaßlich, weil sie danach eine Rundfahrt zum halben Preis unternehmen dürfen.

Ein kurzer Text über „Ausländerfeinde“ endet mit dem Hinweis auf den flugunfähigen Vogel Dronte, der 1690 auf Mauritius ausstarb: „Ein Tier ohne die geringste Spur von Fremdenfeindlichkeit […]. Sie hatte vor niemandem Angst und war zu jedem freundlich. […] Sie ist von den Menschen ausgerottet worden. Im Pariser Museum für Naturgeschichte steht noch so eine Dronte, ausgestopft. Sie sieht uns an. Ratlos.“

Fast meint man, es stünden drei Punkte hinter dem letzten Wort.

Titelbild

Harald Martenstein: Romantische Nächte im Zoo. Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land.
Aufbau Verlag, Berlin 2013.
288 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783351035181

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