Alles von der Kunst erwarten

Die „Literatur um 1800“ als Experimentierfeld der Moderne

Von Daniel Tobias SegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Tobias Seger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zeit zwischen 1750 und 1850 ist eine Zeit der Bewegung. Reinhart Koselleck hat diese Zeit als „Sattelzeit“ bezeichnet. Sie ist geprägt von zunehmender Industrialisierung, wissenschaftlichem Fortschritt und einem durchgreifenden sozialen Wandel. An die Stelle abgeschotteter und sich abschottender Stände tritt nach und nach der Bürger und mit ihm die Bürgergesellschaft. Geschichte ist keine Größe mehr, die von einzelnen Repräsentanten, deren Umfeld und Cliquen moduliert wird, sondern Geschichte wird begriffen als Entwicklung und Ausdruck des menschlichen Geistes, der eingebunden ist in Sitte und Kultur, in Handel und soziale Institutionen.

Die Initialzündung zu dieser Entwicklung sind die Ereignisse der Französischen Revolution, dem Weckruf der Freiheit, der an die gesellschaftlichen Gruppen, aber auch an jeden Einzelnen ergeht. Dieser Weckruf bleibt wirksam bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Die auf die Revolution folgenden Koalitionskriege treiben die Frage nach der Freiheit im Zeichen einer Bedrohung dieser Freiheit in unterschiedliche Richtungen voran. Dabei geht es konkret um eine Zurückweisung repressiver Zustände und Verhältnisse. Doch die Überlegungen und Diskussionen der damaligen Zeit gehen tiefer, gehen an die Wurzel eines zentralen Problems: Das neu erschlossene Gefühl der Freiheit macht dem Menschen der Revolution seine ursprüngliche und unabweisbare Bedingtheit umso schmerzlicher bewusst: Die neu erschlossene, empathisch begrüßte Zugehörigkeit zu einem Reich der Freiheit findet ihr Gegenstück in der Tatsache einer Unterworfenheit unter die herrschenden Naturgesetze. Das Projekt ‚Subjekt werden‘ sieht sich der Begleitmusik des ‚Subjekt sein‘ gegenüber: unterworfen (lat. sub-iacere) sein (und bleiben), trotz Freiheitsgefühl dem Tod verfallen sein.

Es ist die Kritische Philosophie Immanuel Kants, die sich diesem Abgrund, der zwischen Natur und Freiheit, Sein und Sollen, Sinnlichem und Übersinnlichem besteht, reflektierend annimmt. In der letzten seiner drei Kritiken, der „Kritik der Urteilskraft“ (1790), versucht er, eine Brücke über diesen Abgrund zu schlagen. Kants Vorstellung vom Schönen und von der Kunst als einem Spiel, das die Überbrückung des Abgrunds zwar nicht realisiert, aber in sich austrägt, erweist sich als ein Gedanke, der aufgegriffen und variiert wird, an den man sich hängt und von dem man sich abstößt. Die Kunst geht nicht mehr mit dem Brot, sondern die Kunst in ihrem Zusammenwirken von Objekt und Wahrnehmung verweist auf etwas Höheres, auf ein Verhältnis jenseits schnöder Zweckmäßigkeit, eben auf das Reich der Freiheit, auf Gott und Unsterblichkeit.

Der Kunst kommt damit eine zentrale Rolle zu, weshalb die Zeit zwischen 1750 und 1850 auch als ‚Kunstperiode‘ bezeichnet wird, weil alles, insbesondere der Brückenschlag zwischen Natur und Freiheit von der Kunst erwartet oder zumindest mit der Kunst in Verbindung gebracht wird.

In seinem Studienbuch zur „Literatur um 1800“ geht Harald Tausch auf zentrale Aspekte dieser ‚Kunstperiode‘ ein, grenzt sie von den Denk- und Schreibweisen der Aufklärung ab, bringt sie miteinander ins Spiel und bezieht sie auf Entwicklungen, die das künstlerische Schaffen des späten 19. und dann des 20. Jahrhunderts maßgeblich bestimmen.

Friedrich Schlegels Rede von der „progressiven Universalpoesie“ fasst die zentrale Perspektive des Kunstdenkens und Kunstschaffens der Zeit zusammen. Es gelte, so Schlegel, Getrenntes „zu vereinigen“, Poesie, Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen, „Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald zu mischen, bald zu verschmelzen, die Gesellschaft poetisch zu machen, den Witz zu poetisieren, insgesamt die Formen der Kunst mit Bildungsstoff jeder Art anzufüllen und durch die „Schwingungen des Humors [zu] beseelen“. An die Stelle klarer Trennung und Abgrenzung tritt Mischung, Verschmelzung, Poetisierung, Schwingung, ein Ausdruck Friedrich Schillers hinzugenommen: „Unwillkührlichkeit“. Immer ausgerichtet auf jenes Spiel, von dem Kant spricht. Man will nicht durch eine klare Scheibe sehen, sondern in einen Kristall, der in seinen vielfältigen Brechungen auf eine ganz andere Klarheit verweist, auf die ‚Klarheit‘ eines jede Fixierung übersteigenden Gedankens von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit.

In 14 klar strukturierten Kapiteln, die stets mit einer instruktiven, den Problemkreis fokussierenden Bildbetrachtung beginnen, legt Tausch dar, wie der Blick in den Kristall in der Praxis der Literatur ins Werk gesetzt wird. Dies geschieht etwa dadurch (Kapitel 5), dass in einem Werk verschiedene literarische Gattungen (etwa Ballade, Novelle, Märchen) wie in einem ‚Spiel der Kräfte‘ zusammentreten – für Schlegel emphatisch als Vorzeichen einer Regeneration des Paradieses begrüßt. Nicht eine Stimme spricht, sondern viele – und der Leser ist nicht mehr passiver Rezipient, sondern aktiver ‚Mitschreiber‘ an einer, an seiner Erzählung, die mit den Erzählungen der anderen Leser auf die Erzählung weist. Im Sinne dieser Vielstimmigkeit verändert sich auch das Nachdenken und die Rede über die Kunst selbst (Kapitel 4). Sie wird zum Gegenstand eines ‚unendlichen Gesprächs‘, ausgetragen etwa in Kunstzeitschriften, in stilisierten Gesprächen oder in Briefen über die Kunst sowie im Gegen- und Miteinander der Kunstkritik. Dabei muss der Ausdruck ‚Rede über die Kunst‘ wörtlich verstanden werden: Für Schlegel, Tieck und Hoffmann, Jean Paul und Kleist ist die Kunst stets ein Verbund der Künste. Wer über das Schreiben spricht und schreibt, muss auch die Bildende Kunst und die Musik einbeziehen. So betrachtet ist die Zeit um 1800 auch die Geburtsstunde einer bis heute aktuellen intermedialen Kunstpraxis.

„Komm! ins Offene, Freund!“, dieses Wort Hölderlins benennt die Überschreitung, der sich die Künstler zwischen 1750 und 1850 verschrieben haben. Zu erkennen ist sie, wie Tausch zeigt, in der Lust, das Eigene über das Fremde neu zu gewinnen und auf das Ganz-Andere zu beziehen. Antike und mittelalterliche Konzepte werden wieder aufgenommen, für das neue Denken fruchtbar gemacht und diesem anverwandelt (Kapitel 3). Wissen ist nicht mehr bloß in Ordnungen fixiert, sondern es soll Unsichtbares sichtbar machen, Ausgangspunkt einer Überschreitung sein (Kapitel 7). Jean Pauls Schulmeisterlein Wuz macht es vor: Die Ordnung des jährlichen Messekatalogs wird für Wuz zum Ausgangspunkt einer überbordenden Fantasie, indem ihm die Buchtitel Anregung geben, die angezeigten Bücher nicht etwa zu kaufen, sondern selbst zu schreiben. Das hier zum Ausdruck kommende ironische Weltverhältnis ist ein weiteres, zentrales Moment der Zeit (Kapitel 10). Auch hier geht es um Öffnung und Ergänzung, letztlich um Überschreitung bekannter Diskurse auf das Ganz-Andere hin. So ist etwa E. T. A. Hoffmanns „Kater Murr“ eine ironische Parodie von Goethes „Wilhelm Meister“, aber eben nicht im Sinne einer bloßen Gegenposition, sondern letztlich als (notwendige) Ergänzung jener esoterischen Absichten, die auch Goethe umgetrieben haben, als er den „Lehrjahren“ ihre offene, dem Wesen der Bildung nachmäandernde Form gegeben hat.

Spätestens seit Hartmut und Gernot Böhmes Untersuchung zum „Anderen der Vernunft“ (1985) lässt sich über die „Sattelzeit“, das Zeitalter der produktiven Vernunft nicht sprechen, ohne deren Nachtseite zu berücksichtigen. Goyas berühmtes Capricho „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ (1799) macht diesen Zusammenhang wohl am eindrücklichsten deutlich. Das Andere der Vernunft stellt um 1800 einen zentralen Bezugspunkt des Nachdenkens über künstlerische Produktivität dar und befördert diese. Darauf geht Harald Tausch in gleich zwei Kapiteln ein (Kapitel 11 und 12). Die Anthropologie, als eine Wissenschaft vom Menschen, vertieft sich zunehmend in seine dunklen Seelengründe hinein und beginnt diese auszuloten. Nicht zuletzt das autobiografische Schreiben erweist sich als Ausgangspunkt einer Reise in ein bisher noch unbekanntes Land, in dem Erfahrungen und Experimente ganz anderer Art möglich sind. Dabei ist der extreme Seelenzustand des Wahnsinns nicht nur für Autoren wie Ludwig Tieck und Hoffmann von zentraler Bedeutung, auch für Goethe, so legt Tausch überzeugend dar, bedeutet vom Wahnsinn zu sprechen vor allem, vom Subjekt – insbesondere vom Künstler-Subjekt – unter den Bedingungen der neuen, auf Vernunft bezogenen Zeit zu sprechen. Diese Zeit bedarf der Kunst, um das ganze Feld des Menschlichen auszuschreiten, ohne seinen Abgrund zu verleugnen. So betrachtet kann die Zeit um 1800 zu Recht als klassisch-romantische Moderne bezeichnet werden.

Titelbild

Harald Tausch: Literatur um 1800. Klassisch-romantische Moderne.
Akademie Verlag, Berlin 2011.
259 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783050045412

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