Der Abgründigste der Abgründigen

Mal grauenvoll schlecht, mal unsagbar brillant – ausgewählte Werke des Schriftstellers Hanns Heinz Ewers

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das erste Mal begegnete der Rezensent Hanns Heinz Ewers (1871-1943) in Felix Schloemps „Gespensterbuch“ von 1913, zu dem Gustav Meyrink das Vorwort schrieb und in welchem sich Ewers’ berühmte Erzählung „Die Spinne“ fand. Damals ließ ihn das kleine Werk etwas ratlos zurück – zu uneindeutig schwankte alles zwischen Spannung und Vorhersehbarkeit, gutem Stil und fadem Geschreibe, packender Geschichte und schwacher Effekthascherei. Auf jeden Fall schien es ihm nicht besonders furchteinflößend.

Daran hat auch die neuerliche Begegnung mit der „Spinne“ im „Hanns Heinz Ewers Lesebuch“, zusammengestellt von Wilfried Kugel, nichts geändert. „Ganz nett“, müsste der Rezensent auf Nachfrage entgegnen, „aber nichts Besonderes“. Die Geschichte des jungen Studenten, der im Fenster gegenüber seinem Hotelzimmer eine schwarzgekleidete Schönheit sieht, die ihn in ihren Bann schlägt, bis er am Ende Selbstmord begeht, hat ein riesiges Publikum gefunden – warum, bleibt ein Rätsel, denn der Funke vermag beim besten Willen nicht überzuspringen.

Ähnlich sieht es bei den Gedichten „Von der goldenen Käthie“ aus, mit dem Unterschied, dass es sich hier nicht nur um etwas blasse, sondern obendrein auch noch erschreckend schlecht geschriebene Texte handelt. Ewers ist offensichtlich kein unentdeckter Meisterlyriker. Das zeigt auch „Im Karpfenteich“, ein lyrischer Scherz, der durch die später hinzuerfundene Rahmenerzählung bittere biografische Ausweitung erfährt. Ewers hatte mit den Versen kabarettistische Erfolge gefeiert, die ihn irgendwann aber verdrossen und ihm lästig wurden. Mehr als dieser lebensgeschichtliche Wert lässt sich aber nicht attestieren, sodass auch hier von keinem großen Gewinn für den Leser die Rede sein kann.

Bis hierhin erscheint Ewers, der nicht nur skandalumwitterter Bestsellerautor, sondern auch noch Regisseur („Der Student von Prag“, 1913) und Globetrotter war, der die politische Linke unterstützte, ehe er Nationalsozialist wurde und sich in den letzten Lebensjahren auch davon wieder distanzierte – bis hierhin, wie gesagt, erscheint Ewers als Autor, den man getrost übersehen könnte – auf Zitate wird verzichtet. Kugels Sammlung enthält aber auch einige Texte, die den Leser nach mehr, nach viel mehr verlangen lassen: „Delphi“, „Rausch und Kunst“ sowie die Auszüge aus den Romanen „Alraune“ und „Vampir“.

„Delphi“, obgleich eine kurze Erzählung, könnte man zusammen mit „Rausch und Kunst“ getrost als programmatische Schrift lesen. Ewers schildert, wie Delphi zum Nabel der Welt wurde: Durch die Dichtung eines Hirten, die von geschäftstüchtigen Priestern zur Wahrheit erklärt wurde. Diese Verwandlung der Dichtung in Wahrheit ist es, worum es dem Schriftsteller Ewers in seinem Schaffen geht. Und dass dieses Schaffen rauschhaft sein muss, ist eine fast zwangsläufige Konsequenz, verhilft der Rausch doch zu neuen Sichtweisen auf die Wirklichkeit. Entsprechend plädiert Ewers in „Rausch und Kunst“ emphatisch für den planvollen Drogenkonsum, ja, gibt sogar Hinweise, welches Rauschmittel welche Wirkung mit sich bringt: Haschisch verbessert das Gedächtnis, Meskalin steigert die Farbintensität, Muscarin verzerrt das Gesehene, et cetera. Der Leser fühlt sich an den ungleich berühmteren Essay von Aldous Huxley, „The Doors of Perception“ erinnert. Dass hier die Erfahrungen des Autors einfließen, muss nicht erst das (nur erste, grobe Zugänge liefernde, aber dennoch sehr engagierte) Nachwort des Herausgebers erwähnen. Die Radikalität der Ewer’schen Theorie des Künstlertums veranschaulicht schon das Zitat aus dem Rausch-Aufsatz, das als Klappentext gewählt wurde: „Nun ist gewiß, daß ein jedes Individuum das höchste, was seine Intelligenz überhaupt zu leisten imstande ist, in der Ekstase leistet. Durch welche Mittel eine solche Ekstase hervorgerufen wird, ist für den Wert des in der Ekstase geleisteten völlig gleichgültig, mögen sie noch so verwerflich sein.“ Rausch, Ekstase, Enthemmung – egal um welchen Preis, egal, mit welchem Mittel. Das ist das Rezept, mit dem man Texte schreibt, wie jene, die das Lesebuch auszugsweise vorstellt.

Diese Auszüge aus den beiden Romanen – allem Anschein nach eher harmlose Passagen, und dadurch auch nicht unbedingt repräsentativ für das Ganze – zeigen den Schriftsteller als Sprachkünstler, der eindrucksvolle, kryptische Bilder schafft, die irgendwo zwischen Hans Henny Jahnn, Gustav Meyrink und den Expressionisten liegen; Sätze wie dieser sind es, die einen unwiderstehlichen Zauber auf den Leser auswirken: „Und vielleicht, du mein blondes Schwesterchen, tropfen auch deiner stillen Tage Silberglocken nun weiche Klänge schlafender Sünden.“

Über die Romane als Ganzes kann, wie gesagt, auf Basis der Ausschnitte nichts gesagt werden; die Texte aber, die das Lesebuch bietet, sind vielversprechend, faszinierend und beeindruckend. Die katastrophalen Fehlgriffe, die man vorgesetzt bekommt, werden durch diese Schöpfungen mehr als nur wettgemacht. Es ist eine spezielle, fantastische Literatur, die nicht jedem gefallen wird, die manche sogar abschrecken mag – aber es ist großartige Literatur, die dazu antreibt, mehr vom Autor lesen zu wollen. Das „Lesebuch“, das sicher auch anders hätte konzipiert werden können, entpuppt sich so als Selektionsmittel: Wer den Schund übersteht, wird reich belohnt.

Die neuerliche Begegnung mit Hanns Heinz Ewers hat den Rezensenten also versöhnt. Zwar bleibt die „Spinne“ ein fades Geschichtchen, zwar sind einige lyrische und erzählerische Versuche unerträglich schlecht; zwar fallen hässliche Schlaglichter aus der Biografie auf manche Texte – aber in den guten Momenten, die es zweifellos gibt, entpuppt sich Ewers als abgründigster (und damit vielleicht bester) Dichter des Abgründigen.

So schwer es Ewers dem Leser mit all seinen exzessiven, fragwürdigen, radikalen und untragbaren Facetten auch macht – so glänzend ist seine Prosa auf ihrem Höhepunkt, eine Prosa wie das „erste schnelle Lachen der Sünde über des bangen Tages Todesfurcht“.

Titelbild

Hanns Heinz Ewers: Hanns Heinz Ewers Lesebuch.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Wilfried Kugel.
Edition Virgines, Düsseldorf 2013.
147 Seiten, 8,80 EUR.
ISBN-13: 9783944011066

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