Juden als innergesellschaftliche Fremde

Emotionalisierungsstrategien im literarischen Antisemitismus am Beispiel von Wilhelm Hauffs „Jud Süß“

Von Andrea GeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Geier

Shylock Wie böse darf denn ein Jude heute sein?
Daja Aber das ist doch gar nicht die Frage.
Shylock So böse wie Shylock – oder so böse wie Nathan?
Daja Aber Nathan ist doch nicht böse!
Shylock Eben! Er ist unsere beschissene Antwort auf Mutter Theresa. […] Hat denn nicht jedes Volk das Recht auf seine Mörder, seine Zuhälter, Gangster, ohne daß man es auf Rechnung seines Glaubens setzt? Also auch wir Juden? Oder darf einer nicht böse sein, bloß weil er Jude ist?
Daja Natürlich. Aber trotzdem verstehe ich nicht, warum Sie hier schlafende Hunde wecken wollen?
Shylock Ich bin Jude.
Patriarch Das macht doch nichts! Sehen Sie, das kann man aus der Ringparabel lernen.“

Dieser Dialogauszug stammt aus dem Drama „Lessings Traum von Nathan dem Weisen“ von Elmar Goerden aus dem Jahr 2002. Bereits die Zusammenstellung der Figuren markiert überdeutlich, dass es Goerden darum geht, Darstellungstraditionen jüdischer Figuren aus heutiger Sicht zu reflektieren: Neben Shylock aus William Shakespeares Drama „Der Kaufmann von Venedig“ tritt auch der in diesem Zitat erwähnte Nathan aus Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ auf. Anhand der unterschiedlichen Rezeptionstraditionen dieser beiden berühmten Figuren verhandelt Goerdens Stück Konstruktionen zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘. Die Figur des Shylock wurde zum Inbegriff des ‚bösen‘ Juden: Als sein Schuldner nicht zahlen kann, fordert er das von diesem verpfändete Pfund Fleisch seines Körpers gnadenlos ein. Obwohl Shakespeare dieses Verhalten durchaus motiviert, indem er den Antijudaismus, dem die jüdische Figur ausgesetzt ist, deutlich thematisiert, steht die Figur Shylock bis ins 20. Jahrhundert für eines der wirkmächtigsten negativen Judenbilder: eines rachsüchtigen, unnachgiebig und grausam handelnden Juden. Eben diese negativ konnotierte Figur Shylock wendet sich bei Goerden gegen gruppenspezifische Stereotypisierungen und wird auf diese Weise zum Agenten einer Vorurteilskritik, die in Lessings aufklärerischem Drama und einer daran anschließenden Rezeptionstradition Nathan als dem Inbegriff des ‚guten Juden‘ zukam. Goerdens Shylock polemisiert immer wieder gegen idealisierte jüdische Figuren wie Nathan. Darauf antwortet Nathan in „Lessings Traum von Nathan dem Weisen“ an einer Stelle mit einem Ausruf, der nur auf den ersten Blick aus einem ganz anderen Kontext zu stammen scheint: „Ich bin auch Deutschland!“ Dieser Ausruf macht darauf aufmerksam, dass die Charakterisierung von Judenfiguren und der mit ihnen verbundenen Zuschreibungen auf Grundsätzlicheres zielt: die ‚Charakter‘-Fragen, die einem Kollektiv zugeschrieben werden, sind in der langen Rezeptionstradition dieser Figuren Teil von Nationendiskursen und damit Verhandlungen über gesellschaftliche Teilhabe und sozial-kulturelle Integration beziehungsweise Exklusion.

Für die Herausbildung eines Verständnisses ‚deutscher Nation‘ im 19. Jahrhundert waren literarische Repräsentationen deutsch-jüdischer Beziehungen von besonderer Bedeutung. Die politische Idee wird in Form eines moralischen Anspruchs kommuniziert: Das deutsche Volk soll als Gemeinschaft entstehen, indem sich die vorhandenen sozialen Gruppen an den Entwürfen vorbildhafter, als ‚bürgerlich‘ konstituierter Tugenden orientieren. Judenfiguren werden für diese Verhandlung des ‚Eigenen‘ funktionalisiert, indem sie als Gegenbilder des ‚Eigenen‘ entworfen werden. Aus dieser Konstruktion einer Dichotomie folgt allerdings nicht, dass sich in literarischen Texte ausschließlich stereotypisierende Verfahren finden, welche die Unterscheidung von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ über die dichotomische Bilder des ‚Guten‘ vs. ‚Bösen‘ plausibilisieren. Entscheidend für die Sinnkonstitution eines Textes ist nicht primär ein positiver oder negativer Eigenschafts- beziehungsweise Stereotypenkatalog, sondern die Funktion, die Figuren in einem literarischen Text zukommt. Wilhelm Hauffs Erzählung „Jud Süß“ (1827) und Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“ (1855) sind hierfür zwei prominente Beispiele. Wie in Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ ist der Zusammenhang von Ökonomie und Moral der zentrale Dreh- und Angelpunkt der entworfenen Konstellationen: Während Hauffs „Jud Süß“ das Hofjudentum des 18. Jahrhunderts in den Blick nimmt, situiert der Roman von Freytag die deutsch-jüdischen Beziehungen im Kontext des zeitgenössischen Umbruchs der beginnenden Industrialisierung. Im Zusammenspiel von Selbst- und Fremdbildern entwerfen die Texte einen Werte- und Tugendkatalog, der die jüdischen Figuren als zu innergesellschaftlichen Fremden Erklärten dazu benutzt, das ‚Eigene‘ zu definieren.

Dass sich in beiden Texten einzelne ‚positiv‘ konnotierte Judenfiguren finden, deren Schicksal Mitleid erregt, wird in Teilen der Forschung immer wieder als Beleg dafür angeführt, dass die Texte keine antisemitischen Erzähllogiken aufwiesen. Tatsächlich aber sollen die RezipientInnen dieser Texte gerade auch mittels dieser Figuren zu einem klaren Schluss geführt werden: Sie sollen ‚erkennen‘, dass ‚deutsch‘ und ‚jüdisch‘ zwei grundsätzlich differente Kulturen darstellen, die zu beider Vorteil getrennt voneinander leben sollten. Die avisierten LeserInnen sollen sich als Teil einer als christlich definierten ‚deutschen‘ Eigengruppe erkennen und jegliche Mitglieder der jüdischen Minderheit komplementär dazu als Fremdgruppe ansehen. Eine Mischung aus rationaler und emotionaler Lenkung ist der zentrale Mechanismus dieses Schlussverfahrens. Gerade die emotionalisierenden Komponenten helfen dabei, die tatsächliche Brutalität dieser präsentierten „Lösung“ abzumildern, da sie als tragisch durchlittene beziehungsweise erkämpfte Lösung empfunden werden kann. Dieses Verfahren soll im Folgenden am Beispiel von Hauffs Erzählung nachgezeichnet werden.

Der Kaufmann Joseph Süßkind Oppenheimer, dem schon seine Zeitgenossen den Spottnamen ‚Jud Süß‘ verpasst hatten, war Prinz Karl Alexanders Berater und machte Karriere, als dieser den württembergischen Thron bestieg. Wilhelm Hauffs Erzählung stellt den Geheimen Finanzrat als einen reichen, mächtigen Juden mit ‚bekanntem Lebenswandel‘ vor, der zunächst unantastbar erscheint, denn er besitzt ein herzogliches Edikt, das ihn, wie es gleich im zweiten Absatz des Textes heißt, „auf ewig von aller Verantwortung wegen Vergangenheit und Zukunft freisprach“. Nach dem überraschenden Tod des Herzogs im März 1737 war es nichts mehr wert. Süß wurde verhaftet, zum Tode verurteilt und am 4. Februar 1738 in Stuttgart hingerichtet. Als sich Hauff 90 Jahre später dieser Geschichte zuwendet, kann er sich bei einer breiten, oftmals auf sex und crime konzentrierte Mediengeschichte des Jud Süß bedienen.

Hauffs „Jud Süß“ führt antagonistische Konstellationen ein, welche strukturell die Schuldzuweisung bestätigen, die historisch zur Verurteilung von Joseph Süß Oppenheimer führte. In der Erzählung stehen sich zwei Parteien gegenüber: Der mächtige Finanzrat Süß und seine Anhänger sowie eine Fraktion patriotischer Bürger, die den Landständen Württembergs angehören. Der Herzog wird bei Hauff nur am Rande erwähnt, als Figur tritt er gar nicht in Erscheinung. Diese Aussparung ist funktional für die Komplexitätsreduktion auf einen antagonistischen Konflikt und geschieht nicht oder zumindest nicht in erster Linie aus Rücksicht auf die Zensur, die Anstoß an einer Fürstenkritik nehmen könnte: Denn durch diese Aussparung des Herzogs wird Süß von vornherein als eigentlicher Herrscher dargestellt und die Verschwörer als Patrioten, da sie angeblich nichts weiter wollen als den eigentlich legitimen Machthaber, den Herzog, wieder in sein Recht einzusetzen. Der von ihnen geplante Staatsstreich erscheint daher nicht als verwerflich, sondern als einziges Mittel wahrer Patrioten, ihr Land und ihren Herzog vor falscher jüdischer Herrschaft zu bewahren. Am Ende erübrigt sich dies, weil der Herzog stirbt – ein göttliches Eingreifen, so die Deutung des Erzählers, das ihr Vorhaben und die Verurteilung von Süß gleichermaßen legitimieren. Durch die binäre Konstruktion werden Herrscher und Volk in Württemberg also von vornherein implizit versöhnt. Und explizit kann die soziale Ordnung als wiederhergestellt gelten, indem Süß entmachtet und getötet wird.

Der Komplexität reduzierende Binarismus in der Konfliktkonstellation bildet das wesentliche Fundament für die weitergehende Erzähldynamik und ihre Sympathie- und Antipathielenkungen.

Deren wichtigstes Mittel ist ein heterodiegetischer Erzähler, der über weite Strecken und insbesondere in allen wichtigen Urteilen über Jud Süß die Positionen der Verschwörer teilt. Im ersten Abschnitt heißt es: Württemberg sei in eine „bedenkliche Lage, in Elend und Armut“ gebracht worden, und zwar durch „die systematischen Kunstgriffe eines allgewaltigen Ministers“. Im zweiten Abschnitt hören wir dieselbe Diagnose in der direkten Rede von mehreren Figuren aus dem Kreis der Verschwörer, konkretisiert in einzelnen Anklagepunkten wie Korruption oder Affären mit christlichen Frauen. Die verheerende Situationsdiagnose legitimiert, dass ein Eingreifen nötig ist. Indem die Verschwörer gegen Süß’ Machtausübung aufbegehren, erweisen sie sich als politisch klug, mutig und vor allem als selbstlos handelnde Patrioten. Umgekehrt bildet Süß das verachtenswerte Gegenbild dieser Vaterlandsliebe. Das zentrale Überzeugungsmittel des Textes aber ist nicht die Übereinstimmung von Erzähler und Figuren. Dies wäre eher ein platter Kunstgriff. Von zentraler Bedeutung ist, dass sich der Erzähler zugleich als objektiv urteilend und nicht etwa als parteiisch inszeniert. Dies gelingt ihm einerseits, indem die verurteilende Darstellung von Süß als von allen vernünftigen Menschen geteiltes Wissen angesehen werden soll – und nicht als Meinung einiger weniger Verschwörer. Andererseits, indem sich der Erzähler in Bezug auf einige wenige Aspekte von Teilen der Verschwörer distanziert und damit ‚Neutralität‘ zu signalisieren vermag. Beides zusammen bewirkt die Glaubwürdigkeit einer ‚neutralen‘, gesichertes historisches Wissen präsentierenden Darstellung.

Gustav Lanbek fungiert als emotionalisierende Perspektivfigur für die Leserlenkung. Über seine Entscheidungsprozesse erleiden und erlernen die RezipientInnen, ein dichotomisches Bild von ‚Deutschen‘ und ‚Juden‘ als notwendig anzusehen beziehungsweise für sich erneut als begründet zu bestätigen. Das Mitleiden mit den Gewissensqualen dieser Figur bildet die emotionale Brücke, über die die Leser sich dem brutalen Schluss über die ‚deutsch-jüdischen Verhältnisse‘ anschließen, zu dem der Erzähler sie kognitiv führt.

Im Erzählaufbau nehmen die Überlegungen und Gewissenskämpfe der sogenannten Patrioten den größten Anteil des Textes ein, während Süß nur den Anlass dazu bildet. Nicht nur wird am Ende der Prozess in wenigen Sätzen lapidar und emotionslos abgehandelt: „Es würde unsere Leser ermüden, wollten wir sie von dem Prozess des Juden Süß noch länger unterhalten.“ Die monatelange Haft und der Prozess finden bei Hauff überhaupt nur Beachtung, weil sich hier endgültig das Schicksal eines Liebespaares entscheidet: Des schon erwähnten Gustav Lanbek und von Lea, der von Hauff hinzuerfundenen Schwester von Jud Süß. Die von allen gehasste jüdische Figur, der soziale Aufsteiger, wird mit ihr durch die ‚schöne Jüdin‘ ergänzt, die in den Konflikt hineingezogen wird und darin untergeht. Sie begeht am Ende Selbstmord.

Die Funktion dieser ‚schönen Jüdin‘ ist eine zweifache:

1. Sie bildet auf den ersten Blick einen positiven Gegenpol zu Süß. Er gefährdet als sozialer Aufsteiger die Machtverhältnisse, während sie auf Grund ihrer Geschlechtszugehörigkeit in der politischen Sphäre als machtlos gekennzeichnet ist. Dass sowohl der jüdische Schurke als auch ein unschuldiges jüdisches Mädchen dasselbe Schicksal teilen, wird dem Erzähler zu einem entscheidenden Baustein für sehr weitreichende gesellschaftspolitische Folgerungen. Im Hinblick auf die Emotionslenkung ist wichtig, dass das individuell unschuldige Opfer betrauerbar ist.

2. Auch Lea birgt allerdings auf den zweiten Blick ein Gefährdungspotential: Innerhalb der patriarchalen Gesellschaftsordnung, welche die Erzählung präsentiert, stellt sich bei ihr ebenso wie bei den beiden Schwestern von Gustav die Heiratsfrage. Hierin verknüpfen sich Liebesverhältnis und politische Geschichte: Ebenso wie in der politischen Ordnung wird am Ende der Erzählung auch in den Geschlechterbeziehungen die ‚richtige Ordnung‘ herrschen. Das Opfer wird also zwar als betrauerbar gekennzeichnet, aber gleichzeitig als notwendig dargestellt.

Gustav Lanbek muss sich unter Schmerzen von Lea trennen, und die Jüdin muss am Ende einsehen, dass dies die einzig richtige Wahl ist – auf diese Weise lernen die RezipientInnen mit beiden Figuren zusammen in einer tragisch anmutenden Entscheidungssituation, dass eine radikale Trennung der christlichen Deutschen von allen Juden unumgänglich ist. Der vorherrschende Affekt ist hier nicht Hass, da das Hauptaugenmerk nicht auf der Figur des Süß liegt, sondern Trauer: Lea stirbt und von Gustav weiß der Erzähler zu berichten, dass dieser nie mehr froh gewesen sei.

Die Liebe zwischen Lea und Gustav durchkreuzt tendenziell die Frontstellungen der politischen Ebene. Sie scheint gegen deren klare Dichotomien ein Modell der Überschreitung von Grenzen anzubieten und damit einen anderen Blick auf die christlich-jüdischen Beziehungen zu eröffnen. Sie ist hier aber funktional als dramatisierendes Element einer Erzählorganisation gestaltet, welche vor den Augen der Leser/innen verschiedene Positionen und Wertungsperspektiven durchspielt. Das Lösungsangebot, das die Erzählung schließlich entwickelt, wird auf diese Weise einer Prüfung unterzogen, auf der Ebene einzelner Figuren emotional durchlebt und auf der Ebene des Erzähldiskurses zugleich rational begründet.

Wie dieses Zusammenspiel funktioniert, lässt sich an der Auseinandersetzung mit dem Antijudaismus im Text zeigen. Der Text macht sich hier punktuell eine Vorurteilskritik zu eigen, und zwar im Zusammenhang mit den schon erwähnten kritischen Blicken, mit denen nahezu alle Figuren einmal bedacht werden. Der Erzähler erlangt damit eine Neutralität, die seine Position stärkt.

Die Fehler der Patrioten sind ein übertriebener Patriarchalismus wie beim alten Lanbek, aber auch Gustavs Zögerlichkeit, vor allem in seinem Verhalten gegenüber Lea. Zu kritikwürdigen Aspekten kann aber durchaus die Selbstverständlichkeit zählen, mit der in den Reihen der Verschwörer davon ausgegangen wird, dass aus der Verbindung zwischen Gustav und Lea „doch niemals eine vernünftige und ehrenvolle Liaison“ werden könne. Ganz plakativen Antijudaismus zeigen der alte Lanbek und seine Tochter Hedwig. Ihrer Schwester Käthchen, die Leas Schönheit preist, erklärt sie: „Mag sein, wie sie will, sie ist und bleibt doch nur eine Jüdin.“

Auch Lea wird mit kritischen Blicken bedacht. Ihre Gleichsetzung von protestantischem und jüdischem Glauben muss auf die Leser/innen im günstigsten Falle naiv gewirkt haben. Vor allem aber spricht sie über antijüdische Vorurteile: „Ach, ich weiß wohl, diese Menschen hassen unser Volk“. Diese Einschätzung wird jedoch in der Erzählung implizit widerlegt, da sich die Aussagen, um die es hier geht, auf Süß beziehen und im Erzählverlauf bereits als berechtigte Kritik erwiesen worden sind. Damit ist offensichtlich, dass die Funktion von Leas Aussage nicht in erster Linie darin besteht, das Vorhandensein religiöser Judenfeindschaft kritisch zu beleuchten. Sie dient vielmehr dazu, dass sich Lea zu ‚ihrem Volk‘ bekennt und damit explizit Süß’ und ihr Schicksal verbindet. Die Erzählung konstitutiert hier eine ‚jüdische Existenz‘, die unabhängig ist vom tatsächlichen Verhalten der einzelnen Angehörigen der Minorität. Dies bereitet darauf vor, dass im Rahmen der Erzählung beide so unterschiedlichen Judenfiguren nicht Teil einer ‚deutschen‘ Gemeinschaft sein können.

Dieselbe Funktion lässt sich in Bezug auf die scheinbar so deutliche Distanzierung des Erzählers von Gustavs antijüdischen Ressentiments beobachten. Als dieser in der Unterhaltung mit Süß seine Gefühle für Lea zur Freundschaft abwertet, um eine Heirat abzulehnen, kommentiert er: „[…] er dachte an seinen stolzen Vater, an seine angesehene Familie, und so groß war die Furcht vor Schande, so tief eingewurzelt damals noch die Vorurteile gegen jene unglücklichen Kinder Abrahams, daß sie sogar seine zärtlichen Gefühle für die Tochter Israels in diesem schrecklichen Augenblick übermannten.“

Die Vorurteilskritik bezieht sich ausschließlich auf einen tradierten religiös begründeten, eher instinktiv erscheinenden Antijudaismus. Gleichzeitig aber strapaziert der Erzähler die beiden „Kulturen“ als getrennte Gemeinschaften und begründet, dass Juden ‚als Kollektiv‘ und damit unabhängig vom Verhalten des Einzelnen nicht zur sozialen Integration in die ‚christliche Gemeinschaft‘ fähig seien. Die Pointe des Erzähldiskurses ist daher, dass die Leser/innen mit dem Erzähler und einzelnen Figuren Trauer über die Notwendigkeit einer solchen Haltung empfinden können. Sie können sich von als primitiv erkannten antijüdischen Vorurteilen distanzieren und über das Mitleiden mit den Liebenden und vor allem mit Lea, dem „unglücklichen Mädchen“, zugleich zu einer Position finden, welche die Exklusion der Juden aus der christlich-deutschen Mehrheitsgesellschaft ‚rational‘ rechtfertigt.

Passend zu dieser tragischen Harmonisierung der Standpunkte ‚vergisst‘ der Erzähldiskurs am Ende die antijüdischen Vorurteile, die diese Entwicklung begleiteten. Dieser 15. Abschnitt wird regelmäßig in Interpretationen angeführt, um zu zeigen, dass sich das Erzählen schließlich doch einer anderen, humanen Position öffne:

„Beides, die Art, wie der unglückliche Mann mit Württemberg verfahren konnte, und seine Stafe sind gleich auffallend und unbegreiflich zu einer Zeit, wo man schon längst die Anfänge der Zivilisation und Aufklärung hinter sich gelassen […].

Man wäre versucht, das damalige Württemberg der schmählichsten Barbarei anzuklagen, wenn nicht ein Umstand einträte, […] der, wenn er auch die Tat nicht entschuldigt, doch ihre Notwendigkeit darzutun scheint. […] Verwandtschaften, Ansehen, heimliche Versprechungen retteten die andern, den Juden – konnte und mochte niemand retten, und ,so schrieb man‘, wie sich der alte Landschaftskonsulent Lanbek ausdrückte, ‚was die übrigen verzehrt hatten, auf seine Zeche‘.“ [Hervorhebung A. G.]

Ausgerechnet der alte Lanbek, der wesentlich den Sturz von Süß beförderte, vertritt hier die Sündenbock-These und verdeckt damit seine eigenen antijüdischen Vorurteile. Tatsächlich geht es an dieser Stelle darum, erneut die soziale Isolation des Jud Süß herauszustellen, die ihn zum Sündenbock geeignet gemacht habe. Ebenso zielt die Aussage – „Man wäre versucht, das damalige Württemberg der schmählichsten Barbarei anzuklagen“ ‑ nicht auf diese Anklage, wie schon der Konjunktiv zeigt, sondern darauf, anschließend nochmals die historische Handlungsweise zu rechtfertigen. Kritisiert wird lediglich die grausame Hinrichtung.

Dass Süß sozial isoliert ist, wird ihm zum eigentlichen Verhängnis. Er blieb ein Fremder und konnte selbst bei seinen Anhängern keine nun hilfreichen Verbindlichkeiten erzeugen. Diese Fremdheit, die sich aus der in den Augen der Gegner angemaßten Machtposition herschreibt, begründet der Text ebenso für Lea: sie tritt, anders als Gustav, der während des Geburtstagsfestes zwischen dem väterlichen Bauern- und dem Sarazenenkostüm wechseln kann, nur als Orientalin auf, und dies sollen die Leser für ihr eigentliches Wesen halten, wie der Erzähler verdeutlicht: „Man konnte ihr Gesicht die Vollendung orientalischer Züge nennen.“ Ihre Fremdheit wird damit zur ‚jüdischen Fremdheit‘ generalisiert. Ebenso wird Gustavs Entscheidung für die Position seiner Familie in der doppelten Maskerade vorweggenomen: Er muss das Fremde, zu dem er sich hingezogen fühlt, ablegen, und zum ‚Eigenen‘ zurückkehren und Trost daraus gewinnen, dass er „sein eigenes Schicksal einer höheren Fügung unterordnete“.

Gustavs patriotische Entscheidung wird gerechtfertigt, indem eine grundsätzliche Trennung von Christen und Juden begründet wird. In dieser Alteritätskonstruktion wird die jüdische Herkunft zu einer historischen Last, ein Erbe, das die Individuen unabhängig ob moralisch oder nicht, in ihrer Gemeinschaft gefangen nimmt. Am Ende hat der Erzähldiskurs geklärt, dass es nicht, wie es anfänglich schien, ein tumber, tradierter Antijudaismus ist, der Gustavs Liebe im Wege steht, sondern dass umgekehrt das Judentum selbst jedem Christen zum Unglück wird, sofern dieser sich „näherte“.

Damit hat der Text die entscheidende Schlussfolgerung vorbereitet: Sie liegt in einer notwendigen Distanz, da jeder Kontakt angeblich ins Verderben führt. Dies bestärkt der Text, indem er als konkreten Beginn von Leas Unglück neben ihrer jüdischen Herkunft im Allgemeinen das Verlassen des Frankfurter Ghettos verantwortlich macht. Dort war sie, wie sie Gustav erzählt, glücklich und unbeschwert: „Ich saß in meinem Stübchen unter Freunden und wollte nichts von alledem, was draußen war.“

Diese Bescheidenheit, Selbstzufriedenheit und der Verbleib beim eigenen Volk sind für beide konstruierte Gruppen positiv konnotierte Eigenschaften. Leas und Gustavs Schicksal dienen dem Text als warnendes Exempel dafür, dass diese ‚natürlichen‘ Grenzen respektiert werden müssen. Als positives Gegenbild werden zusätzlich die beiden Töchter Lanbeks eingeführt, die sich beide mit Verschwörern verheiraten und damit gute patriotische württembergische Familien bilden. Eine ‚richtige‘ Geschlechterordnung wird damit nochmals als vorbildhaft für die soziale Organisation der Gesellschaft betont. Die Grenzüberschreitung, die der Liebe tendenziell innewohnt, verliert in der Novelle gegen eine ethnisch-kulturelle Konstruktion zweier Gemeinschaften. Im Verlauf der Erzählung werden dazu Bekenntnisse der jüdischen ebenso wie der christlichen Figuren zu dem jeweils ‚eigenen Volk‘ inszeniert. Indem ihre Taten als bewusst erbrachte Opfer erkennbar werden, beglaubigen die Notwendigkeit einer Trennung der Gemeinschaften.

Effekt der ethnischen und nicht religiösen Begründung ist, dass sie sich für eine nationale Besetzung der Differenz öffnet, die den dominanten Modus des literarischen Antisemitismus im 19. Jahrhundert bildet: die ständige Berufung auf das Wohl der Gesamtheit des Volkes in „Jud Süß“ zielt nicht auf das erzählte historische Beispiel der Württemberger alleine. Ihr Kampf steht vielmehr exemplarisch für den Kampf gegen den angeblichen ‚Eindringling‘ einer ‚fremden Kultur‘. Die Juden werden als innergesellschaftliche Fremde sichtbar, die jenseits individueller Schuld oder Unschuld in der christlich-deutschen Mehrheitsgesellschaft Probleme verursachen. Diese Position führt also zum selben Schluss wie die antijüdischen Affekte, die im Text scheinbar so kritisch betrachtet werden. Obwohl sie im Verlauf des Erzähldiskurses tatsächlich einer Kritik ausgesetzt sind, werden sie auf diese Weise wieder integriert und letztlich auch legitimiert.

Hauffs „Jud Süß“ ist ein paradigmatisches Beispiel für einen antisemitischen Erzähltext, an dem sich die konstitutive Funktion des ‚Anderen‘ für das ‚Eigene‘ aufzeigen lässt. Der Text entwirft ein doppeltes projektives Bild kollektiver Identität (‚Juden‘ vs. ‚Deutsche‘). Die Naturalisierung dieser Identitäts- und Alteritätskonstruktionen ist die Voraussetzung dafür, dass der eigenen Zeit durchaus kritische Diagnosen gestellt werden können. Als Selbstverständigungen über die eigene Kultur haben sie aber letztlich identitätsstabilisierenden Charakter, weil die LeserInnen mit der Perspektivfigur Gustav Lanbek über die ‚richtige Lösung‘ ‚aufgeklärt‘ werden. Das Mitleiden mit dem Schicksals Leas und Gustavs überbrückt gewissermaßen die Grausamkeit der antisemitischen Schlussfolgerung.

Literarischer Antisemitismus darf, dies zeigt das Beispiel von Hauffs „Jud Süß“, nicht ausschließlich als eine Art fiktive Hassrede aufgefasst werden, die mit negativen Projektionen auf jüdische Figuren arbeitet und Gefühle der Abwehr bei den RezipientInnen auslösen sollen. Mit dem Abarbeiten von Listen stereotyp zugeschriebener Merkmale allein kommt man der Funktion jüdischer Figuren im literarischen Antsemitismus insgesamt nicht bei. So zweifelsfrei eine jüdische Figur, die als geldgieriger, betrügerischer Schacherer gezeichnet wird, ein antisemitisches Klischee darstellt, so zweifelsfrei können auch scheinbar positiv konnotierte Figuren wie eine ‚schöne Jüdin‘ oder ein gebildeter, nicht an Geld interessierter Jude im Rahmen ihrer Zuordnung zu einem ‚jüdischen Kollektiv‘ für die Verbreitung antisemitischer Einstellungen benutzt werden. Entscheidend sind allein die Funktionen, die einzelne Figuren beziehungsweise die durch sie verkörperten Zuschreibungen in einem Text für Identitäts- und Alteritätsdiskurse erfüllen, in erster Linie also für die Idee einer ethnisch homogenen Nation. In antisemitischen Definitionsprozessen nationaler Kultur werden Juden grundsätzlich zu innergesellschaftlichen Fremden erklärt. Die Klaviatur des Antisemitismus ist dabei viel breiter als vielfach wahrgenommen: Neben Texten, die dargestellte Minderheiten dem Verlachen preisgeben oder offen Hass stiften, finden sich durchaus auch eher leise, melancholische Töne, vorsichtige, scheinbar abwägend-nüchterne Urteile bis hin zu tragischen Geschichten über das Scheitern deutsch-jüdischer Beziehungen. In einem anti-antisemitischen Text zielt die Darstellung tragischen Scheiterns auf eine Kritik an den Exklusionsmechanismen der Mehrheitsgesellschaft. In antisemitischen Texten dagegen dient Tragik umgekehrt als ‚Beweis‘ für eine angeblich notwendige Trennung des ‚Deutschen‘ vom ‚Fremden‘.

Dass das ‚tragische Scheitern‘ einer Liebesgeschichte nicht kritisch über Antisemitismus aufklärt, sondern antisemitische Einstellungen befördert, führt vor Augen, dass sich literarischer Antisemitismus nicht am Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein einzelner (negativer) Stereotype ‚des Jüdischen‘ festmachen lässt. Im Zentrum der Analyse müssen die Wunsch- beziehungsweise Abwehrvorstellungen stehen, die über die Konstruktion der innergesellschaftlichen Fremden in einem Text evoziert werden.

Spiegelbildlich zeigt sich dieser Problemkomplex auch in der Vorurteilskritik. Das eingangs zitierte Stück von Elmar Goerden greift mit der Zusammenführung der Figuren Shylock und Nathan eine lang anhaltende und kontrovers geführte Debatte darüber auf, wie Vorurteilskritik funktionieren kann. Tragen idealisierte Figuren wie Nathan nicht eher dazu bei, dass sich die Mehrheitsgesellschaft in einem wohlfeilen Toleranzgefühl einrichtet? Umgekehrt hat sich, bühnengeschichtlich betrachtet, ein ‚böser‘ (nicht ‚nathanisiert‘-humanisiert dargestellter) Shylock nicht per se als ein geeigneterer Agent von Vorurteilskritik erwiesen. Aufschlussreich aber ist die Diskussion um die Darstellung ‚positiver’ oder ‚negativer‘ Judenfiguren, ob im Kontext der Vorurteilskritik oder aber umgekehrt im Kontext des Literarischen Antisemitismus, allemal: Eine ‚gute, unschuldige‘ Judenfigur kann funktional sein für eine kritische Aufklärung über Antisemitismus, aber ihre Darstellung kann ebenso für eine antisemitische Erzähllogik funktionalisiert werden. An Hauffs Erzählung „Jud Süß“ zeigt sich, dass es nicht genügt, Texte auf ihre Repräsentationen von Minderheiten hin zu befragen. Der analytische Blick muss vielmehr stets die diskursive Konstruktion von Kollektiven als Entwürfe von Selbst- und Fremdbildern und die damit einhergehenden Inklusions- beziehungsweise Exklusionsmechanismen von Seiten der Mehrheitsgesellschaft erfassen.

Literaturhinweise

Elmar Goerden: Lessings Traum von Nathan dem Weisen. Stück und Materialien. Frankfurt a.M. 2002.

Hauff, Wilhelm: Jud Süß. In: Ders.: Sämtliche Werke 2: Märchen. Novellen. München 1970, S. 474-538.