Kleine, gute Arbeit

Krimis neigen zu Volumen, es sei denn, sie tragen den Titel „Finsterau“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Tannöd“ war ihr großer Start (und ein schmales Buch) und Andrea Maria Schenkel hat seitdem weitergemacht. Mit besseren Konditionen, muss man annehmen, denn sie ist mittlerweile von der Edition Nautilus zu Hoffmann und Campe gewechselt. Das hat ihrer Wahrnehmung nicht gut getan, denn ihre neue Krimi-Skizze „Finsterau“ wurde nicht mehr in dem Maße gelobt, wie dies zu erwarten gewesen wäre.

Denn schlechter als „Tannöd“ ist „Finsterau“ nicht, nur nicht anders gemacht. Ein alter Fall, dieses Mal aus dem Jahr 1947, wird neu aufgerollt. 18 Jahre nach der Ermordung einer jungen Frau und ihres kleinen Sohnes taucht ein Scherenschleifer auf und schimpft laut über die Justiz, die die Falschen verhaftet und die wahren Täter laufen lässt.

Merkwürdiger Weise nimmt sich der Staatsanwalt, der auch damals als junger Mann mit dem Fall befasst war, der Sache an und rollt alles neu auf. Dabei lassen sich einige Ungereimtheiten feststellen, die Eindrücke und Indizien, die 1947 zur Verurteilung des ein wenig simplen Vaters geführt haben, zerfallen dem Leser als Stellvertreter der Ermittler unter den Händen.

Die Erinnerungen der Beteiligten zeigen vor allem eins, nämlich dass man sich seinerzeit sicher war, den Richtigen zu haben und dass das Geständnis eines kaum seiner fünf Sinne gewissen Vaters mehr wert war als alles andere. Dabei hätte man nachfragen müssen und vor allem die offensichtlichen Verhältnisse einer nochmaligen und vor allem gegen die eigenen Vorurteile kritischen Prüfung unterziehen müssen.

So ließe sich etwa eine Lehre aus den Romanen Schenkels ziehen, aber eben nur dann, wenn genau das nicht als moralischer Auftrag verstanden wird, sondern als beständige Aufgabe: Nämlich sich selbst immer wieder zu hinterfragen. Denn der größte Teil dessen, was tatsächlich geschehen ist, verbirgt sich hinter dem, was alle zu sehen glauben: Ein Täter, der direkt nach der Tat im Anblick seiner toten Tochter vespert, der muss extrem gefühlskalt sein. Wenns denn der Täter gewesen wäre…

Schenkel mischt wie auch in „Tannöd“ zeitgenössische Spielszenen mit Erinnerungsprotokollen und späteren Aussagen, sie springt zwischen der Binnensicht der Protagonisten und der Wahrnehmung von außen mit gewohnter Souveränität. Dabei verzichtet sie auf jede unnötige Psychologisierung: ja, der Vater ist hartherzig und bigott, aber er ist vor allen Dingen davon überzeugt, das Richtige von sich und den Seinen zu verlangen. Dass es sich um einen geradlinigen Mann handelt, erweist sich bei einer Rückblende ins „Dritte Reich“: Hier sitzt der Mann über Wochen ein, weil er das Regime für verhängnisvoll hält (sicher weil es gottlos ist, aber der Grund für eine solche Ansicht ist nachrangig).

Ja, auch Afra, die Tochter, geht keinem Streit aus dem Weg, aber vor allem deshalb, weil sie denselben Überlebenswillen hat wie die Eltern. Und dieselbe Auffassung vom Leben: Hier ist es selbstverständlich, dass alle noch mehr zusammenrücken, wenn es sein muss, auch wenn damit keineswegs alles friedlich und freundlich wird. Wenn der streng gläubige Vater auf die vitale junge Frau trifft, die ein uneheliches Kind, und dann auch noch von einem französischen Kriegsgefangenen mit nach Hause bringt, dann ist der Streit der beiden Dickköpfe vorprogrammiert.

Aber Schenkel versteht es, in die Köpfe und Wahrnehmungen der Protagonisten zu schlüpfen, ohne dass die Küchenpsychologiemaschine anspringt. Not ist Not, und die Widersprüche, die die Einzelnen auszuhalten haben, sind schon extrem genug. Sie müssen nicht erklärt werden. Die Ursache ist klar. Es sind arme Leute, um die es hier geht, auch der Täter gehört zu ihnen, und es ist eine der bitteren Lehren des Buches, dass die Gewalt, die zum Tode der beiden führt, aus der Not entspringt, aus der es für niemanden einen Ausweg zu geben scheint.

Lakonisch sind deshalb alle Akteure, die Armen wollen überleben, die Täter wollen Geld oder etwas zu essen, die Polizisten wollen ihren Täter, am Ende sind zwei Leute tot, und erst nach langen 18 Jahren wird der wahre Täter gefasst. Das ist als szenisches Konzept ungewöhnlich und extrem faszinierend, auch noch im vierten Buch Schenkels. Dabei legt Schenkel eigentlich nur Skizzen von Fällen vor. Der extreme und unvermittelte Wechsel der Perspektiven, die harte Fügung der einzelnen, meist nur knappen Abschnitte lassen der Interpretation sehr viel Raum. Den Fall zu konstruieren ist in großem Maße Sache der Leser. Der Leerraum, den Schenkel in ihren Büchern lässt, ist derart groß, dass die Verständnisarbeit sie schnell und umfassend zu füllen versucht.

Alles, was wir wissen, wissen wir, weil wir es aus dem wenigen, das uns Schenkel vorlegt, zusammenstellen. Gerade das aber macht die Qualität der kleinen Arbeiten Schenkels aus.

Titelbild

Andrea M. Schenkel: Finsterau. Kriminalroman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2012.
125 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783455403817

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