Vom Werden einer westdeutschen Großstadt

Jürgen Herres hat eine beindruckende Geschichte der Stadt Köln auf dem Weg zur Großstadt geschrieben

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Glaubt man den Reisenden des frühen 19. Jahrhunderts, dann ist der Kölner kein Deutscher, sondern Abkömmling irgendwelcher Kolonien. Fleischkolosse flämischer, ja Ruben’scher Fasson begegnen den Fremden und zeigen ihnen einen bemerkenswert stieren Blick – ein übler Eindruck also, den der Kölner um 1814 hinterlässt und der so gar nicht zum Selbstbild des heiteren lebensfrohen Rheinländers passt, das noch heute wirksam ist. Dom, Klüngel, Karneval und Kölsch. Das Kölner Viergestirn regiert immer noch eine Stadt, die im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört wurde und die bis heute an die Verwüstungen erinnert, die Krieg und Nachkriegszeit in ihr angerichtet haben. Die Schäbigkeit der Nachkriegsbetonbauten und die Hektik der modernen Großstadt haben jedoch der Atmosphäre dieser Stadt bis heute nichts anhaben können. Sie ist immer noch eine heitere Metropole, regiert von einer kommunalen Elite, die auf Zusammenarbeit setzt, statt auf Konkurrenz. Ein Wort wie Korruption wäre dafür nun wirklich nicht angemessen – denn was ist dagegen zu sagen, dass man sich kennt und sich umeinander kümmert? Fürsorge auf höchstem politischen und wirtschaftlichem Niveau – rheinischer Kapitalismus eben, der einer der Grundpfeiler des Wohlstands der Nachkriegsrepublik ist (noch vor dem Wohlstand in Bayern und Baden-Württemberg).

Das alles hat Grund und Geschichte, und Jürgen Herres führt in die historische Tiefe dieses kölnischen Umgangs mit der Wirklichkeit und wie sie sein soll. „Köln in preußischer Zeit“ ist der Band betitelt, er umfasst die Jahrzehnte nach 1815 (dem Jahr, in dem Köln nach den Napoleonischen Kriegen zu Preußen geschlagen wurde) und sich als Fremdkörper nach all den Jahren unter dem laxen französischen Einfluss und überhaupt als katholische Region im protestantischen Preußen behaupten musste. Kulturelle Differenzen nennt man so etwas, ohne sich dessen klar zu sein, welche Konfliktpotentiale in dieser Konstellation steckt. Bis 1871 – also zur Reichsgründung auf der Basis der französischen Niederlage – reicht der Band, stoppt also noch vor dem wohl stärksten Symbol Kölnischer Eigenständigkeit und nationaler Integration: der Vollendung des Doms im Jahre 1880. Dom statt Eiffelturm (1889) – deutlicher könnten die Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland nicht sein. Kein Wunder also, dass die Rede vom anderen Deutschland nicht aufhört, zumal der Dom am Eingang zum romantischen Rhein liegt, der bis heute von einschlägigen Schifffahrtsrouten versorgt wird. Noch eine jüngst eröffnete Ausstellung in Paris über die Kunst in Deutschland vom 19. zum 20. Jahrhundert greift erneut und immer wieder auf diesen Blick zurück, zurecht oder nicht ist eine zweite Frage. Mächtig ist dieses Verständnis der Deutschen bis heute.

Köln spielt dabei eben eine besondere Rolle. Die ehemals größte Stadt des Mittelalters liegt zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einem Dornröschenschlaf, aus dem sie dann abrupt geweckt wird. Beschränkt auf den heutigen inneren Ring lebten kurz nach der Übernahme durch die Preußen gut 46.000 Menschen in Köln, 1870 gab es etwa 120.000 Kölner, wobei das eigentliche Bevölkerungswachstum mittlerweile in der direkten Umgebung Kölns stattfand (die später schließlich eingemeindet wurde). Waren anfangs noch große unbebaute Areale in der Stadt zu finden, auf denen sogar Landwirtschaft betrieben wurde, waren freie innerstädtische Grundstücke bis in die 1860er-Jahre fast völlig verschwunden. Köln wurde vom Befestigungsring, der lange noch militärischen Zwecken diente, im Wachstum beschränkt. Aber auch diese Beschränkung überwand die vitale Stadt, die sich über die Jahrzehnte hin zwar in einer permanenten Auseinandersetzung mit den preußischen Verwaltungen verstrickt fand, sich darin aber nicht verschlissen hatte.

Wenn man Herres’ Darstellung folgen darf, dann hat sich der rheinische Katholizismus gegen die dominanten preußischen Behörden erstaunlich erfolgreich durchgesetzt. Daran hat sicherlich auch die strategische Bedeutung der Stadt ihren Anteil: Militärisch mag sie ihre eigene Wacht am Rhein geschoben haben, aber vor allem wirtschaftlich ist Köln der wichtigste Knotenpunkt im Westen des Reichs. Das ist nicht zu lösen von dem sich entwickelnden Industriezentrum im angrenzenden Norden, das noch im 20. Jahrhundert in der Wahrnehmung der Deutschen eine Art exterritoriales Gebiet war. Das Ruhrgebiet beheimatet die industriellen Zentren des Westens, Köln wird zur Handelsstadt und zum Verkehrsknotenpunkt. Um 1900 ist Köln die sechstgrößte Stadt des Reichs, und obwohl das Image der Stadt vom Dom bestimmt wird, ist sie doch vor allem eine moderne, industrialisierte Großstadt auf der jeweiligen Höhe der Zeit. Sie macht vielleicht auf gemütlich und humoristisch, aber nichts könnte den eigentlichen Antriebskräften in der Stadt weniger entsprechen als dieses Bild. Die Kölner Gesellschaft war eine „entbundene Gesellschaft“, wie Herres nicht müde wird zu betonen. Präziser ist die Dynamik, mit der sich Köln im 19. Jahrhundert entwickelt, nicht beschreibbar.

Geld ist der wohl wichtigste Faktor, der die Umgestaltung der Stadt vorantreibt. Die kommunale Selbstverwaltung französischer Provenienz, die auch unter preußischer Herrschaft noch lange erhalten blieb, verschaffte der Stadt eine relativ große Bewegungsfreiheit und ein hohes Selbstbewusstsein. 1815 waren die Kölner Eliten daran gewöhnt, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, und sie wollten dieses Gut nicht aufgeben, ebensowenig wie ihre katholische Konfession. Die Ressentiments gegen Preußen waren groß genug, was auch die neue Verwaltung sah, ohne wirklich etwas dagegen tun zu können.

Dennoch war Köln ebenso gut für Preußen wie Preußen für Köln. Die lang währende Distanz zum Reich, die nach 1871 für Hannover oder Bayern festzuhalten ist, war für die Kölner bereits Vergangenheit.

Ganz im Gegenteil, die Kölner hatten – unter Beibehaltung ihrer Eigenheiten, zu denen der von den Preußen ebenso wenig die der Katholizismus geliebte Karneval gehörte – ihren Frieden mit den Preußen gemacht.

Dazu beigetragen hat die Begeisterung, die der spätere König Friedrich Wilhelm IV. bereits in den 1810er Jahren von der Idee zeigte, den Dom endlich zu vollenden. Nach seiner Thronbesteigung 1840 förderte er den Dombau intensiv, und verdankte ihm zugleich die wichtigsten Solidarbekundungen der Kölner zur Preußischen Krone. Zwar erfüllten sich die Hoffnungen der Kölner auf eine liberalere Verwaltung und auf ein offeneres politisches System nicht, aber die Basis für die symbolische Integration Kölns mit dem Reich war damit gelegt. Der Dom wurde mit dem Neubeginn der Bauaktivitäten, über seine gesamte Bauzeit und darüber hinaus eines der wichtigsten nationalen Symbole, erst Preußens, dann des Deutschen Reichs. Selbst die artfremden Kölner konnten damit ins Deutsche Reich preußischer Fasson integriert werden. Dass dieser Prozess bis heute nicht abgeschlossen ist, wird jeder bemerken, der von Berlin nach Köln reist.

Aber die ermutigenden Zeichen werden nicht weniger, und der Verfasser, Jürgen Herres, bringt gleich noch einige mit: In welchen Zeiten leben wir, in denen ein Mitarbeiter der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Redakteur der Marx-Engels-Ausgabe diesen Teil der Kölner Geschichte geschrieben hat – in der Karl Marx immerhin eine gewichtige Rolle gespielt hat. So schlecht können sie nicht sein.

Titelbild

Jürgen Herres: Köln in preußischer Zeit. 1815 - 1871.
Greven Verlag, Köln 2012.
504 Seiten, 60,00 EUR.
ISBN-13: 9783774304529

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