Ohne Lavendel

Daniel Winkler hat eine Anthologie zu Marseille, der Kulturhauptstadt des Jahres 2013 herausgegeben

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Robert Gernhardts Komödie „Die Toscana-Therapie“ gibt es ein nervtötendes Fotografenpaar, das auf Teufel komm raus einen „anderen“ Bildband der totbelichteten italienischen Provinz anfertigen will. Die üblichen Klischees wollen sie um jeden Preis vermeiden – oder wenigstens aufbrechen. Das erreichen die beiden, indem sie in jeder Aufnahme dasselbe Requisit ins Bild rücken, auf dass man Zypressen und Pinien, Mäuerchen und Olivenhaine daneben vergesse. Es handelt sich um einen Zementsack.

Mag sein, Gernhardts Witz ist wenig subtil, und er geht – im Stück – einseitig auf Kosten der Fotografen. Aber er weist darauf hin, wie verkitscht die landläufigen Bilder sind, wenn sie nur reproduzieren, was der Tourist (oder Besucher einer Dia-Show im Uni-Hörsaal) ohnehin erwartet, auch wenn es mit dem realen Land der Gegenwart wenig zu tun hat. Und es ist kein beliebiger Vergleich, wenn man diese kleine Anthologie in die Hand nimmt, mit der der Verlag Klaus Wagenbach die europäische Kulturhauptstadt des Jahres 2013 feiert.

„Marseille und die Provence: Eine literarische Einladung“ ist ein Buch, das gezielt die Klischees zu umschiffen sucht. Keine Lavendelfelder in glühender Sommerhitze, keine Van Gogh’schen Sonnenblumen, keine Lehre der Sainte-Victorie, und auch die wilden Pferde und Stiere der Camargue – so schön sie sein mögen – bleiben auf ein Minimum beschränkt. Stattdessen stellt Herausgeber Daniel Winkler die Metropole Marseille in den Mittelpunkt. Und das so, wie sie eben ist – laut, lebendig, kosmopolitisch und seit einiger Zeit von der Gentrifizierung bedroht, wie sie in vielen europäischen Metropolen grassiert. Besonders die Einwanderer, sie prägen die Stadt seit der Antike, kommen zu Wort; Autorin Leïla Sebbar leiht sogar (in der Fiktion) der Mutter Zinedine Zidanes, der in der Region aufgewachsen ist, ihre Stimme.

Erst im letzten Drittel des Buches geht es wirklich in die Peripherie. Aber auch hier verzichtet Winkler auf die landläufigen Klischees: Das idyllische Aix-en -Provence wird zum Schauplatz eines gewalttätigen Action-Thrillers, und der Weinbau an der Durance ist keine Idylle, sondern wird zum stetigen Mühen der Winzer darum, dass ihr Land nicht vom Fluss weggeschwemmt wird. Das heißt nicht, dass Frankreich und die Provence, wie man sie zu kennen meint, ganz fehlen: George Brassens ist mit seinem wunderschönen Chansontext „Heureux qui comme Ulysse“ vertreten, und der deutsche Exilant Fred Wander berichtet vom ersten Edith Piaf-Konzert in Marseille.

Überhaupt rahmt Winkler seine Auswahl mit großen Namen ein: Nobelpreisträger Jean-Marie G. Le Clézio liefert mit einem Ausschnitt aus seinem Roman „Wüste“ (1980) einen ersten Gang durch die moderne Stadt, und ein kurzer Ausschnitt aus Michel Tourniers „Der Goldtropfen“ (1985), der von der Odyssee eines jungen Berbers durch Frankreich und seinem fremden Blick auf das Land handelt, beschließt das Buch. Der Großteil der französischen und arabischen Autoren, die Winkler versammelt hat, bleibt noch zu entdecken; viele der Beiträge sind offenbar für dieses Buch erstmals übersetzt worden. Zu empfehlen ist diese Entdeckungsreise allemal – wenn man denn neugierig ist auf Marseille und das Umland, wie sie sich heute nun einmal darstellen. Selbst wenn das bedeutet, dass nicht ein einziges Mal vom Lavendel die Rede ist.

Titelbild

Daniel Winkler (Hg.): Marseille und die Provence. Eine literarische Einladung.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013.
143 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783803112934

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