Zum Schreien!

Anlässlich der aktuellen Debatte um Sexismus im Beruf hat Alice Schwarzer einen Sammelband mit Texten zum Thema herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der via Twitter verbreitete Aufschrei sexuell belästigter Frauen ist noch lange nicht verhallt – und sollte dies so schnell auch nicht tun. Dazu, dass er den Herren weiter in den Ohren klingt könnte ein soeben von Alice Schwarzer unter dem Titel herausgegebener Sammelband „Es reicht!“ beitragen. Allerdings behandelt er ausweislich des Untertitels nicht sexuelle Belästigung schlechthin, sondern konzentriert sich ganz auf „Sexismus im Beruf“.

Dass sich die frauenverachtende Sexualität nicht eben weniger Männer auch in der Berufswelt Bahn bricht, ist allerdings durchaus kein junges Phänomen. So galten weibliche Hausangestellte um 1900 als sexuelles Freiwild für die Hausherren und ihre Söhne. Nicht anders verhielten sich Wirtshausgäste gegenüber Kellnerinnen, was auf eine durchaus wohlwollende Haltung der Wirtsleute traf, steigerte es doch den Umsatz. Erwarteten die Kellnerinnen und – wie es damals hieß „Dienstmädchen“ ein Kind, wurden sie umgehend davongejagt. Denn unverheiratete Frauen verstießen als werdende Mütter gegen die damals herrschende Doppelmoral. Zudem waren schwangere Frauen weder für Hausherren und ihre Söhne attraktiv, noch versprachen sie den Umsatz von Wirtshäusern weiter zu steigern. In der damals sehr virulenten Frauenbewegung wurde der Kampf gegen sexuelle Belästigung allerdings anders als etwa derjenige gegen die Prostitution und natürlich vor allem der für das Frauenwahlrecht nicht zu einem zentralen Anliegen.

Dennoch ist der nun mit dem renommierten Grimme-Preis ausgezeichnete Aufschrei nicht der erste seiner Art. Bereits die zweite Welle der Frauenbewegung initiierte Ende der 1970er-Jahre eine ähnliche „Protestwelle“, was Schwarzer im Vorwort des vorliegenden Bandes auch anmerkt. Da die damaligen Ereignisse für die jüngere Generation heutiger FeministInnen ebenso aufschluss- wie hilfreich sein können, hat sie in den Band nicht nur Texte der aktuellen, sondern auch solche der damaligen Protestbewegung aufgenommen.

So ist das Buch in drei Teile untergliedert, deren erster ganz überwiegend mit Beiträgen aus den diesjährigen Frühjahrsausgaben der „EMMA“ gefüllt ist. Die historischen Texte des zweiten Teils stammen aus der Zeit der Zweiten Frauenbewegung sind derselben Quelle entnommen. Das mag in einem „EMMA-Buch“, als das der vorliegende Band firmiert, gerechtfertigt sein. Die Stärke, Vielfalt und Virulenz, welche die Protestwelle gegen Sexismus am Arbeitsplatz in den 1970er- und 80er-Jahren erreichte, wäre aber sicherlich besser zu dokumentieren gewesen, wenn nicht nur EMMA-Artikel als Belege abgedruckt worden wären. Der dritte Teil bietet eine „Chronik 1972-2013“. EMMA-Mitarbeiterin Chantal Louis informiert zudem darüber, „wie alles angefangen hat“ und wirft einen ebenso informativen wie konzisen Blick in die Zeit der „sogenannten Conciousness-Raising-Gruppen“, den „Urzellen der Frauenbewegung“.

Neben ihrem Vorwort hat Alice Schwarzer noch einen weiteren Beitrag beigesteuert. Er gilt Dominque Strauss-Kahn, den sie fast schon euphemistisch als „notorischen und brutalen Frauenbelästiger“ bezeichnet. Auch sonst formuliert sie nicht immer in der von ihr gewohnten Genauigkeit und erklärt etwa: „Die Frauen in Lächelberufen sind zur Anmache prädestiniert.“

Anne Wizorek erklärt in einem Interview, warum sie die Twitter-Aktion initiierte. Unter dem Pseudonym Anna K. berichtet ein „Zimmermädchen“ von ihrer Wut über die sexuellen Übergriffe von Gästen, während die stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten von dem Kampf berichtet, den ihre Organisation gegen sexistische Übergriffe führt. Alexandra Eul fragt sich und ihre Geschlechtsgenossinnen hingegen, warum sich Frauen „selbst zum Objekt“ machten, „obwohl wir es gar nicht wollen?“ Die Philosophin Petra Gehring erklärt, dass Sexismuskritik keine Frage der Moral sei. Jedenfalls dann, wenn „Moral hieße: nichts begründen zu können.“ Unter den AutorInnen findet sich schließlich auch noch ein Mann: Von Schweden aus wirft Mikael Krogerus einen Blick auf das sexualpolitische Entwicklungsland Deutschland.

Interessanter noch als das, was geschrieben wird, ist manchmal, wer es schreibt. So haben sicher viele Frauen und nicht wenige Männer erkannt, dass es seit jeher zum Alltag von Frauen gehört, „sich vor dem Betreten eines Fahrstuhls zu fragen, was das denn für ein Mann ist, mit dem sie die nächsten Sekunden oder Minuten allein auf engstem Raum verbringen wird“. Doch nicht dies, sondern die Prophezeiung, dass den Männern nun angeblich entsprechende Überlegungen bevorstünden, wird von interessierter Seite zum Skandalon gemacht. Interessant also ist vor allem, dies in einem Text einer führenden CDU-Politikerin lesen zu dürfen: Ursula von der Leyen.

„Das Problem“, erklärt Schwarzer im Vorwort, seien nicht individuelle Ausrutscher einzelner Unverbesserlicher, das Problem sei „die strukturelle Natur“. Natürlich sind auch solche ‚Ausrutscher‘ problematisch. Das eigentliche und viel größere Problem aber ist tatsächlich deren Begünstigung durch die gesellschaftliche Struktur der Geschlechterverhältnisse, die eben auch eine im Arbeitsverhältnis ist. Eine ähnlich fragliche Alternative eröffnet Schwarzer, wenn sie darlegt, bei sexueller Belästigung gehe es „nicht um Sex, es geht um Macht. Um Machterhalt.“ Selbstverständlich geht es um Macht und Machterhalt, aber es geht eben auch um Sex. Natürlich schließt das eine das andere nicht aus. Und selbst wenn die sexuelle Belästigung ‚nur‘ die Form wäre, in die sich ihr Inhalt, der Machterhalt, kleidet, so käme doch immerhin die berühmte Dialektik von Form und Inhalt ins Spiel.

Dass Schwarzer die Verstrickung von Macht und Sexualität in der sexuellen Belästigung negiert, ist umso überraschender, als sie sehr zu Recht darauf hinweist, dass der (auch in dieser Rezension verwandte) deutsche Begriff sexuelle Belästigung verharmlosend ist, womit sie vornehmlich den zweiten Tel des Ausdrucks meint. Der englischsprachige Ausdruck „Sexuell harassment“, da ist Schwarzer nun rundum zuzustimmen, fasst das Phänomen zweifellos sehr viel schärfer.

Der vorliegende Band ist offenbar als Ermutigung sexuell belästigter Frauen gedacht. Damit zielt er zwar auf ein nicht eben kleines Publikum. Dennoch ist ihm ein noch größeres zu wünschen, das sich nicht nur aus Leserinnen, sondern eben sowohl aus Lesern zusammensetzen sollte.

Titelbild

Alice Schwarzer (Hg.): Es reicht!
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013.
170 Seiten, 8,99 EUR.
ISBN-13: 9783462045888

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