Kein Heimatfriedhof

Ein Sammelband über Norbert Scheuer wirft Licht auf Immanuel Kant, die Provinz und den Roman

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Heimat hat es lange Zeit nicht gut gehabt in der Literatur. Nach 1945 sahen sich Romane aus der Provinz, kaum dass der Blut-und-Boden-Geruch abgestreift war, dem Verdacht der Nostalgie und falschen Sentimentalität ausgesetzt. Bitterböse zeichnete Karl Heinz Bohrer im Jahr 2000 ein Bild des deutschen Provinzialismus mit kleinbürgerlicher Gemütlichkeit, leisetreterischer „Händlergesinnung“ und Gartenzwergen hinterm Jägerzaun. Inzwischen haben sich die Zeiten geändert. Kultur aus der Region kommt an, nicht nur im „Tatort“. Was die Wetterau bei Andreas Maier, der Bodensee bei Martin Walser, das Saarland bei Johannes Kühn ist, das ist „Kall, Eifel“ bei Norbert Scheuer. Der Roman aus dem Jahr 2005 führt ins Zentrum seines Schreibens und liefert zugleich sein literarisches Programm. „Kall, Eifel“: Das ist autobiografisches Bekenntnis, kultureller Erinnerungsort, Kompliment an die Tradition der amerikanischen Provinzprosa (vornehmlich Sherwood Andersons „Winesburgh, Ohio“). Und ein Anlass, mit dem Autor und mit Germanisten über „Kant, die Provinz und de(n) Roman“ zu sprechen.

Das geschieht in dem Sammelband, den der Essener Literaturwissenschaftler Andreas Erb anlässlich der Poetik-Vorlesung von Norbert Scheuer im Wintersemester 2011/12 an der Universität Duisburg-Essen herausgegeben hat. Acht Aufsätze und natürlich die Poetikvorlesung selbst bilden den Rahmen für eine intensive Erkundung des Territoriums der Werke von Norbert Scheuer. Den 1951 in Prüm geborenen Autor stellt Andreas Erb mit gebührender Detailkenntnis als „Ethnographen des Alltags“ und Erinnerungskünstler vor. „Kall, Eifel“ liest er mehrschichtig, wie auch Erbs raffinierte Titelcollage zeigt, die einen Spiegelblick ins Wasser mit Totenkopf wirft, darüber ein Fachwerkhaus. Unter der Chronik der nördlichen Eifellandschaft zwischen Aachen und Trier kann man dementsprechend das kulturelle Wissen der Region verorten, das der Autor in seinen Geschichten von Milieu und Mentalitäten einsammle. Zugleich aber rette er nicht einfach nur die fast ausgestorbene Literaturtradition der Dorfgeschichte, sondern etabliere das Genre eines inszenierten Raums, eine poetische Provinz ohne Provinzielles.

Diese ästhetische Grundkategorie wird in den Essays von Diana Kurth (über Bausteine von Norbert Scheuers Erinnerungspoetik), Rolf Parr (über das raumzeitliche Baugerüst seines Schreibens), Nina Benkert (über die „paternalen Ungewissheiten“ in den vaterschaftslosen Romanen), Anne Beughold (über ein seit „Der Steinesammler“ manifestes Erzählmotiv und -prinzip), Martin Hielscher (über Norbert Scheuers Modernisierung der Figur des Sonderlings), Werner Jung (vergleichsweise über die Heimatgedichte) und Thomas Schaefer (über zyklisches Erzählen in „Peehs Liebe“, Scheuers jüngstem Roman) reichhaltig entfaltet.

Der lesenswerteste Teil des Bandes sind Norbert Scheuers Vorlesungen. Sie sind zuhörerbetont und kleine Kunststücke der allmählichen Verfertigung des Schreibens beim Spazierengehen. Mit Andreas Erb hat sich der Autor in der Eifel getroffen, um die Tatorte seiner Bücher zu besichtigen – auf drei literarisch-philosophischen Spaziergängen. Hier erfährt man, inwiefern das Studium der Physik geholfen hat, vom Abstrakten zum konkreten Denken zu gelangen (Norbert Scheuers Diplomarbeit behandelte „Röntgenfeinstrukturuntersuchungen an Eisen II-Oxyhydraten“). Warum Dichtung, im aristotelischen Sinne, „philosophischer und ernsthafter als Geschichtsschreibung“ ist. Wie ein Roman zustande kommt: die Niederschrift, zuerst auf Spiralblöcken, dauere normalerweise zwei Jahre, dann folge ein Jahr Korrekturarbeit. Was Schreiben für den Autor bedeutet: eine Synthese mannigfaltiger Erfahrungen. Und wie die fiktive Provinz aus dem realen Schreibort entsteht: durch Imagination, Anreicherung mit „ruhiger, fließender Erinnerung“, wie es in „Peehs Liebe“ heißt. Mit diesem Roman hat Norbert Scheuer ein ganz neues, posttraditionales Kapitel seines Provinzepos aufgeschlagen. Die Figuren sind bekannt, gewinnen aber durch den Hölderlin-Bezug und den feinsinnigen Perspektivwechsel der Erzähler an historischer Tiefe und an ästhetischem Profil.

Heimat, das ist für Norbert Scheuer ein „Forschen nach Verlorenem“, das sich nicht in der Friedhofsruhe einer archivierten Vergangenheit erschöpfe, sondern an einem erfahrbaren Schreibort vollziehe. Insofern hat Heimat eine symbolische Qualität als „Orakel, Mitspieler, Echo“ des Schreibens. Warten wir also gespannt auf „Kall, Eifel II“.

Titelbild

Andreas Erb (Hg.): Norbert Scheuer: Kant, die Provinz und der Roman.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2012.
177 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783895289439

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