Strömende Verse eines Einzelgängers

Zur ersten Gesamtausgabe der Lyrik Wilhelm Klemms

Von Michael AnselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Ansel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wilhelm Klemm ist als Lyriker heute weitgehend vergessen. Das war nicht immer so: In der von Kurt Pinthus herausgegebenen „Menschheitsdämmerung“ (1919), der erfolgreichsten und bis heute viel zitierten Lyrikanthologie des Expressionismus, war er prominent mit 19 Gedichten vertreten, während sich etwa Gottfried Benn dort mit nur sieben Gedichten begnügen musste. Auch die zuvor in rascher Folge erschienenen Sammelbände „Gloria! Kriegsgedichte aus dem Feld“ (1915), „Verse und Bilder“ (1916) und „Aufforderung“ (1917) hatten Klemms Namen als Dichter (im Umkreis) des Expressionismus der literarisch interessierten Öffentlichkeit nachdrücklich eingeprägt.

Seine seit Oktober 1914 in Franz Pfemferts „Aktion“ vorab gedruckten Kriegs- beziehungsweise Antikriegsgedichte machten Furore, weil sie sich mit ihrer spannungsreichen Mischung aus vitalistischer Kriegsbejahung und unprätenziösem Lakonismus vom schwülstig-militaristischen Hurra-Patriotismus der seit August 1914 üppig ins Kraut schießenden Literaturproduktion (nicht nur) der Poetae minores abhoben und eine völlig andere, mit dem Gütesiegel der Authentizität versehene Sichtweise des Krieges etablierten. Auch die in der neu begründeten Reihe der „Aktions-Lyrik“ erschienene, den epochentypischen Titel „Aufforderung“ tragende Gedichtesammlung erfuhr breite Resonanz, weil sie für den frühen Expressionismus charakteristische Themen – Gefolgschaftspathos, Erneuerungsfantasien und kosmische Entgrenzung, Melancholie, Existenzangst und Nihilismus, Verfalls- und Untergangsszenarien – mit einer Vielzahl anderer, davon abweichender Motive und Bilder auf anregende Weise zu verbinden verstand. Seit Beginn der 1920er-Jahre ist Klemms Ruhm allerdings rasch verblasst, obwohl Pinthus’ renommierte Sammlung nach dem Zweiten Weltkrieg viele Neuauflagen erlebt hat und immerhin acht Gedichte von ihm Eingang in die einschlägige, bis heute lieferbare Anthologie „Lyrik des Expressionismus“ von Silvio Vietta gefunden haben.

Klemm hat – von der kleinen selbstständigen Sammlung „Geflammte Ränder“ (1964) und einigen überschaubaren Einzelpublikationen zwischen 1958 und 1968 insbesondere in den „Akzenten“ und den „Neuen Deutschen Heften“ abgesehen – seit 1922 nicht mehr publiziert. Über die Gründe dafür gehen die Meinungen auseinander. Unstrittig ist, dass der seit 1912 mit Erna Kröner, der Tochter des Verlegers Alfred Kröner, verheiratete Klemm 1919 in das Verlagsgeschäft einstieg und sich infolgedessen gegen die seines Erachtens unausweichlich mit reziproken Glaubwürdigkeitsdefiziten verbundene Doppelrolle als seriöser Verleger und provokativer Autor entscheiden zu müssen glaubte. Während jedoch Hanns-Josef Ortheil in seiner verdienstvollen, bislang einzigen Autorenmonografie (Wilhelm Klemm. Ein Lyriker der „Menschheitsdämmerung“, Stuttgart: Kröner 1979) die Meinung vertrat, Klemms Lyrikbände von „Ergriffenheit“ (1919) bis zu der schon unter dem Pseudonym Felix Brazil veröffentlichten „Satanspuppe“ (1922) belegten mit ihren jeweils abrupten Positionswechseln die sozialkulturelle Ortlosigkeit und schwindende Schöpferkraft ihres Verfassers seit dem Ende des Ersten Weltkriegs, spricht Jan Volker Röhnert (Magische Flucht am Rande des Expressionismus. Zum spurenlosen Œuvre Wilhelm Klemms. In: Akzente 53 [2006], S. 157-172) im Hinblick auf diese Texte unumwunden von Meisterwerken, die ihre Metaphern und poetischen Verfahren analog zum experimentellen Film ihrer Zeit entwickelt hätten und nur in ihrer Zyklizität adäquat zu analysieren seien.

Erkannte Ortheil also in der mangelnden Qualität der späteren Publikationen Klemms den Grund für deren Vergessen, erblickt Röhnert in ihnen höchst eigenwillige Artefakte eines ohnehin literaturgeschichtlich nicht eindeutig festlegbaren Autors, für deren Würdigung bislang kein hinreichendes Sensorium entwickelt worden sei. Klemms visionäres, referenzlose Bilder ohne symbolische oder allegorische Bedeutung assoziativ reihendes Dichtungsverständnis sei weder an die Politisierung der Literatur im Aktivismus noch an die auf Nüchternheit, Ausdruckspräzision und Realitätsbezug verpflichteten Schreibtechniken der Neuen Sachlichkeit anschließbar (gewesen).

Dass Klemms Dichtung schon in ihrer früheren, von Pfemfert betreuten Phase nicht nahtlos dem Expressionismus zugeordnet werden kann, hat auch Ortheil hervorgehoben. Die vorliegende Edition des lyrischen Gesamtwerks bietet nun die Gelegenheit, sich selbst ein Urteil über die literaturgeschichtliche Verortung und Qualität von Klemms Gedichten zu bilden. Abgedruckt werden die in Pinthus’ „Menschheitsdämmerung“ eingegangene Textauswahl, alle selbstständigen Publikationen von „Gloria! Kriegsgedichte aus dem Feld“ bis zu den „Geflammten Rändern“ und schließlich – in vier werkchronologisch gegliederten Rubriken – sämtliche verstreut publizierten Texte, sofern sie nicht in die davor präsentierten Sammelbände aufgenommen wurden. Da die Ausgabe kein Variantenverzeichnis besitzt, verdunkelt die letztere, editorisch vertretbare Einschränkung allerdings leider den von Ortheil betonten Umstand, dass Klemm bei Paralleldrucken seiner frühen Gedichte in der „Jugend“ oder im „Simplicissimus“ dem patriotischen Zeitgeschmack bisweilen einige Konzessionen machte, die er sich in den für Pfemferts „Aktion“ bestimmten Fassungen derselben Texte verkniff. Die Publikationsstrategien Klemms, die dieser nie als linientreuer Parteigänger agierende Autor – möglicherweise auch später noch – praktiziert hat, können also nicht rekonstruiert werden. Problematisch ist außerdem, dass die an sich philologisch korrekten Quellennachweise nur die abgedruckten Texte berücksichtigen: Die überwiegende Mehrzahl der Erst- beziehungsweise Einzelpublikationen von Klemms Gedichten in literarischen Zeitschriften wird somit bibliografisch nicht erfasst. Da mit einer weiteren Klemm-Edition auf absehbare Zeit nicht zu rechnen ist, wurde hier zweifellos eine Chance vergeben, für künftige Forschungen eine solide Grundlage zu schaffen.

Andererseits muss ausdrücklich hervorgehoben werden, dass sich diese Ausgabe weniger an wissenschaftliche Leser, als an ein gebildetes, bibliophiles Publikum richtet. Und in dieser Hinsicht ist sie in den höchsten Tönen zu loben. Es ist einfach eine Lust, dieses aufwändig und geschmackvoll gestaltete, in einer limitierten Auflage von 400 nummerierten Exemplaren hergestellte Buch in die Hand zu nehmen! Der Text ist durchgehend zweifarbig gedruckt. Für die Initialen, Titel der Gedichtebände, Zyklentitel im Register und Kopfzeilen wird helles Manganblau verwendet, das sich dezent von dem leicht gelb getönten Papier abhebt, ohne den lyrischen Haupttext zu dominieren. Obwohl der einladend lesefreundlich präsentierte Text mit relativ großem Durchschuss und großer Schrifttype aufwartet, kommt es trotz der mitunter längeren freirhythmischen Extemporationen Klemms selten vor, dass ein Vers in einer zweiten, eingerückten Zeile fortgeführt werden muss. Darüber hinaus wird der Textblock auf anregende, aber nie aufdringliche Weise durch 83 Zeichnungen Klemms bereichert, die meistens entweder eine menschliche Figur oder zwei bis drei Personen in Interaktion vor einer stark abstrahierten Landschaft präsentieren und skizzenhaft mit Tusche ausgeführt worden sind. Allein der seitenübergreifende, den Bandtitel „Ergriffenheit“ links flankierende Druck der zugleich spannungsreichen und geschlossenen Zwei-Figuren-Komposition ist sowohl in seiner grafischen Qualität als auch hinsichtlich seiner buchkünstlerischen Positionierung äußerst sehenswert. Verantwortlich für Satz und Gestaltung dieses im farbigen Schuber gelieferten Bandes, der mit Leineneinband, Marmorpapier im Vor- und Nachsatz und zwei unterschiedlich eingefärbten Lesebändchen ausgestattet ist, zeichnen Stephanie und Ralf de Jong.

Die Bildbeigaben, deren Provenienz leider nicht kommentiert wird, sind allerdings nicht nur aus ästhetischer oder buchgestalterischer, sondern auch aus wissenschaftlicher Perspektive als willkommene Ergänzung anzusehen. Sie sind auf der Rückseite von Klemms Manuskriptseiten entstanden und schon in diesem elementaren textgenetischen Sinn Komplementärprodukte der Gedichte. Mit ihrer partiellen Einbeziehung folgen die Herausgeber der Entscheidung Erna Kröner-Klemms, die von ihr besorgte, luxuriös ausgestattete Sammlung „Verse und Bilder“ mit Abbildungen von Bleistift- und Tuschezeichnungen Klemms zu versehen. In ihrer flüchtigen Umriss- und Ausschnitthaftigkeit entsprechen diese Zeichnungen einem bislang nicht gewürdigten, seit 1919 dominierenden Dichtungsverständnis, das mit fluidem und surreal anmutendem, assoziativ gereihtem „Traumschutt“ – so der Titel von Klemms sechstem, 1920 erschienenen Gedichteband – operiert und oftmals jede klare thematische Konturierung oder textbezogene Bündigkeit zugunsten einer Emanzipation des Einzelverses meidet: „Verse, ganz klein wie winzige Krankheitserreger, / Verse, kolossal, mit Girlanden von Sternen behängt, / Verse, die sich kreuzen wie die Gitter eines Verließes, / Verse, die sich öffnen wie goldene Tempel – // Verse, Verse, Verse in Ewigkeit“.

In einem instruktiven und lesenswerten Nachwort hat sich Röhnert auch für das spätere Werk eines Autors eingesetzt, der schon mit Oskar Loerke und Kurt Pinthus zwei kompetente Fürsprecher hatte. Wenn Röhnert zur Neuentdeckung der gesammelten Verse Wilhelm Klemms einlädt, so kann sich der Rezensent dieser Aufforderung nur vorbehaltlos anschließen.

Titelbild

Wilhelm Klemm: Gesammelte Verse. Mit Vignetten und Tuschezeichnungen von der Hand des Autors.
Herausgegeben von Imma Klemm und Jan Volker Röhnert.
Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2012.
768 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783871620775

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