Die Bernhard-Werdung Thomas Bernhards

Mit „Argumente eines Winterspaziergängers“ liegen nun zwei bisher unveröffentlichte ‚Vorstufen‘ zu „Frost“ vor

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich war glücklich mit meinem Buch, das im Frühjahr dreiundsechzig erschien zugleich mit einer seitenlangen Besprechung in der Zeit von Zuckmayer. Aber als das allgemeine Besprechungsgewitter vorbei war, ungemein heftig und vollkommen kontrovers, vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß, war ich aufeinmal am Boden zerstört und wie in eine entsetzliche hoffnungslose Grube gefallen. Ich glaubte, an dem Irrtum, Literatur sei meine Hoffnung, ersticken zu müssen. Ich wollte von der Literatur nichts mehr wissen.“ Mit diesen Worten beschreibt Thomas Bernhard in dem wohl 1980 entstandenen und 2009 aus dem Nachlass herausgegebenen Text „Meine Preise“ seine innere Befasstheit nach der Veröffentlichung seines Debütromans „Frost“ im Insel-Verlag im Mai 1963.

Derzeit, exakt ein halbes Jahrhundert später, wird dem Erstlingswerk des österreichischen Autors mit allerhand Veranstaltungen ‚gedacht‘: von Ganz- über szenische Lesungen bis hin zu Ausstellungen und interdisziplinären Festivals – Thomas Bernhard ist längst schon mehr Heimatdichter als Nestbeschmutzer, mehr Staatskünstler als Persona non grata. In Anbetracht dieses Huldigungs- und Erinnerungswahns möchte man die Frage, die jüngst als Motto in der Kunsthalle Wien zu finden war, vom Autor selbst beantwortet haben: „What Would Thomas Bernhard Do?“

Und was tat er, der sich der Öffentlichkeit vornehmlich als Lyriker präsentierte, bevor er mit seinem radikalen Prosatext „Frost“ der deutschsprachigen Literatur eine neue Stimme verlieh? Dies kann nun in dem von Raimund Fellinger, Cheflektor des Suhrkamp-Verlags, und Martin Huber, Leiter des Thomas-Bernhard-Archivs Gmunden, aus dem Nachlass publizierten ‚Vorstufen‘ zu „Frost“ in Ansätzen nachvollzogen werden. Es handelt sich bei diesen um zwei Texte: Der kürzere und jüngere der beiden, „Argumente eines Winterspaziergängers“, entstanden zwischen Mai und Juni 1962, steht am Anfang des Buches; das über 29 Seiten auch als Faksimile abgedruckte Typoskriptfragment „Leichtlebig“, entstanden zwischen Januar und Februar 1962, folgt jenem. Bereits im Kommentar zu „Frost“ (Werke 1, herausgegeben von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, 2003) findet sich der Hinweis: „Dem Roman sind ausführliche Versuche mit der großen Prosaform vorausgegangen, und Frost selbst ist keineswegs ohne Vorstufen in einem Zug entstanden.“

Das titelgebende „Argumente eines Winterspaziergängers“ ist explizit als „Auszug“ ausgewiesen und somit an sich ebenso bruchstückhaft wiedergegeben wie der auf dem Titelblatt als „Fragment zu ‚Frost‘“ charakterisierte „Leichtlebig“-Text, der als frühester Versuch des späteren Romans angesehen werden kann. Die „Argumente“, eine Art Zusammenfassung oder gar Best-of einer späteren „Frost“-Version, die sich im Nachlass des Bernhard-Freundes Gerhart Fritsch befindet, lassen Bernhards Stimme laut ertönen, ja in dieser (letzten?) Romanvorstufe ist „Frost“ im Großen und Ganzen deutlich und oftmals „wortidentisch“ vorgezeichnet. Die berühmten Bernhard’schen Incipit-Formeln wie ‚sagte er‘ oder ‚dachte er‘ sind hier allerdings noch durch drei Punkte vertreten, die dem Text eine experimentelle, grammatisch aufgesprengte, beinahe schon bewusstseinsstromähnliche Struktur verleihen, die an den inneren Monolog der Molly Bloom aus James Joyces „Ulysses“ erinnern lässt – oder an das in Bernhards Todesjahr 1989 veröffentlichte, ebenfalls aus einer „Frost“-Vorstufe destillierte „In der Höhe. Rettungsversuch, Unsinn“. Zudem – und dies mag als größter Unterschied zum letztlich publizierten Roman gelten – äußert sich im „Argumente“-Text ein namenloser Doktor, der diese Aufgabe wenig später an den Maler Strauch abtreten wird.

Ebenso namenlos ist der Doktor im gut vier Monate zuvor entstandenen „Leichtlebig“-Typoskript. Trotz typischer Bernhard-Motive und -Themen (etwa das Hinuntergehen in den Ort oder der ‚Beobachtungsauftrag‘), die quasi als Kokon auftauchen, erkennt man hier noch deutlich die Handschrift des literarischen Vorbilds Johannes Freumbichlers, Bernhards Großvater, und einhergehend damit eine formal-ästhetisch eher traditionelle, konventionelle Ausprägung (Fellinger und Huber sprechen von einem „epigonalen Stil“). So wie Leichtlebig, der im Stellwerk des Eisenbahnknotenpunkts Attnang-Puchheim arbeitende Bahnbedienstete, stellt auch Bernhard langsam, doch mit Nachdruck die Weichen seines Prosastils. Zudem kann die Umbenennung des Gasthofs von „Ettendorf“ in „Lambach“ (Typoskript-Faksimile auf Seite 110) als Zeichen der Loslösung interpretiert werden: Bernhards Großeltern Johannes Freumbichler und Anna Bernhard zogen – laut Louis Huguets vorbildlicher „Chronologie“ – 1938 nach Ettendorf, Landkreis Traunstein.

Als „Steinbruch“ für Bernhards Erstlingsroman „Frost“ sind die nun veröffentlichten ‚Trümmer‘ höchstinteressant. Gerade in ihrer engen Kontrastierung wird die Bernhard-Werdung Thomas Bernhards offenbar, wenn sich diese auch – wie die Herausgeber im Nachwort bemerken – nicht erklären lässt: „Der Bruch zwischen den Typoskripten […] und der […] Niederschrift ist nur nachvollziehbar unter der Prämisse, hier habe ein Autor […] beim Schreiben Erfahrungen gemacht, die ihm zu dem ihm eigenen Literaturverständnis verholfen haben“. Warum sich Fellinger und Huber im „Frost“-Jubiläumsjahr ausgerechnet für „Argumente eines Winterspaziergängers“ und „Leichtlebig“ entschieden haben, wo sich doch im Gmundener Archiv „20 Textträger“ unterschiedlicher Quantitäten erhalten haben, „die eindeutig diesem Komplex zuzuordnen sind“ (Kommentar zu „Frost“, TBW 1), bleibt unklar. Eines ist jedoch gewiss: Man darf sich auf neue Veröffentlichungen aus dem Nachlass Thomas Bernhards freuen. Es wäre – zumal unter dem Aspekt der „Frost“-Vorversionen – nur konsequent, wenn das mit gut 300 Seiten umfangreichste Bernhard-Typoskript „Schwarzach St. Veit“, dessen Arbeitsbeginn auf das Jahr 1957 zu datieren ist, bald erscheinen würde.

Titelbild

Thomas Bernhard: Argumente eines Winterspaziergängers. Zwei Fragmente zu Frost.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
150 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423486

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