Wenn der Soldat wieder zum Menschen werden muss

Kevin Powers Kriegsroman „Die Sonne war der ganze Himmel“ ist ein großartiges Psychogramm des amerikanischen Soldaten

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das ist er nun also, der erste Roman über den Irak-Krieg, nach zahllosen Enthüllungsbüchern und Erfahrungsberichten von Ex- oder Noch-Soldaten, von GIs, die zurückgekehrt sind aus dem Zweistromland und irgendwie verarbeiten mussten, was ihnen im Häuserkampf, auf Patrouille und in Begegnungen mit der vermeintlichen Zivilbevölkerung widerfahren war.

Der Buchmarkt in den USA ist gegenwärtig wahrhaft überschwemmt mit solchen Büchern, zuletzt war es ein hohe Wellen schlagender Tatsachenbericht eines Navy-Seals über die Ermordung Osama Bin Ladens, der Aufsehen erregte. In diesen Texten ist eigentlich alles erzählt worden: Über Männerfreundschaften unter der heißen Wüstensonne, über Waffensysteme, Panzer, Gefechte, die allgegenwärtigen Journalisten, die aus dem Nichts um die Ohren pfeifenden Kugeln der Heckenschützen, über brutale Hinrichtungen, Massaker, zivile Opfer, Angriffe aus dem Hinterhalt und das angespannte Nichtstun nach dem Einsatz.

An Klischees mangelt es keinem dieser Texte, genausowenig an soldatischer Tugend und militärischer Strenge, höchstens an stilistischer Qualität und literarischem Talent. Doch gleichwohl werden die Bücher gekauft und gelesen – was nur einen Schluss zulässt: Dieser Krieg, den die USA entgegen aller Beteuerungen, dass es anders sei, nach wie vor führen, ist längst zum Trauma geworden. Die Bilder, die uns einen Eindruck vom Kriegsgeschehen vermittelt haben, sind indes längst aus den Medien verschwunden und durch andere ersetzt worden – heute wird darüber geschrieben; es wird darüber geschrieben, um zu verstehen.

Kevin Powers hat nun nach all den Tatsachenberichten und Erinnerungen den ersten Roman vorgelegt, der sich vom ersten Satz an wohltuend von der Masse der Soldatenliteratur abhebt: „Der Krieg wollte uns im Frühling töten“. Die ungewohnte Verschränkung von ‚Tod‘ und ‚Frühling‘ markiert den Auftakt zu einer fulminanten Kriegserzählung, die zeitweise die Poesie streift. Kevin Powers, Jahrgang 1980, schrieb sich mit 17 bei der Army ein und musste 2004 als Maschinengewehrschütze in den Irak, aus dem er 2005 zurückehrte. Er absolvierte anschließend ein Literatur-Studium – bis 2012, als mit „Yellow Birds“ sein jetzt als „Die Sonne war der ganze Himmel“ übersetzter Debüt-Roman erschien. Die Reaktionen waren fulminant: Die „New York Times“ erklärte den Erstling zu einem der wichtigsten 10 Bücher des Jahres und Dave Eggers gab zu, dass es dieser Roman sei, den er Menschen mehr als jeden anderen zur Lektüre ans Herz lege. Nicht weniger frenetisch fielen die Reaktionen der deutschen und französischen Kritiker aus.

Powers’ lässt seinen stark autobiografischen Ich-Erzähler John Bartle die Geschichte seines Irak-Aufenthaltes 2004 und die Rückkehr in die Heimat 2005 erzählen, im Zentrum stehen die Kriegshandlungen in Al Tafar und die zufällige Freundschaft zu dem erst 18-jährigen Daniel Murphy, unterbrochen durch Rückblenden auf die Zeit vor der Abreise ins Kriegsgebiet. Der Krieg stellt sich dabei nicht grundlegend anders dar, als man ihn kennt: Schmutzig, grausam, männlich, amerikanisch. Frauen kommen hier nur als trauernde Mütter oder als am allgegenwärtigen Tod verzweifelnde Sanitäterinnen vor; nicht-Amerikaner wenn nicht als Feinde, dann höchstens als im Pigeon-Englisch plappernde Dolmetscher oder exotisch-düstere, in weißen Gewändern mit Bärten versehene, undurchschaubare Araber. Der Sergeant und direkte Vorgesetzte von John und Murphy ist ein cholerischer Draufgänger, der wenig redet und wenn er redet, vornehmlich flucht; alle hohen Offiziere oder Regierungsvertreter treten in gestärkten Uniformen oder schwarzen Anzügen auf, speien ein paar rhetorische Floskeln von Ehre und Vaterland aus und verschwinden wieder. Ja, all diese Stereotype, diese Reproduktion von so oft gehörtem ‚Soldatenalltag‘ scheinen den Roman in die Reihe jener oben anzitierten Soldatenliteratur zu rücken – doch Powers gelingt es sowohl sprachlich wie figurenpsychologisch, einen solchen Vergleich ad absurdum zu führen.

„Die Sonne war der ganze Himmel“ ist ein Roman über einen Krieg. Über einen sehr amerikanischen Krieg, und er ist von einem amerikanischen Soldaten geschrieben der auf Seiten der Amerikaner kämpft. Es ist diese spezielle Perspektive, die die Reihung von Stereotypen erklärt und plötzlich funktionalisiert – denn dass John Bartle niemals hinter diese Fassade kommt, ist es, was ihn schließlich zerbrechen lässt. Was sich in der Erzählhaltung nämlich spiegelt, ist nicht die Reproduktion von Klischees, sondern die Unmöglichkeit, einen gerechten Krieg erzählen zu können. Powers gelingt es, mit seiner konsequent auf John fokussierten Erzählperspektive den Krieg und das Land so zu gestalten, wie es sich dem amerikanischen Soldaten tatsächlich darstellen mag: Als eine Art dreidimensionaler Vision aus Tausendundeiner Nacht mit Einschusslöchern, Ruinen und Blutflecken auf den Straßen.

Die Sprache trägt in ihrer zeitweise überbordenden poetischen Beschreibung ihr übriges bei: Der Krieg reibt „seine tausend Rippen betend auf dem Boden“, er „zeugte und gebar“, Rauch steigt „als schwarzer, fließender Faden zum Himmel auf“, überhaupt ist jeder Himmel hier eine ganze Kaskade an Adjektiven wert. Henning Ahrens hat diesen poetischen Grundtenor des Buches wunderbar ins Deutsche übertragen und gleichzeitig die harten, kontrastreichen Gegensätze erhalten, die immer wieder durch die plötzlichen Einschläge von Mörsern und die Brutalität der Kriegshandlungen die Poesie zerreißen. Überhaupt ist die Poesie dieses Buches nicht die Poesie eines Lyrikers, sondern die eines Soldaten. Die Sprachbilder sind stellenweise abgegriffen und nicht immer originell, sie funktionieren vornehmlich über Kontrastierung (rotes Blut auf weißen Gewändern) und streifen manchmal den Kitsch. Das geschieht auch auf der inhaltlichen Ebene, wenn der Priester den offenbar bedrückten Soldaten, der sich in die Kirche zur Einkehr zurückgezogen hat, fragt, ob er für ihn beten solle – was dieser natürlich ablehnt, weil er ohnehin nicht mehr glauben kann.

Man kann das als Kitsch abtun, aber dann verfehlt man einen ganz entscheidenden Aspekt des Romans: Dass es sich hier tatsächlich um einen Entwicklungsroman, emphatisch ausgedrückt um eine Art von ‚Bildungsroman‘ handelt. Am Ende wird von den vermeintlich poetischen Sprachbildern nichts mehr übrig bleiben, am Ende wird sich die Metapher genauso aufgelöst haben wie die Körper der toten Kameraden. Am Ende wird auch von den oben aufgereihten Klischees nichts mehr übrig sein, denn dann wird John erkannt haben, dass all diese Dinge nämlich genau das sind: Rhetorik, glänzende Oberflächen und leere Versprechen. Und es sind diese Dinge, an denen John so schwer trägt und an denen er, zurück in der Heimat, verzweifelt.

„Die Sonne war der ganze Himmel“ ist daher auch kein Roman, der den Krieg poetisieren möchte und es ist kein Roman, der den Krieg neu erzählen möchte. Es ist ein Roman, der wirklich nur den einzelnen Soldaten in den Blick nimmt, der wirklich nur vorführt, wie sich für den je einzelnen eine Poesie des Krieges darstellen könnte, die niemals mit Literatur zu verwechseln ist. Denn die poetischen Beschreibungen sind wie alles hier nur der Versuch, dem einen Sinn zu verleihen, was letztlich sinnlos ist und bleibt. Sie sind, genauso wie die vermeintliche Freundschaft zu Murphy, der verzweifeltste Kampf von allen: Einem bestimmten Lebensabschnitt etwas abzuringen, eine Erkenntnis, eine Lebenserfahrung.

Wenn ich schon nicht genau weiß, warum ich in diesem Krieg kämpfe, dann nehme ich zumindest Freundschaften mit, zumindest diese überwältigenden Eindrücke der Natur, das ist der Gedanke, der dahintersteckt. Denn nur das kann die eigentliche Erkenntnis überdecken, die am Grund dieses Romans liegt: Die Funktion des Menschen. Wenn Bartle erkennt, dass sich diese Funktion tatsächlich darin erschöpft, eine Rolle innerhalb der Kriegsrhetorik zu spielen, sei es als Schütze, sei es als Dolmetscher, sei als Führer durch die Straßen der Stadt, dann wird klar, dass er, selbst wenn er diesen Krieg überleben wird, ihn kaum als ganzheitlicher Mensch überleben wird.

Über den durch einen Kopfschuss hingestreckten Dolmetscher stellt er fest: „Er hatte als Mensch nur so lange existiert, wie er in meinem Leben eine Rolle gespielt hatte“. Genau dasselbe wird ihm passieren, wenn er seine Aufgabe, Murphy zu schützen, natürlich nicht erfüllen kann. Es ist nicht die Schuld, die ihn zermalmt, sondern die Erkenntnis, dass auch die Freundschaft zu Murphy nichts anderes war, als der Versuch, aus dem Krieg etwas mitzunehmen und die Tatsache, dass Murphy für ihn als Mensch nur so lange existiert hatte, wie er diese Rolle einzunehmen vermocht hatte. Bartle resümiert: „Ich versuchte, mich an ihn zu erinnern, bis ich innerlich leer war – eine Leere, die, wie ich bald begriff, meine einzige Gewissheit bleiben sollte“.

Damit ist die traurige Grundeinsicht ausgesprochen: Nach dem Krieg wird ihm nichts mehr bleiben von der Rhetorik und der Fassade. Was ihm bleiben wird, ist er selbst, ohne eine Rolle für diesen Krieg zu spielen, und somit als Mensch ohne Funktion, was gleichzeitig im Widerspruch zu der Kriegsrhetorik steht, die ihn noch immer umgibt. Es sind diese Erkenntnis und die sprachliche und inhaltliche Wucht, die den Roman über all jene Soldatenliteratur erheben und zeigen, was der Mehrwert der Literatur sein kann. Kevin Powers hat tatsächlich einen großen Kriegsroman geschrieben.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Kevin Powers: Die Sonne war der ganze Himmel. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013.
240 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100590299

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