Von der historischen Anthropologie zur Immunitätspoetik

Hans-Jürgen Schings und Cornelia Zumbusch haben Studien zur „Weimarer Klassik“ vorgelegt

Von Ulrich KrellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Krellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit den 1990er-Jahren hat man die Rede von der „Weimarer Klassik“ zugunsten einer betont unemphatischen Periodisierung „um 1800“ abgeschwächt. Ist die Zeit reif für eine neuerliche Korrektur? Einen „normativen Begriff des Klassischen“ will die erste der hier anzuzeigenden Studien freilich nicht restituieren. Der Blick ins Inhaltsverzeichnis von Cornelia Zumbuschs Habilitationsschrift „Immunität der Klassik“ zeigt zwar, dass sie genau jene Texte untersucht, die landläufig der „Weimarer Klassik“ zugerechnet werden. Das geschieht jedoch mit dem Anspruch, „eine neue Deutungsperspektive auf die poetologischen Positionen und literarische Praxis Schillers und Goethes zu gewinnen“. Als methodisches Werkzeug für diesen Neuansatz dient das „Immunitas“-Konzept des italienischen Philosophen Roberto Esposito, der die im 18. Jahrhundert aufgekommene Impfpraxis zum Anlass nimmt, ein doppeldeutiges Paradigma der Moderne sichtbar zu machen: man kann sich nicht effektiv schützen, ohne eine kontrollierte Präventivverletzung zuzulassen.

Was leistet dieses Konzept für das Verständnis klassischer Texte? Beachtlich viel, erläutert Zumbusch. Die nicht allein literarisch-ästhetisch, sondern auch philosophie-, medizin- und sozialgeschichtlich vorzüglich informierte Untersuchung legt luzide und sachlich zugleich dar, wie die philosophischen Ärzte und Ästhetiker des 18. Jahrhunderts, der konstitutionell herausgeforderte (und deshalb sublimitätsaffine) Friedrich Schiller und der diätetisch besorgte Johann Wolfgang Goethe das Konzept der Immunitas ins Werk setzen.

Ein argumentationstheoretisch wichtiger Bezugspunkt des Buches ist darüber hinaus Albrecht Koschorkes Grundlagenarbeit zur „Mediologie des 18. Jahrhunderts“, die anhand medizinischer, popularphilosophischer und ästhetischer Schriften gezeigt hatte, wie in der Aufklärungszeit der (vormoderne) humorale Leib zum (modernen) nervösen Körper diskursiv umgearbeitet wird. Während Koschorke jedoch die radikale Umwälzung des kulturellen Systems an der Schwelle zur Moderne vorrangig an nicht-literarischen Texten exemplifiziert hatte (was manche, um den Kanon besorgte Literaturwissenschaftler ihm übel genommen haben), rückt Zumbusch die ästhetisch starken Texte der ‚Klassiker‘ in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung. Die Ergebnisse sind gleichermaßen überzeugend.

Im ersten Kapitel mustert die Verfasserin die medizinische, moralphilosophische und ästhetische Literatur der Zeit und erörtert die immunologischen Voraussetzungen der Debatte. Eine zwischen Stoizismus und Empfindsamkeit schwankende Affektkultur prägte demnach das 18. Jahrhundert, an dessen Ende – aus medizinischer Sicht – die humoralpathologische „Vorstellung vom endogenen Gärungsprozeß der Pockenkrankheit als Aberglaube entlarvt“ ist. Damit einher geht eine Neubewertung von innersystemischen Abwehrprozessen aller Art: „Kommunikationsbereitschaft und Sensibilität werden zu Eigenschaften, die das Individuum für Krankheiten disponieren, während die Immunität zum wünschenswerten Zustand der Unempfindlichkeit und Unangreifbarkeit aufgestiegen ist.“ Dem entspricht auf kunsttheoretischem Gebiet die Ablösung von Shaftsburys mehrwertigem „infektiösen Enthusiasmus“ durch Kants auf interesseloses Wohlgefallen gegründete „Ästhetik der Immunisierung“, der auch die „zwischen rigider Reinlichkeit und wohldosierter Kontamination“ schwankenden Kunstkonzepte von Johann Joachim Winckelmann und Karl Philipp Moritz verpflichtet sind.

Kapitel zwei wendet sich zunächst Schillers Ästhetik zu, von der man seit längerem weiß, dass sie nicht dem „Bild des harmonisierenden Idealisten“ früherer Wahrnehmungstradition entspricht. Zumbusch weist überzeugend nach, dass Schillers Theorie des Erhabenen bis in die Dissertation des Einundzwanzigjährigen über das „Faulfieber“ zurückverfolgt werden kann. Im „Rückgriff auf stoische Selbsttechniken“ habe Schiller daran gearbeitet, eine „Freiheit im Schmerz“ zu behaupten, die beispielsweise in der „Deutung des sterbenden Laokoon als einer moralischen Person“, oder in der „paradoxen Ausschaltung des Sinnlichen im Schönen“ sichtbar werde. Auch dem Aufsatz „Über naive und sentimentalische Dichtung“ weiß die Interpretin eine immunologische Dimension abzulesen, insofern die von Schiller antizipierte Verbindung mit Goethe den jeweils anderen „vor seinen konstitutiven Schwächen […] schütz[en]“ und einer „wechselseitigen Stärkung“ der Bündnispartner den Weg bereiten sollte.

Schwieriger hingegen gestalten sich die Bemühungen, den vorklassischen „Don Karlos“ in das Untersuchungsparadigma einzupassen, was daran ablesbar ist, dass die Figur von Schillers im Zuge der Überarbeitung des Dramas ausgewechseltem Haupthelden in der Interpretation Zumbuschs erst über den Umweg der „Philosophischen Briefe“ entschlüsselbar wird. Die auch im Kapiteltitel exponierte „künstliche Beschleunigung von Verläufen“ hätte auf geraderem Weg möglicherweise anhand der Zeitregie im „Wallenstein“ nachgewiesen werden können. Sehr überzeugend wirkt dann aber die Deutung der „Johanna von Orleans“ als immune Figur, deren Teilnahmslosigkeit sie zu einem „Fremdkörper im sozialen Gefüge“ macht, während ihre makellose Reinheit vor allem deshalb „als versöhnendes Opfer fungieren [kann], weil sie unschuldig ist“.

Irritationen hat seit jeher Schillers Versuch einer Revitalisierung des antiken Chores im Drama „Die Braut von Messina“ hervorgerufen. Für Zumbusch hat diese scheinbar ahistorische Konzeption jedoch einen ganz konkreten Sinn: „Der Chor steht im Dienst eines Autonomieprogrammes, in dem die Freiheit der Kunst als hygienische Abschottung gegen äußere Einflüsse imaginiert wird.“ Schillers Antikenprojekt setzt ihrer Ansicht nach deshalb auch „keine infektiöse Rührungslogik in Szene, sondern leitet zur Einübung in die Affektfreiheit an“.

Im dritten Kapitel des Buches wendet die Verfasserin das doppeldeutige Paradigma der Immunitätspoetik auf die Texte des klassischen Goethe an, von dem sie zu berichten weiß, dass er als Politiker ein Anhänger der staatlichen Impfpflicht war. Anhand der nachitalienischen Merkur-Abhandlungen und der programmatischen Schriften aus der Propyläen-Zeit wird im ersten Unterkapitel gezeigt, dass Goethes „Klassisch-Werden in einem affektökonomischen Rahmen“ stattfand. Überzeugend wirkt auch die These, dass die in Germanistenkreisen oft nur als Goethes „Privatreligion“ oder „partielle Psychose“ geduldete „Geschichte der Farbenlehre“ „von Widerstandsbildungen und Abwehrreaktionen erzählt“ und damit einen konstitutiven Bestandteil des klassisch-immunologischen Projekts bildet.

Unter den klassischen Werken Goethes selbst sind zunächst die „Lehrjahre“ für Zumbusch interessant, weil Wilhelm Meisters Zusammentreffen mit Natalie auf eine „ebenso verletzende wie heilsame Begegnung“ hinausläuft, die exakt der Impflogik ihres Untersuchungsansatzes folgt. Als „Schutzerzählungen“ werden hingegen die „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ lesbar, in denen „Kontakt und Kontagiosität […] ein auffälliges Motiv [bilden]“, das „als Gesetz der Kontiguität auch den Erzählverlauf [regelt]“. Mit ihrer Interpretation des „Märchens“, Goethes vielleicht enigmatischstem Text, gelingt Zumbusch eine auch hermeneutisch schlüssige Deutung, die die Ergiebigkeit ihrer Untersuchungsprämissen in philologischer Hinsicht bestätigt. Im letzten Abschnitt wendet sie sich schließlich den „Wahlverwandtschaften“ zu, die sich als eine wahre Fundgrube für immunologische Beobachtungen erweisen. Erzählt doch bereits deren erster Satz vom „Aufpfropfen“, während das Ende des Romans auf eine „ironische Apotheose der Reinlichkeit“ hinausläuft.

Zwar soll nicht verschwiegen werden, dass die gedankliche Beweglichkeit, mit der Zumbusch die These der „immunen Klassik“ anhand eines souverän beherrschten Textkorpus entfaltet, auch dem Leser einige Konzentration abverlangt. Der Aufwand lohnt sich jedoch nicht zuletzt deshalb, weil die einlässlichen Analysen der Verfasserin dem Begriff der „Klassik“ eine neue „Reinheit“ als ästhetisch zukunftsweisendes Konzept abgewonnen haben.

Die ästhetische Avanciertheit und Modernität der Klassik stand für den emeritierten Berliner Germanisten Hans-Jürgen Schings nie in Frage. Seine unter dem Titel „Zustimmung zur Welt“ veröffentlichten Goethe-Studien versammeln neunzehn Aufsätze aus dreißig Jahren wissenschaftlicher Arbeit, in denen sich der Verfasser mit zunehmender Intensität dem Werk und der Person Goethes verschrieben hat. Die Basis der Beschäftigung bildet ein ideengeschichtlich-hermeneutisches Erkenntnisinteresse, das im Verfahren der historischen Anthropologie seine Arbeitsgrundlage hat und die in sorgfältiger philologischer Arbeit gewonnenen Ergebnisse souverän in die Forschungslandschaft einzubetten weiß. Dementsprechend gestaltet sich die Gliederung des Buches, die auch weitgehend der chronologischen Abfolge der Forschungsarbeit des Verfassers entspricht.

Im ersten Komplex geht Schings der „Genealogie des Bildungsromans“ nach, der im aufklärungsbeflügelten 18. Jahrhundert eine Entwicklung vom vor-anthropologischen „deutschen Staatsroman“ zu den anthropologischen Romanen „für den denkenden Kopf“ von Wieland und Jean Paul durchmachte. Mit dem Schwinden metaphysischer Gewissheiten eröffnet sich am Ende des 18. Jahrhunderts ein Raum, den die von der „Krankheit des modernen sentimentalischen Subjekts“ befallenen Figuren des „Agathon“, des „Anton Reiser“ und des „Wilhelm Meister“ bevölkern, deren Problematik Schings als „Pathogenese des modernen Subjekts“ begreift.

Damit ist die Untersuchung bei dem Text angelangt, auf dessen anthropologische Zentralstellung im Werk Goethes die vorliegenden Studien in immer neuen Anläufen zurückkommen. Die Abhandlungen des zweiten Teils wenden sich explizit dem „Wilhelm Meister“ zu, wobei der eindeutige Schwerpunkt auf den „Lehrjahren“ liegt, während die in der Forschung jüngeren Datums privilegierten „Wanderjahre“ weniger Beachtung finden. In den Fokus rückt dabei zunächst Wilhelm Meisters Begegnung mit Natalie, die als „organisierende Mitte“ des Werkes verstanden und auf ihre Antezedentien und Nebenmotive hin untersucht wird. Die rätselhafte Vollkommenheit von Wilhelms „schöner Amazone“ bildet im zweiten Beitrag den Anlass, Goethes Spinoza-Rezeption nachzuzeichnen, die den Entwurf dieser Figur maßgeblich mitbestimmte. Zwei weitere Artikel widmen sich der in die Figur des Laertes eingegangenen Auseinandersetzung mit Karl Philipp Moritz und den Spuren, die Goethes zeitweilige Mitgliedschaft im Geheimbund der Illuminaten in Gestalt der Turmgesellschaft im Roman hinterlassen hat.

Der dritte Teil des Buches bündelt unter der Überschrift „Klassisch und modern“ eine Reihe von in den 1990er-Jahren entstandene Einzelstudien. Goethes Reserve gegenüber den „Sublimitäts-Potentiale[n] seiner Zeit“ kommt dabei zur Sprache, das „Prometheus“-Gedicht wird einer vergleichenden Analyse unterzogen, die ihm „als aufgeklärte Kontrafaktur der alten Gewitterlieder und -gebete“ einen neuen Sinn beimisst, und Goethes eigentümliches Religionsverständnis erfährt eine konzise, zuerst im Goethe-Handbuch veröffentlichte Würdigung. Weitere Aufsätze folgen erneut den Spuren von Spinoza, den Goethe „rückhaltlos als seinen philosophischen Heiligen verehrt“ habe und rekonstruieren die „Wahlverwandtschaften“ als „klassische Kritik der Romantik“, die „die dunkle Ottilie an die Stelle der hellen Natalie rückt“. Goethes nicht selten in Zweifel gezogenen Realismus verteidigt Schings unter Verweis auf eine „philosophisch-erkenntnistheoretische Bedeutung des Begriffs“, der vor allem die „Wanderjahre“Rechnung trügen. Außerdem enthält der Band auch einen – erst kürzlich im Goethe-Jahrbuch erschienenen – Aufsatz über Goethes Ablehnung der Französischen Revolution, die über die bekannten expliziten Kommentare hinaus auch in einem versteckten Porträt der ermordeten Madame de Lamballe im Schauspiel „Die natürliche Tochter“ sichtbar werde. Diese Deutung hat Schings kürzlich in seiner Monografie „Revolutionsetüden“ weiter verfolgt.

Der vierte und letzte Themenbereich des Buches ist Goethes „Faust“ gewidmet, den Schings in vier Artikeln als Chiffre für das „Unglück des modernen Charakters“ verstanden wissen will. In einem ersten Schritt wird „Fausts Verzweiflung“ zunächst unter Verweis auf eine wenig beachtet gebliebene Quelle als „Mißtrauen gegen GOTT“ gedeutet. Erst vor dem Hintergrund der theologischen Faust-Tradition werde deutlich, „mit welcher Konsequenz Faust dem Teufel zugeführt wird – nicht als Wissenschafts- und Erkenntnis-Titan, sondern als Verzweifelter“. Der kalkulierten Widersprüchlichkeit der Faust-Figur trägt der zweite Beitrag Rechnung, denn Goethes problematischer Held erscheint – so Schings unter Verweis auf Dante und Byron – im zweiten Teil auch als „Anwalt von Goethes Natur- und Lebensphilosophie“. Eine weitere Kontextualisierung nimmt der folgende Artikel vor und stellt Faust in eine Reihe mit jenen „Magiern der Moderne“ Cagliostro und Saint-Simon, deren fragwürdiger Utopismus eine zeitgenössische Begleiterscheinung der Niederschrift des zweiten Teils des Dramas war. Im Schlussbeitrag diskutiert Schings den äußeren Rahmen von Goethes Vermächtniswerk, insofern der „Faust“ ein „Welttheater im Augenblick der Revolte“ inszeniert und dem Helden einen „aufwendigen Weg zum ‚Schöpfungs Genuß‘“ zumutet.

Betrachtet man das Buch im ganzen, seine wiederkehrenden Motive und die auf den „Faust“ zulaufende Entwicklungsrichtung der Argumentation, bemerkt man eine verblüffende Folgerichtigkeit und Konsequenz, die in diesem – erkennbar als Bilanz des eigenen Forscherlebens angelegten – Sammelband Regie geführt hat. Deutlich wird dabei aber zugleich – vielleicht nicht ganz im Sinne des Buches –, dass Goethes „Lebenskunst“ ihre „Zustimmung zur Welt“ am Ende seines eigenen Lebens nicht mehr als Bejahung zu artikulieren vermochte, sondern durch einen „Bankrotteur der Moderne“ anschaulich gemacht hat, der nur durch einen deus ex machina zu retten war. Die Studien bestechen allesamt durch philologische Akkuratesse, historische Detailkenntnis und phrasenfreie stilistische Eleganz. Bliebe als kleiner Einwand lediglich anzumerken, dass dem bibliophil aufgemachten Band auch ein Register gut angestanden hätte.

Eine direkte Gegenüberstellung der hier besprochenen Bücher ist aufgrund der unvergleichbaren Interpretationsprämissen und Erkenntnisinteressen nicht möglich. Unübersehbar ist jedoch, dass beide Bücher in einem Kontinuum der Forschung stehen – nicht von ungefähr ist Schings einer der meistzitierten Germanisten in Zumbuschs Arbeit.

Während ihre Habilitation auch erkennen lässt, was der Anspruch an das kulturwissenschaftliche Theoriedesign heutigen Germanisten abverlangt, operieren die Analysen von Schings auf der Basis eines Textvertrauens, das ohne alle theoretischen Aufschwünge auskommt – sie ziehen allenfalls einen skeptischen Kommentar über „die Furcht der Theorie vor dem poetischen Text“ auf sich. Insofern erscheint es auch konsequent, dass die Sekundärliteratur jüngeren Datums in dieser Arbeit unberücksichtigt blieb. „Nachträglich den neuesten Stand der Forschung nachzuholen, erschien mir weder möglich noch wünschenswert.“ Wünschenswert wäre es gleichwohl, wenn der beiden Arbeiten gemeinsame Impuls einer Zustimmung zur Klassik in der zukünftigen Forschung zur Kenntnis genommen würde.

Titelbild

Cornelia Zumbusch: Die Immunität der Klassik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
372 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783518296141

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Hans-Jürgen Schings: Zustimmung zur Welt. Goethe-Studien.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011.
455 Seiten, 60,00 EUR.
ISBN-13: 9783826046636

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