Nie mehr so rein und so dumm sein wie weißes Papier

Sandro Zanetti hat 20 Artikel zur Kulturgeschichte des Schreibens herausgegeben

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Schrift nicht einfach ein neutrales Medium ist, mit dem der Autor einen festgelegten Sinn in das Hirn seiner Leser transportiert, ist keine neue Erkenntnis mehr. Schrift, so Sandro Zanetti in der Einleitung zu seiner neuen Anthologie „Schreiben als Kulturtechnik“, ist erst einmal von kulturellen Parametern geprägt – von der Hardware wie Schreibgeräten bis hin zur Software wie Zeichensystemen, dem Grad der Alphabetisierung und der Funktion der Schrift, die in alten mesopotamischen Gesellschaften oder dem mittelalterlichen Europa natürlich eine andere war als im Zeitalter der digitalen Kommunikation. Durch diese Faktoren werden soziale Rollen wie Autor, Kommentator, Philologe, Verleger, Bibliothekar vorgeprägt und jeweils von den Individuen ausgefüllt. Aber der Einfluss verläuft nicht nur in einer Richtung – ebenso wirkt Schrift, als Speicher des Wissens oder als Träger eines Kunstwerkes, auf die Gesellschaft zurück.

Etwa seit den 1950er-Jahren besteht ein verstärktes Interesse an diesen Fragen, und zwar über disziplinäre Grenzen hinweg. In der Anthologie „Schreiben als Kulturtechnik“ versammelt der Zürcher Literaturwissenschaftler Sandro Zanetti zwanzig Beiträge zur Diskussion. Dabei fällt auf, dass das Thema der Schrift quer zu den etablierten disziplinären Grenzen verhandelt wird – Linguisten beteiligen sich ebenso wie Anthropologen, Schriftsteller ebenso wie Naturwissenschaftler und natürlich Philologen. Um dem Thema eine Struktur zu geben, hat Zanetti sich für eine Einteilung in fünf Themengebiete mit jeweils vier Aufsätzen entschieden. Alle sind bereits veröffentlicht, und tatsächlich geht es in „Schreiben als Kulturtechnik“ nicht so sehr darum, wirklich neue Erkenntnisse zu gewinnen, als eben Stationen der Debatte zu dokumentieren. Neue Impulse für deutschsprachige Leser kommen aber dadurch zustande, dass nicht alle Beiträge bisher auch in deutscher Übersetzung zugänglich waren.

Den Anfang machen „ethno- und historiographische Lektionen“, die den für uns selbstverständlichen Gebrauch des Schreibens in die Distanz rücken, indem sie ihn mit den Praktiken vergangener und fremder Kulturen konfrontieren. Den Anfang macht interessanterweise ein Ausschnitt aus Claude Lévi-Strauss „Traurigen Tropen“, in dem er über den Gebrauch und die Abwesenheit von Schrift in „primitiven“ Kulturen reflektiert. Das geschieht anhand eines Häuptlings, der begreift, dass es der Gebrauch der Schrift ist, der seinem weißen Gegenüber besondere Macht verleiht und dessen Techniken nun imitiert, indem er Schlangenlinien auf das weiße Papier malt. Michel Foucault setzt die Reihe mit einem Aufsatz aus dem Umfeld von „Sexualität und Wahrheit“ fort, der Freiburger Germanist Heinrich Bosse beschreibt die Reformen des Schreibenlernens im Schulwesen um 1800, und der verstorbene Friedrich Kittler reflektiert über den Zusammenhang zwischen Schreiben und Wahn in Rilkes „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ im Umfeld der Einführung des „freien“ Schulaufsatzes um 1900.

Der zweite Teil befasst sich mit dem materiellen Prozess des literarischen Schreibens selbst, den die aus Frankreich kommende critique génétique in der Edition sichtbar machen will. Louis Hay und Almuth Grésillon beschäftigen sich mit der Frage, welche Materialien überhaupt zum Schreibprozess gehören und was nicht mehr, wie (und ob) man diesen Prozess überhaupt abbilden kann. Gerhard Neumann und Wolfram Groddeck ergänzen diese stärker theoretischen Ausführungen, indem sie an Beispielen von Franz Kafka und Friedrich Nietzsche zeigen, wie sich die Methode der critique génétique für die Analyse der überlieferten Archivalien und vor allem in deren Edition fruchtbar machen lassen.

Der dritte Abschnitt mit Beiträgen von Maurice Blanchot, Roland Barthes, Hayden White und Vilém Flusser lotet den Zusammenhang zwischen Schreiben, Körper und Subjektivität aus. Obwohl auch diese vier Aufsätze lesenswert sind, bleibt dies der blasseste Teil des Buches, vermutlich, weil sich der dreidimensionale Körper nicht ohne Weiteres in zweidimensionale Schrift übersetzen lässt, und die Überlegungen dazu ohne ein konkretes theoretisches Modell beliebig zu werden drohen.

Diese Schwierigkeit versucht Rüdiger Campe mit seinem Artikel „Die Schreibszene, Schreiben“ zu umgehen, der den vierten Teil eröffnet. Unter diesem Titel versucht Campe Körper, den kreativen Vorgang der Textproduktion und die Materialität des Schreibwerkzeuges in einem gemeinsamen Rahmen zu fassen. Wie brauchbar dieser Ansatz ist, zeigen die nächsten Beiträge von Martin Stingelin und Davide Giuriato, die an Campes Idee anknüpfen und sie auf konkrete literarische Texte anwenden. Gerade Stingelin zeigt an den Beispielen Lichtenberg und Nietzsche, wie sich körperliche Verfassung und konkrete Schreibmaterialien sich auf die Textgenese auswirken – und dies von beiden Autoren auch mitreflektiert wird. Der Titel von Stingelins Beitrag bringt das sehr schön auf den Punkt: „UNSER SCHREIBZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDANKEN“.

Das ist ein Nietzsche-Zitat, und die Majuskeln stehen so im Original, denn Nietzsche ist einer der ersten Autoren, die in den 1880er-Jahren mit der Schreibmaschine schreiben – und das von ihm benutzte Modell kennt noch keine Kleinbuchstaben. Fortgesetzt wird die Reihe durch einen Beitrag über das Schreiben im Zeitalter des Internets von Jay D. Bolter, einen der hier erstmals auf Deutsch erscheinenden Texte. Das ist einerseits folgerichtig als thematische Fortsetzung der Arbeiten von Stingelin und Giuriato, und viele grundlegende Aspekte des digitalen Schreibens werden abgedeckt. Andererseits hätte man sich einen neueren Aufsatz zum Thema gewünscht – dieser ist von 1997 und völlig überholt, wie Zanetti in der Einleitung selbst einräumt.

Das merkt man nicht nur daran, dass die Auswirkungen des Web 2.0 fehlen (und natürlich fehlen müssen), sondern auch an Bolters euphorischem Lob der Hypertextualität – dabei ist die Hypertextdebatte heute in den Literaturwissenschaften mausetot. Zum einen wohl, weil hypertextuelle Vernetzung für uns als Web-Benutzer längst eine Selbstverständlichkeit geworden ist, zum anderen, weil sie in der Regel für andere als literarische Texte benutzt wird. Eine hypertextuelle poetische Literatur, die an das Medium des Computers gebunden wäre und ein breiteres Publikum erreichen würde, scheint es bis heute nicht zu geben. Gerade angesichts des derzeitigen Aufschwungs der Digital Humanities hätte man sich hier mehr Aktualität gewünscht statt nur ein paar Fußnoten in der Einleitung, die auf neuere Entwicklungen verweisen.

Im fünften und letzten Abschnitt schließlich versammelt Zanetti Beiträge zum Zusammenhang zwischen dem Prozess des Schreibens und der Generierung von Wissen. Hier liegen die Beiträge – drei von ihnen Erstveröffentlichungen im Deutschen – thematisch zwar weit auseinander, sind aber besonders lesenswert. Der Anthropologe Jack Goody befasst sich mit der Struktur und dem Wert von Listen insbesondere in frühen mesopotamischen Hochkulturen, Carl Bereiter mit den verschiedenen Arten des Schreibens im Lauf der kindlichen Entwicklung, und Frederick L. Holmes und Hans-Jörg Rheinberger schließlich mit der Funktion des Schreibens als Teil der naturwissenschaftlichen Wissenschaftspraxis. Insbesondere Holmes zeigt, wie sehr das Schreiben eines Fachtextes nicht einfach vorher existentes Fachwissen abbildet, sondern als Teil eines Denkprozesses dieses Wissen selbst erst mit hervorbringt.

Experten werden sich streiten, ob Zanetti wirklich immer die entscheidenden Stationen der Diskussionen ausgewählt hat. Aber seine Zusammenstellung ist sinnvoll und hervorragend ediert, und man freut sich wieder einmal darüber, wie elegant Foucault schreiben kann, oder über die polemische Verve in Kittlers Ausführungen. Die vier erstmals übersetzten Beiträge können sogar neue Impulse für die Diskussion im deutschen Sprachraum liefern. Auch die thematische Gliederung ist hilfreich, weil das Thema Schreiben und Kultur „ein weites Feld“ ist (und gar nicht so weit vom Sinn dieser Phrase bei Fontane), das von Zanetti aber sinnvoll gebündelt wird. Besonders gelungen an der Auswahl ist, dass sie die Verbindungen zwischen den Aufsätzen sichtbar macht, sie in den Dialog miteinander treten lässt. Gerhard Neumann bezieht sich zurück auf den anthropologischen Strukturalismus von Lévi-Strauss, Hayden White entwickelt seine Gedanken aus den Überlegungen von Barthes, die wiederum von Campe erneut aufgegriffen werden – und was liest sich anregender als der Dialog zwischen anregenden Gedanken?

Titelbild

Sandro Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
473 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518296370

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