Das Ende der Missachtung

Karl Müller stellt „neue Forschung“ über Stefan Zweig vor

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine der besten Darstellungen über die Unberechenbarkeiten und Unwägbarkeiten der Stefan Zweig-Rezeption stammt von Horst Thomé: „Das Bild, das die Wissenschaft von einer Epoche der Literatur entwirft, entfernt sich nicht selten von deren Einverständnis. Wenn zumindest die deutsche Germanistik die Erzählliteratur der Zwischenkriegszeit darstellt, so bilden Broch, Döblin, Kafka, Musil oder Thomas Mann einen Mittelpunkt, um den herum alle anderen Werke und Autoren gruppiert werden, während die Zeitgenossen wohl eher Lion Feuchtwanger, Thomas Mann, Jakob Wassermann, Franz Werfel oder Stefan Zweig als repräsentative Autoren genannt hätten. Besonders Stefan Zweig gehörte zu den berühmtesten und weltweit erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren, seine Bücher finden auch heute noch […] ihre nichtprofessionellen Leser, gleichwohl hat ihn die Literaturwissenschaft weitgehend vernachlässigt.“

Als mögliche Gründe für diese „Marginalisierung“ von Stefan Zweig in der Literaturwissenschaft nennt Thomé die Weigerung dieses Autors, anders als die oben genannten Kollegen der ersten Gruppe „neue Formen des Erzählens“ und „Innovationen bei den literarischen Verfahren“ zu entwickeln, seine Texte mit „exzessiven ‚philosophischen‘ Erörterungen“ zu „befrachten“ sowie die Tatsache, dass sich seine Werke „nicht in die Geschichtskonstruktionen und -spekulationen fügen, die die Germanistik in bewusster oder meist eher unterschwelliger Anlehnung an Hegel seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert zu betreiben geneigt ist.“

Umso erfreulicher ist es, dass in den letzten Jahren die Stefan Zweig-Forschung ,in Gang gekommen‘ ist und sich langsam sogar eine Renaissance dieses Autors abzeichnet. Dokumentiert wird diese positive Entwicklung etwa durch hervorragende Publikationen wie „Stefan Zweig Reconsidered. New Perspectives on his Literary and Biographical Writings“, hg. von Mark H. Gelber (Tübingen 2007) oder „Stefan Zweig und Europa“, hg. von Mark H. Gelber und Anna-Dorothea Ludewig (Hildesheim, Zürich, New York 2011). Auch die Zweig-Biografie von Oliver Matuschek „Stefan Zweig. Drei Leben – eine Biographie“ (Frankfurt 2006), die von Klemens Renoldner gerade herausgegebene Textsammlung „Stefan Zweig: ,Ich habe das Bedürfnis nach Freunden‘. Erzählungen, Essays und unbekannte Texte“ (Wien, Graz, Klagenfurt 2013) sowie die neulich von Madeleine Rietra und Rainer Joachim Siegel edierte Korrespondenz zwischen Stefan Zweig und Joseph Roth „Jede Freundschaft mit mir ist verderblich“. Joseph Roth und Stefan Zweig Briefwechsel 1927-1938 (Göttingen 2011) spiegeln das gesteigerte Interesse an diesem Autor wider.

Einen wichtigen und wertvollen Beitrag zur Erforschung von Leben und Werk von Stefan Zweig leistet auch der von Karl Müller herausgegebene und 2012 im Würzburger Verlag Königshausen & Neumann erschienene Sammelband „Stefan Zweig – Neue Forschung“. Entstanden ist das Buch aus einer Vortragsreihe am Stefan Zweig Centre der Universität Salzburg und aus der Tagung „Stefan Zweig und die Musik“, die im November 2008 in Garmisch-Partenkirchen stattgefunden hat.

Der Band enthält neun Beiträge und umfasst ein recht breites Spektrum an Themen – über Zweigs biografisches Erzählen (Daniela Strigl), über Zweigs Auseinandersetzung mit dem Alten Österreich und dem Ersten Weltkrieg (Bettina Paur, Iris Himmlmayr, Birgit Peter), über das komplizierte Verhältnis zwischen Stefan Zweig und Sigmund Freud (Jasmin Sohnemann) sowie drei Beiträge über Zweigs Beziehung zur Musik (Gernot Gruber, Hildemar Holl und Joachim Brügge). Zusammenfassungen der Beiträge und biografische Angaben über die Autoren liefern weitere wichtige Anhaltspunkte.

Einen Höhepunkt bildet im Band Stephan Reschs Aufsatz „Umwege auf dem Weg zum Frieden: Die Korrespondenz zwischen Stefan Zweig und Alfred H. Fried“, der nicht nur eine sehr gute Analyse von Stefan Zweigs Pazifismus, sondern auch eine Gegenüberstellung von Frieds auf Vernunft gegründetem, ursächlich-wissenschaftlichem Pazifismus mit Zweigs auf „Gemeinschaftsgefühl“ basierendem Pazifismus bietet. Um „ein detailliertes Bild von Stefan Zweigs pazifistischem Engagement in der Schweiz und während der ersten Jahre in Salzburg“ zu unterbreiten, hat Resch zum ersten Mal die Korrespondenz zwischen Stefan Zweig und Alfred H. Fried, zwischen dem „Friedensfried“ und dem „Friedenszweig“, abgedruckt – 21 Briefe und mehrere Postkarten aus dem Zeitraum 09.01.1918- 18.12.1920 sowie einige Aufsätze beziehungsweise Repliken Frieds und Zweigs aus denselben Jahren. Letztere Edition ist – wie der Herausgeber Karl Müller zu Recht betont – „ein außergewöhnliches Ereignis“.

Bei aller Fülle an neuen Informationen und Vielfalt der Blickwinkel darf man folgende Kritik am vorliegenden Band äußern: Erstens wäre ein längeres, fundiertes Vorwort nötig gewesen. Das jetzige, sehr knappe Vorwort des Herausgebers Karl Müller informiert hauptsächlich über die ‚Rahmenbedingungen‘, unter denen die einzelnen Beiträge entstanden sind, anstatt beispielsweise das Prädikat „Neue Forschung“ aus dem Titel genauer zu begründen. In der vorliegenden Form beschränkt sich der Herausgeber diesbezüglich auf die Erklärung, dass sich die Beiträge „mit einigen in der bisherigen Forschung nicht unumstrittenen Aspekten von Leben und Werk Zweigs“ beschäftigen, um „innovative Blicke darauf zu werfen“. Eine Skizze des vorherigen Forschungsstandes, über den dieser Band als „neue Forschung“ hinausgeht, wäre sowohl hilfreich als auch unabdingbar gewesen.

Zweitens ist die Qualität der Aufsätze nicht gleichmäßig – man ist geneigt, diesen Umstand auf den vom Herausgeber hervorgehobenen, an sich aber nicht unbedenklichen Unterschied zwischen „renommierten Wissenschaftlern/Wissenschaftlerinnen“ und „Nachwuchsforschern/Nachwuchsforscherinnen“ zurückzuführen. So sind die Beiträge, die sich mit Zweigs politischer Einstellung während des Ersten Weltkrieges auseinandersetzen, von ihrer Intention her zwar kritisch, stellen sie sich doch zum Ziel, Zweigs Ambivalenz und Widersprüchlichkeit zu entlarven, von ihrem Ton her aber stellenweise zu zögerlich und widersprüchlich. Als Beispiel für diese Haltung kann insbesondere Birgit Peters Analyse von Hannah Arendts „irritierender“ Polemik gegen Stefan Zweig gelten, die über Hannah Arendt kaum hinausgeht und Arendts auf weiten Strecken unbegründeter und ungerechter Verurteilung Zweigs auf einer schmaleren Basis letztendlich doch wieder beipflichtet.

Ein weiteres Beispiel: Iris Himmlmayrs Kritik an Zweig in ihrem Aufsatz „Stefan Zweig, das Alte Österreich und der Erste Weltkrieg“. Für Himmlmayr ist Zweigs Roman „Ungeduld des Herzens“ lediglich „eine interessante Studie über wahres und falsches Mitleid und die Effekte von Leiden, Liebe und Lahmheit auf die Psyche einer Kindfrau“. Nur halblaut konzediert sie dann doch, dass der Text auch als eine indirekte Kritik an den verkrusteten Strukturen des Habsburger Reichs und als Warnung vor dem Kriege gelesen werden kann, womit sie ihrer eigenen Kritik an Zweig die Spitze nimmt. Zudem zieht Himmlmayr in ihrer Analyse unzulässige, „charakterliche Parallelen zwischen Hofmiller [dem Protagonisten des Romans „Ungeduld des Herzens“] mit seiner „Unentschlossenheit“ und seinem „Fluchtreflex“ und Stefan Zweig, um Stefan Zweig einer ‚falschen‘ politischen Haltung zu überführen. Positiv dagegen nimmt sich in dieser Beziehung Jasmin Sohnemanns Beitrag über Stefan Zweig und Freud aus, in dem die Autorin das seit Johannes Cremerius etablierte Verdikt von der „heroischen Identifizierung“ Zweigs mit Freud zu widerlegen versucht.

Drittens – und das ist noch wichtiger als die ersten zwei Kritikpunkte – stellt sich die Frage, ob es genügt, Beiträge aus zwei verschiedenen Vortragsreihen in einem Band zusammenzubringen und unter dem nicht besonders aussagekräftigen Titel „Neue Forschung“ nur im Vertrauen auf die verbindende Kraft eines solchen Titels zusammenzufassen. Das ‚verbindende‘ Element zwischen zwei auf den ersten Blick so weit auseinanderliegenden Themenkomplexen wie „Zweig und der Erste Weltkrieg“ und „Zweig und die Musik“ liegt in Zweigs Werken selbst begründet und hätte mühelos aufgegriffen und eingesetzt werden können: Zweig wollte die Kriegsgeschichte durch eine Bildungs- und Kulturgeschichte ersetzen und betrachtete außerdem die Musik als ,Einheitssprache‘, aus deren Geiste eine neue Geschichte und eine neue Politik des Humanismus und der Verbrüderung zwischen den Menschen entstehen können.

Kein organisch gewachsenes Buch aus einem Guss also, aber dennoch eins, aus dem sich das vielschichtige und faszinierende, wenn auch widersprüchliche Bild des Schöpfers und Visionärs Stefan Zweig deutlich herauskristallisiert.

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Karl Müller (Hg.): Stefan Zweig. Neue Forschung.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
225 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826050909

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