Vom Mississippi an die Saale

Olivia Viewegs Comicadaption von Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“

Von Jan LeichsenringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Leichsenring

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wenn ihr noch ein gutes Stück flussabwärts fahrt, kommt ihr nach Wettin.“ Olivia Vieweg verlegt die Handlung von Mark Twains Abenteuerklassiker in ihrer Graphic Novel „Huck Finn“ erfolgreich nach Sachsen-Anhalt im Jahr 2013. Das eröffnet einen neuen Blick auf die Romanvorlage, funktioniert aber auch tadellos als eigenständiges Werk. Manche Comicadaptionen von Prosawerken leiden unter dem Drang ihrer Autoren, möglichst viel aus der Vorlage direkt zu übernehmen. Dadurch können sie zu bloßen bebilderten Textauszügen geraten und die besonderen Möglichkeiten ihres Mediums verspielen. „Huck Finn“ hingegen könnte ebenso gut schon immer ein Comic und nichts anderes gewesen sein. Vieweg erreicht das, indem sie markante Elemente von Twains Plot aufgreift, verbindet und frei in die Gegenwart überträgt: Eine Witwe, einen vorgetäuschten Mord, eine Floßfahrt, die Insel, die Blutfehde, und die schlussendliche Problemlösung.

Während der Sklave Jim in Twains Romanvorlage mit dem Titelhelden unterwegs ist, flieht hier die asiatische Prostituierte Jin aus dem „Love Center Mississippi“ in Halle vor ihrem Zuhälter und trifft auf Huck Finn – eine offenkundig in mehrfacher Hinsicht treffende Analogiebildung. Gemeinsam fahren sie auf dem Floß die Saale hinab und wollen schließlich auf der Elbe Hamburg erreichen, wo Jins Schwester legal lebt, mit Familie und bürgerlicher Arbeit. Das Floß kollidiert jedoch mit einem Saaledampfer, und die beiden Schiffbrüchigen gehen bei Wettin an Land, wo sie bei einer Yoga-und-Räucherstäbchen-Familie unterkommen. Dort ist aber durchaus nicht alles in Butter, wie sich noch herausstellen wird. Die Semantik der Sujets bleibt damit erhalten. Das Streben nach Glück, die abenteuerliche Reise der ungleichen Außenseiter sowie die Abstumpfung und Gewalt in Teilen ihrer Umgebung bleiben wesentliche Züge der Erzählung. Eine ihrer Stärken besteht deshalb darin, die Gegenwärtigkeit dieses Stoffs hervorzuheben, ohne den Plot zu entschärfen oder für eine jüngere Zielgruppe zurecht zu stutzen.

Gerade im Comic müssen die Figuren schnell charakterisiert werden, und das gelingt der Autorin und Zeichnerin. Als etwa Finn von seinem Vater in einer Gartenlaube eingesperrt wird, könnte er leicht entkommen, indem er nur das Fenster einschlagen müsste. Das aber wagt er zunächst nicht, weil die Laube seiner verstorbenen Mutter gehörte. Und wenngleich die Handlung ausgesprochen flott erzählt wird, nimmt sich Vieweg Zeit und Platz für den auffliegenden Graureiher im Abendrot, für die Eule, die ganzseitig mit der erbeuteten Maus im Baum sitzt, und weitere mehr oder weniger dräuende Motive. Ihre Saale durchfließt eine zunehmend unheimliche Heimat, und das Aufbauen von Atmosphäre erinnert in solchen Momenten an Arbeiten Jiro Taniguchis (unter anderem „Der spazierende Mann“). Überhaupt funktioniert das für die neunte Kunst wesentliche Zusammenspiel von Wort und Bild. Das Unwirkliche der Geschichte wird visualisiert, wenn etwa die beiden Geflohenen auf ihrem Floß stromabwärts gleiten und dabei von allerlei Tieren beobachtet werden, ähnlich also der entsprechenden Szene in Charles Laughtons Film „Die Nacht des Jägers“. Daneben wird auch das parodistische Potential dieser literarischen Umquartierung genutzt. Mit dem Osten, in dem noch Blutfehden wüten, werden auch gewisse Vorstellungen über die nicht mehr so neuen Bundesländer auf die Schippe genommen.

Bis auf den vollfarbigen Einband sind die Zeichnungen durchgehend in verhaltenen Rot- und Brauntönen koloriert, wobei der eigenständige Zeichenstil die manchmal an Flüchtigkeit grenzende Rasanz und die Strukturgewitter der Mangas mit der sicheren und wohlgeordneten ligne claire frankobelgischer Comics vereint. Wenngleich vereinzelt nicht jeder Strich sitzt, ist dieser Band auch grafisch gelungen und zeigt abermals, dass Olivia Vieweg in der Tat „eine der vielversprechendsten jungen Comic-Künstlerinnen“ ist, wie der Klappentext wirbt. „Huck Finn“ ist kein Kindercomic, sondern bleibt ein Jugendbuch, das wie seine Vorlage auch zum Wiederlesen für Erwachsene jeden Alters geeignet ist. „So sieht’s aus“, wie der Hallenser Protagonist sagen würde.

Titelbild

Olivia Vieweg: Huck Finn. Nach dem Roman >Huckleberry Finn< von Mark Twain.
Graphic Novel.
Herausgegeben von Andreas Platthaus.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
142 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783518464298

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