Privatsache als Politikum

Dagmar Herzog beleuchtet Wesen und Kontinuität nationalsozialistischer „Sexualpolitik“

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die US-amerikanische Historikerin Dagmar Herzog, derzeit Professorin für Geschichte an der City University (New York), betrachtet in der Broschüre „Paradoxien der sexuellen Liberalisierung“ ausgehend von den Arbeiten der Sexualrechtsaktivisten Magnus Hirschfeld und Johanna Elberkirchen Widersprüche und Ambivalenzen des kulturellen, rechtlichen und politischen Umgangs mit Sexualität in Deutschland – von der Weimarer Republik bis in die Nachkriegszeit. Insbesondere schaut sie auf die Diktatur des Nationalsozialismus, der einerseits mit der Weimarer „Judenrepublik“ insbesondere mit deren angeblicher Dekadenz („schwüle Erotik“) abrechnete und den Juden eine „ekelhafte Lüsternheit“ unterstellte, andererseits das Thema Sexualität aber auch liberal behandelte, soweit es um die „Richtigen“ ging: „Die Nazis haben, paradox aber geschickt, die weit verbreitete Sehnsucht nach sexueller Beglückung umgedeutet in das Privileg der rassisch und ideologisch genehmen nichtbehinderten Heterosexuellen.“

Die christlichen Kirchen, die sich einerseits mit ihrer Sexualmoral gegen die nationalsozialistische Losung wandten, dem Arier sei auch im Bett alles erlaubt, und die sich deshalb von den Nazis den Vorwurf der „Prüderie“ einfingen, hätten sich andererseits, so die Autorin, mit eben jenen Nazis im Hass auf Juden, Homosexuelle und Behinderte verbündet. Vor allem letzteres macht stutzig, waren doch unter den wenigen Menschen, die offen Widerstand gegen die „Aktion T 4“ leisteten (also gegen das im Oktober 1939 begonnene Euthanasieprogramm der Nazis, das die Tötung und Zwangssterilisierung zehntausender kranker und behinderter Menschen umfasste, benannt nach dem Sitz der Zentrale für die Leitung der „Aktion“ in der Berliner Tiergartenstraße 4), auffallend viele Christen, auch hohe kirchliche Würdenträger. Dagmar Herzog tut so, als habe es Paul Gerhard Braune, Theophil Wurm, Friedrich von Bodelschwingh d. J., Joannes Baptista Sproll, Augustinus Philipp Baumann, Antonius Hilfrich, Bernhard Lichtenberg, Conrad Gröber, Max Kottmann, Clemens August Graf von Galen und Konrad Graf von Preysing nie gegeben. Das ist schade – zumal in einem Kontext, der für sich Wissenschaftlichkeit in Anspruch nimmt.

Kirchliche Positionen werden bei Dagmar Herzog grundsätzlich nur unter strategischen Gesichtspunkten behandelt, eine theologische Annäherung oder eine konfessionelle Rekonstruktion der christlichen Haltung findet nicht statt. So habe die Kirche ihre konservativen Vorstellungen nach Kriegsende in die junge Bundesrepublik eingebracht – zumindest, was Homosexuelle und Behinderte betrifft, die auch in der „Nachkriegskultur“ einiger „Diffamierung“ ausgesetzt gewesen sein sollen. Für die Tradierung der NS-„Homophobie“ (bei der weniger die Furcht als vielmehr Hass und Gewalt handlungsleitend waren) seien neben den Kirchen auch Soziologen wie Helmut Schelsky verantwortlich, der in seiner „Soziologie der Sexualität“ (1955) das Thema „Gewalt gegen Homosexuelle im Nationalsozialismus“ unterschlagen habe, während „das Argument für eine weiterbestehende Kriminalisierung der Homosexualität einen extra-moralischen Glanz bekam durch gezieltes Anspielen auf das alte Klischee, dass die Nazis die Schwulen waren“. In der Tat, so die Autorin, sei der Anteil Homosexueller in der SA überproportional hoch gewesen, was jedoch kein Grund dafür sein könne, Menschen mit homosexueller Neigung zu kriminalisieren. Das ist sicher ohne Abstriche richtig, so wie es allerdings vieles andere in der angebotenen Lückenhaftigkeit der Darstellung nicht ist.

Der gesamte Text ist geprägt von einem Einerseits-Andererseits, das wohl weniger der Unfähigkeit, eindeutige Thesen zu formulieren als vielmehr der Sache geschuldet ist: Sexualität ist komplex, der Umgang im Rahmen einer „Sexualpolitik“ ebenso. Über die offenkundigen Mängel, insbesondere (ideen-)historische Auslassungen, kann dennoch nicht hinweggesehen werden. Was bleibt, ist der Eindruck, es bei Dagmar Herzogs „Paradoxien der sexuellen Liberalisierung“ mit einer gut gemeinten, aber dennoch (oder gerade deshalb) sehr tendenziösen Schrift fragwürdigen wissenschaftlichen Gehalts zu tun zu haben.

Titelbild

Dagmar Herzog: Paradoxien der sexuellen Liberalisierung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
48 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312623

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