Die Kolonialisierung des Eises

Mike Frömel legt eine umfassende Dissertation über Reiseberichte aus Polarregionen vor

Von Sascha Ulrich-MichenfelderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Ulrich-Michenfelder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter dem Titel „Offene Räume und gefährliche Räume im Eis“ untersucht Mike Frömel in seiner Dissertation Reisebeschreibungen über die Polarregionen aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert. Hierbei, so stellt der Autor fest, wird „ein kultureller Grenzraum zwischen einem europäischen Wahrnehmungshorizont und einer Wildnis im Eis“ thematisiert, der bisher unzureichend in der kulturwissenschaftlichen Forschung aufgearbeitet wurde. Zugleich entwirft diese in der Einleitung formulierte Aussage eine Dichotomie zwischen der bekannten europäischen Welt und den fremden Polarregionen, deren Erkundung im ausgehenden 18. Jahrhundert wiederum aus ökonomischen und politisch-strategischen Gründen besonderes Interesse in Europa erzeugte.

Die vorliegende Arbeit ist klar gegliedert, logisch strukturiert und besticht nicht zuletzt durch sprachliche Raffinesse. In der Einleitung werden die Ziele der Studie sowie der aktuelle Forschungsstand dargestellt. Ferner werden wichtige Begriffe, wie jener des (geografischen) Nordens, definiert und erste Prämissen angestellt. Im ersten theoretischen Teil der Arbeit erfolgt eine Diskursanalyse. Untersucht wird hier, wie der kulturelle Grenzraum zwischen Europa und den Polarregionen in Berichten und Beiträgen literarisch inszeniert wird. Entlang ökonomischer und politischer Interessen der Seefahrer-Nationen wird die Thematik nachvollziehbar in das Diskursfeld eingeordnet. Im Folgenden werden verschiedene Reiseformen des ausgehenden 18. Jahrhunderts erörtert. Die Reiseberichte des niederländischen Seefahrers Wilhelm Barents aus den Jahren 1595 bis 1597 werden als Prätexte identifiziert. Frömel gelingt es in diesem Kapitel seiner Arbeit, literarische Topoi ausfindig zu machen, die sich im Korpus der zu analysierenden Texte wiederfinden. In diesem Zusammenhang wird beispielsweise die Darstellung des Meeres und des Eises untersucht und die These aufgestellt, dass die Polarregionen stets als fremde Wirklichkeiten in den zahlreichen Reiseberichten der Zeit Erwähnung finden. Als grundlegendes Textkorpus der Arbeit seien an dieser Stelle „Die Reise um die Welt mit Capitän Cook“ von Heinrich Zimmermann, die „Historie von Grönland“ von David Cranz sowie Reiseberichte von Johann Reinhold Forster und seinem Sohn Georg Forster erwähnt. Darüber hinaus werden in der Dissertation weitere Berichte von Otto von Kotzebue, Benjamin Kohlmeister und Georg Kmoch analysiert. Die Auswahl der Reiseberichte ist also umfangreich und wird in den einleitenden Kapiteln ausführlich begründet.

Mike Frömel zeigt im folgenden Kapitel den jeweiligen Hintergrund der Reisebeschreibungen und ihrer Verfasser auf und leitet hieraus folgerichtig die Gründe für die Reise und den im Anschluss entstandenen Bericht ab. Einen interessanten Anreiz vermitteln überdies die übersetzten Reiseprotokolle, die Frömel als wichtigen Indikator einerseits für das Interesse an den Polarregionen und andererseits für das Interesse an Texten darüber sieht. Der Reisebericht – über dessen Gattung leider nur wenig in der Einleitung erwähnt wird – fungiert als literarischer Kulturvermittler und erreichte im ausgehenden 18. Jahrhundert eine breite Leserschaft. Ebenfalls interessant für den Leser erscheint die Analyse der intertextuellen Bezüge zwischen den Reisetexten. Die vom Autoren gewählten Ausschnitte werden präzise analysiert und beleuchten nicht nur das Vorwissen der Verfasser einzelner Reiseberichte, sondern auch das Vorwissen der damaligen Leserschaft.

Die umfassende Untersuchung wird im Folgenden in Bezug zum Begriff des Kolonialismus gesetzt. Dazu beinhaltet der letzte Teil der Dissertation eine Untersuchung, inwieweit die Reisenden und ihre Veröffentlichungen einen eurozentristischen Kolonialismus vermitteln. Das Schlusswort vermag die verschiedenen Kapitel zusammenzuführen und herauszustellen, dass die Reiseberichte den europäischen Kolonialismus thematisieren und im Kontext eines gesamteuropäischen, öffentlichen Diskurses stehen. Das abschließende Literaturverzeichnis listet viele einschlägige Werke, aber auch dem Leser unbekannte Zeitungs- und Zeitschriftenberichte über die Reisen in die Polarregionen auf.

Vorzug der interdisziplinär ausgerichteten Studie ist die klare Struktur, die es dem Leser nachhaltig erleichtert, der wissenschaftlichen Argumentation des Autors zu folgen. Positiv ist der abwechslungsreiche und zugleich ansprechende Stil hervorzuheben. Dem gegenüber lassen sich auf dieser deskriptiven Ebene allerdings zahlreiche Kritikpunkte festhalten: Auffallend sind viele Fehler in den Fußnoten, die sich mal in doppelten, mal in gänzlich fehlenden Jahreszahlen der Sekundärliteraturangaben äußern. Trennungs-, Interpunktions- und nicht zuletzt Zitierfehler finden sich auch in den ersten drei Kapiteln der Arbeit. Hier sollte in einer Neuauflage dringend nachgebessert werden. Häufig gibt es – wenn auch sprachlich variiert – vermeidbare Redundanzen.

Inhaltlich lässt sich über Kapitel zwei und drei festhalten, dass die Argumentation einseitig erscheint. Die in den vorgestellten Reiseberichten auftretende Vorstellung, es gäbe ein Entwicklungsdefizit der Polarregionen, wird unzureichend in den philosophischen Kontext der Zeit integriert. Zahlreiche Charakterisierungen der nordischen Regionen und ihrer Bewohner gehen auf die antiken Philosophen zurück, die in der Arbeit keine Erwähnung finden, obgleich die Idee eines wirtschaftlich und sozial rückständigen Nordens aufgegriffen wird. Die Unterscheidung Montesquieus zwischen Bewohnern der kalten Zone, sowie jenen der gemäßigten und der tropischen Zone wird zwar beiläufig erwähnt, jedoch nicht umfassend hinterfragt oder im Kontext der neueren Forschungsliteratur thematisiert. Aus diesem Grund wird es stellenweise schwierig, zwischen der Argumentation einzelner zitierter Autoren und derjenigen des Verfassers zu differenzieren, was wiederum dazu führt, dass koloniale Begründungs- und Denkmuster unzureichend reflektiert werden.

Letztlich bleibt nach der Lektüre der Dissertation trotzdem festzuhalten, dass es dem Autor in jedem Falle gelungen ist, eine Methodik zu entwickeln, die es ermöglicht, verschiedene Reiseberichte kriteriengeleitet zu analysieren. Die Studie zeichnet sich durch eine detaillierte Untersuchung aus, die zahlreiche neue Aspekte zum Diskursfeld der Polarregionen hervorbringt. Allerdings bleiben die theoretischen Grundlagen der Arbeit weitgehend oberflächlich; die Theorie des Kolonialismus wird nahezu peripher aufgearbeitet.

Titelbild

Mike Frömel: Offene Räume und gefährliche Reisen im Eis. Reisebeschreibungen über die Polarregionen und ein kolonialer Diskurs im 18. und frühen 19. Jahrhundert.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2012.
288 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-13: 9783865252975

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