Ein Leben nach literarischen Gesichtspunkten

In Aléa Toriks zweitem Roman kann man „Aléas Ich“ beim Entstehen zusehen, und das macht Spaß

Von Svenja FrankRSS-Newsfeed neuer Artikel von Svenja Frank

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Sechs Jahre später flogen Nicolae und Elena Ceauşescu mit dem Hubschrauber vom Dach des Zentralkomitees und starben, als ich gerade ihre Gesichter vom Fernsehen aufs Papier abmalte, im Kugelhagel des Militärtribunals, es spritzte blutrot bis auf mein Bild. Ich schreie vor Schreck auf. Ich schrie aus vollem Hals.“ Ob hier Farbe vom Pinsel tropft oder Ceauşescus Blut den Rahmen des Fernsehbildes zur Gegenwart der Erzählerin durchbricht, um sich sogleich erneut als medial Repräsentiertes auf dem Kindergemälde wiederzufinden, bleibt unklar. Genau darum geht es in „Aléas Ich“, dem zweiten Roman von Aléa Torik; um das Ineinanderfließen von Realität und Repräsentation, Erzählwelt und Romantext, Erleben und Fiktion. Aléa Torik ist mal Figur und mal Autorin des Romans, meistens jedoch beides zugleich.

Erzählt wird ein Jahr aus dem Leben Aléas, einer jungen Frau, die aus einem rumänischen Dorf stammt, in Berlin über Fiktionalität promoviert und an ihrem zweiten Roman schreibt. Zahlreiche Rückblenden ergänzen Momentaufnahmen aus der Kindheit und Jugend, die sie mit ihrem deutschen Vater, ihrer rumänischen Mutter und den Großeltern auf dem Land verlebt hat und aus dem Studium in Bukarest. Vor allem aber schildert der Roman sein eigenes Entstehen: Im Gegensatz zu den großen schriftstellerischen Initiationsgeschichten der Weltliteratur, in denen der Erzähler am Ende des Textes in der Lage ist, diesen niederzuschreiben – man denke etwa an Marcel Proust – ist in „Aléas Ich“ Erleben und Erzählen jedoch als eine Bewegung konzipiert. So führt der Text immer wieder auf die Universitätsbibliothek als zentraler Handlungsort zurück, an dem Aléa Torik nicht nur ihren Roman verfasst und somit Schreiben und Leben realiter zusammenfallen, sondern der als Gebäude für Texte auch auf einen der poetologischen Bildvergleiche des Romans verweist: Aufgrund ihrer Leerstellen werden literarische Texte als Architektur imaginiert, die gleichfalls Hohlräume entwirft. Aléa schreibt mit „Aléas Ich“ an dem Gebäude, in dem sie schreibt. Wenn Aléa also von sich behauptet, „nach literarischen Gesichtspunkten“ zu leben, so ist das ganz wörtlich zu verstehen: Imagination und Realität sind eins, sie erschafft sich selbst im Erzählen.

Diese metafiktionale Spur zieht sich durch den gesamten Text und erinnert, insbesondere wenn die Figuren den Aufstand gegen den Roman proben, an Filme wie Marc Foster’s „Stranger than Fiction“ (2006). So weiß Aléas Mitbewohnerin Olga, ein russisches Model, um ihren Status als fiktive Figur, denn sie ist laut Aléa „einfach zu schön, um wahr zu sein“ und fleht wie schon Foster’s Harold Crick ihre Autorin an, nicht sterben zu müssen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um jene Metalepsen, die in vielen postmodernen Texten die Grenze zwischen Textwelt und Erzählung durch die Überschreitung gerade zementieren; vielmehr überlagern sich beide Ebenen und verschmelzen zu einer einzigen. In dieser Simultanbewegung von erzählendem und erlebendem Ich entsteht die Welt durch Schreiben. Außerhalb von Aléas Blickfeld fällt deshalb alles einfach in Dornröschenschlaf: Ihr Vater, der sie zuhause am Bahnhof in Empfang nimmt, scheint sich seit der Verabschiedung beim letzten Heimaturlaub nicht von der Stelle bewegt zu haben. Doch die Metafiktion erhält noch eine weitere Ebene, denn nicht nur Aléa schreibt an dieser Textwelt: Ihr Verfolgungswahn, der Phantomschmerz des totalitären Überwachungsstaats, entpuppt sich als durchaus begründet, wenn sie sich selbst als Protagonistin eines Romans erkennt, an dem eine ihrer eigenen Figuren schreibt.

Trotz aller Selbstreflexivität handelt es sich bei diesem Roman jedoch keinesfalls um eine blutleere Konstruktion. Aléa Torik konzentriert sich auf das Wesentliche: Ohne ihre oder die Zeit des Lesers an detailrealistische Beschreibungen zu verschwenden, evoziert sie dennoch Bilder, die alles auf den Punkt bringen: Die Klarheit, die nur die Liebe auf den ersten Blick bringt, die Zärtlichkeit für die Großeltern, trotz und weil man in verschiedenen Welten lebt, das Glück und die Millisekunden, die ihm vorausgehen und die ihm folgen. Das könnte schnell in Kitsch kippen, tut es aber nicht. Dafür sorgen neben der permanenten Selbstironisierung als Fiktion und der schlichten Sprache vor allem das Umschlagen in absurd-komische Gedankenschrauben. Aléas Blick auf die Welt macht lapidar auf verkürzte Kausalzusammenhänge aufmerksam und transformiert so den Alltag ins Surreale: „Ich musste im Winter immer eine Mütze tragen, weil meine Mutter befürchtete, dass ich mich erkälten könne. Die Mütze half offenbar dagegen.“ Oder sie macht Kausalzusammenhänge auf, wo keine bestehen, und rückt den Text in die Nähe des magischen Realismus, etwa wenn der Vater während der Nachrichten solange am Lautstärkeregler des Radios dreht, bis Ceauşescu tot ist.

Abgesehen von diesen Geschichtssplittern aus der Zeit des totalitären Rumäniens, wird auch auf Lokalkolorit weitgehend verzichtet. Bereits in Aléa Toriks erstem Roman „Das Geräusch des Werdens“ (2012) dienten die Großstadt Berlin und das Dorf Mărginime, dessen Namen sich an eine Region in Siebenbürgen anlehnt, als dichotome Handlungsräume. In ihrer ironischen Überzeichnung, besonders im Klischee des ebenso rückständigen wie liebenswerten Osteuropas, zeigt sich: Es geht hier nicht um Berlin oder Rumänien, nicht um Migrationshintergrund, sondern um das Leben als Bewegung zwischen zwei imaginären Orten. Identität als Ergebnis einer Reihe von Zufällen, in der das tatsächliche Leben immer schon seine nicht verwirklichten Möglichkeiten und Varianten als gleichberechtigte einschließt, war auch im Debütroman Thema, etwa im Motiv der Zwillinge mit dem selben Namen. In „Aléas Ich“ bündelt sich nun die Identitätskonstruktion im fiktiven Autor-Ich. Die Gespräche, die Aléa über den Zusammenfall von Identität und ihrer Performanz führt, die Verweise auf Borges und die Ununterscheidbarkeit von Traum und Wirklichkeit sowie die etwas platt daherkommende Analogie von virtueller Existenz in sozialen Netzwerken und Ichfiktion hätte es da gar nicht gebraucht. Mit seiner charmanten, selbstironischen und humorvollen Erzählerin macht der Roman ansonsten aber so viel Spaß, dass man allzu explizit geratene Lektüreanweisungen und selbst Saussure-Exkurse über die Arbitrarität der Zeichen verzeiht.

Schon der wunderbare Name der Autorin deutet auf Identität als Folge gesteuerter Zufallsexperimente hin. Und obwohl Aléa in ihrem Roman beklagt, dass man ihr den Namen in Deutschland nicht abnimmt, hat das Erscheinen ihres ersten Romans einen mittelschweren Literaturskandal ausgelöst: Im Klappentext von „Das Geräusch des Werdens“ gab sich die Kurzbiografie der Autorin, anders als beim zweiten Roman, nicht als fiktive zu erkennen, sondern verwies auf ihren Blog, der real existiert und mitunter als authentischer rezipiert wurde. Damit geht die Autorfiktion sehr viel weiter als etwa in Felicitas Hoppe Roman „Hoppe“, der 2012 unter ihrem juristischen Namen erschien und ein fiktional-autobiografisches Autor-Ich konstruiert. In Bezug auf Toriks ersten Roman, muss man Juli Zeh zustimmen, dass das Spiel mit der fiktiven Autoridentität und Aléa Toriks Blog keinerlei Mehrwert für den Text liefert. In „Aléas Ich“ hingegen ist die paratextuelle Fortschreibung des Romans in Autorname und Kurzbiografie radikale Konsequenz des Romanprinzips. Die fiktive Autoridentität ist zentral, denn sie vollendet die Idee der Identitätskonstruktion durch Fiktion; der reale Roman wird zur deutlichsten Manifestation seiner selbst, indem Textwelt und Romantext ineinander greifen. Ob die Literatur Metapher für das Leben oder das Leben Metapher für die Literatur ist, bleibt in der Schwebe und darin liegt der Zauber des Romans.

Übrigens stößt man seit Erscheinen des Textes gelegentlich auf einen gewissen Claus Heck, Jahrgang 1966, Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft. Er tritt als Autor von „Aléas Ich“ auf und gibt Lesungen aus dem Roman. Aber wir haben ihn natürlich sofort als Schauspieler entlarvt, engagiert von Aléa Torik.

Titelbild

Aléa Torik: Aléas Ich. Roman.
Osburg Verlag, Hamburg 2013.
423 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783955100049

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